Festnahme einer westdeutschen Bürgerin
27. Mai 1964
Einzelinformation Nr. 427/64 über die Festnahme einer westdeutschen Bürgerin wegen Verdachts der Beihilfe zu einer Schleusung
Am 16.5.1964 wurde die westdeutsche Bürgerin [Vorname 1 Name 1], geboren am [Tag, Monat] 1946, wohnhaft in Lunden/Holstein, Kaufmännischer Lehrling, vorläufig festgenommen, weil sie nicht mehr im Besitz ihres westdeutschen Personalausweises und ihrer Tagesaufenthaltsgenehmigung war, auf diese Dokumente bereits eine andere weibliche Person (mittels des Ähnlichkeitsprinzips) ausgereist war und deshalb angenommen werden musste, dass unter Vortäuschung des Verlustes von Ausweisdokumenten – wie dies in der Vergangenheit bereits von mehreren Beschuldigten praktiziert wurde – eine organisierte Schleusung erfolgt war. Die [Name 1] meldete den Verlust ihrer Dokumente am 16.5.1964, gegen 20.00 Uhr, am KPP Friedrichstraße und teilte mit, dass ihre Dokumente der mit ihr gemeinsam eingereiste und befreundete [Vorname Name 2], geboren [Tag, Monat] 1938, wohnhaft in Meldorf/Holstein, zur Aufbewahrung bei sich getragen habe.
In den Vernehmungen erklärte die [Name 1], [Name 2] habe ihr vorgeschlagen, am 16.5.1964 mit ihr und seinem Freund, einem gewissen [Vorname Name 3], ebenfalls in Meldorf/Holstein wohnhaft, nach Westberlin zu fahren und ihr Berlin zu zeigen. Diese Fahrt, für die das Einverständnis der Mutter der [Name 1] vorgelegen habe, wurde mit dem Pkw [Kennzeichen] 118 des Fotohändlers [Name 4] aus Meldorf über die KPP Horst und Staaken durchgeführt. In Westberlin hätte sich [Name 3] von ihnen getrennt und die [Name 1] und der [Name 2] begaben sich auf Anregung [Name 2] über den KPP Friedrichstraße in die Hauptstadt der DDR. Unmittelbar nach der Passkontrolle habe [Name 2] sie aufgefordert, ihm ihre Dokumente zu übergeben, weil sie bei ihm sicherer aufbewahrt seien. [Name 1] sei dieser Aufforderung ohne Bedenken nachgekommen und beide begaben sich in die HO-Gaststätte Frankfurter Tor, wo [Name 2] zwei Kaffee bestellte und sie sofort bezahlt habe. Anschließend habe er sie mit der Begründung, einen Freund im demokratischen Berlin zu besuchen, unter Mitnahme ihrer Dokumente verlassen und aufgefordert, auf ihn zu warten. [Name 2] kehrte jedoch nicht zurück.
Am 19.5.1964 erschienen am KPP Horst die Eltern der [Name 1, Vorname 2] und [Vorname 3 Name 1], um sich nach dem Verbleib ihrer Tochter zu erkundigen. In einer zeugenschaftlichen Vernehmung bestätigten beide die Angaben der [Name 1], was ihre Bekanntschaft mit [Name 2] und das Zustandekommen der Reise nach Westberlin betrifft. Außerdem erklärten sie, ein Telegramm unbekannten Absenders erhalten zu haben, wonach sich die Rückkehr ihrer Tochter aus Westberlin verzögere. Der Vater der [Name 1] will ferner von dem bereits erwähnten [Name 3] die Auskunft erhalten haben, dass [Name 2] mit der [Vorname 1 Name 1] in die Hauptstadt der DDR eingereist sei und mit ihrem Pass seine Ehefrau nach Westberlin geschleust habe. Durch Vermittlung des [Name 3] habe der Vater der [Name 1] am 19.5.1964 von [Name 4] (der den Pkw zur Verfügung stellte) auch den westdeutschen Personalausweis seiner Tochter zurückerhalten.
Am 25.5.1964 meldete sich der Vater der [Name 1] bei der Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berlin zusammen mit einem Reporter der Hamburger »Morgenpost« namens [Name 5], für den er ein Gespräch mit der Staatsanwaltschaft zu arrangieren versuchte. (Dies wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt.) [Vorname 2 Name 1] selbst erklärte vor der Staatsanwaltschaft ergänzend zu seiner ersten Zeugenaussage: Er habe in Westdeutschland in Erfahrung bringen können, dass der [Name 2] in Wirklichkeit [Vorname 1 Name 6] heiße, vor ca. zehn Monaten die DDR illegal verlassen habe und einen verfälschten westdeutschen Personalausweis besäße, mit dem er auch am 16.5.1964 in die Hauptstadt der DDR eingereist sei. Zur Vorbereitung der Schleusung seiner Ehefrau mittels des Ähnlichkeitsprinzips habe er bereits seit Monaten nach einer weiblichen Person gesucht, die seiner Frau ähnelt.
Wie die bisherigen Überprüfungen ergaben, hat ein [Name 6, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1938 in Theißen, Bau-Ingenieur, wohnhaft gewesen Leipzig W 33, [Straße, Nr.], zuletzt seit dem 3.1.1963 in Niendorf, Kreis Hagenow, am 20.7.1963 illegal die DDR verlassen. Seine Ehefrau [Name 6], geborene [Geburtsname, Vorname 2], geboren am [Tag, Monat] 1940 in Dresden, wohnhaft gewesen: Dahlwitz, Kreis Zossen, hat am 16.5.1964 ihre Wohnung verlassen, um angeblich nach Brandenburg zu fahren. Ein an ihre Mutter gerichtetes Telegramm bestätigt jedoch, dass sie die DDR illegal verlassen hat und – wie die Zeitvergleiche und die ganzen Begleitumstände offensichtlich machen – jene Person war, die auf die Dokumente der [Name 1] unter Ausnutzung der Ähnlichkeit ausreiste.
Wie dieses Beispiel deutlich beweist, handelt es sich um eine von [Name 6] alias [Name 2] unter Mithilfe weiterer Mittäter organisierte großangelegte Schleusung. Offensichtlich ist in diesem Zusammenhang auch das Auftreten des Vaters der [Name 1] und des Hamburger Journalisten [Name 5] gelenkt.
Die Tatsache, dass bereits in der Vergangenheit zahlreiche ähnliche Fälle auftraten, wo westdeutsche Bürger und Ausländer angaben, ihre Dokumente seien verloren oder gestohlen worden und dass auf dieser Grundlage Schleusungen erfolgten, zeigt, dass die Schleuserzentralen diese Methode zu einem regelrechten System ausbauen. Der Gegner spekuliert dabei darauf, mit dem Einsatz Minderjähriger eine großzügige Behandlung solcher Personen durch die Organe der DDR zu erreichen. Das MfS hat diese Methode erkannt und entsprechende Sicherungsmaßnahmen eingeleitet. Im Interesse der Wirksamkeit der eingeleiteten vorbeugenden Maßnahmen und der schnellen Herbeiführung einer abschließenden Entscheidung in Bezug auf die festgenommene [Name 1] wird der Generalstaatsanwalt der DDR an den Generalstaatsanwalt in Schleswig ein Ersuchen um Auslieferung der beiden DDR-Bürger [Vorname 1] und [Vorname 2 Name 6] richten.