Flucht am Brandenburger Tor
20. Januar 1964
Einzelinformation Nr. 49/64 über eine schwere Grenzprovokation am 19. Januar 1964 gegen 16.10 Uhr im Grenzabschnitt Brandenburger Tor
Am 19.1.1964, gegen 15.50 Uhr, bemerkte der Posten am Brandenburger Tor Soldat [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1942, NVA seit 4.3.1963, wie sich eine männliche Person südlich des Hotels »Adlon« in Richtung Staatsgrenze bewegte.
Diese Beobachtungen teilte Soldat [Name 1] sofort dem Postenführer, Stabsgefreiter [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1940, NVA seit 29.11.1960, mit. (Beide Genossen sind eingesetzt in der 4. Kompanie des Grenzregimentes 33.)
Daraufhin begaben sich beide Genossen von ihrem Postenstand aus (Südflügel des Brandenburger Tores) in Richtung Ministergärten, wobei der Postenführer einen Warnschuss abgab. Da der Grenzverletzer den Warnschuss nicht beachtete und sich weiter in Richtung Staatsgrenze bewegte, bezogen die Posten im Graben in den Ministergärten Stellung (ca. 30 m südlich des Brandenburger Tores). Da sich der Grenzverletzer zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Drahtzaun zum 10-m-Kontrollstreifen befand, wurde durch den Postenführer ein Zielschuss abgegeben. Der Grenzverletzer wurde vermutlich getroffen, stürzte vom Zaun auf den 10-m-Kontrollstreifen und blieb dort liegen. In der Annahme, den Grenzverletzer getroffen zu haben, begab sich der Postenführer zum Posten 8 (dieser Posten befindet sich in den Ministergärten und wird am Tag nicht besetzt) und verständigte von dort den Führungspunkt. Dabei bemerkte er, dass der Grenzverletzer aufstand und sich im 10-m-Kontrollstreifen weiter in Richtung Staatsgrenze bewegte. Mit der Waffe im Anschlag forderte der Postenführer den Grenzverletzer auf, stehen zu bleiben oder zurückzukommen. Dieser Aufforderung kam der Grenzverletzer nicht nach und lief, indem er sehr stark hinkte, entlang der Grenzmauer in Richtung Brandenburger Tor. Da der Grenzverletzer auch weiteren Aufforderungen, zurückzukommen, nicht Folge leistete, begab sich der Postenführer zum 10-m-Kontrollstreifen und weiter bis zum ersten Zaun, während der Posten im Graben sicherte.
Zum gleichen Zeitpunkt, als der Postenführer – am ersten Zaun stehend – den Grenzverletzer nochmals aufforderte, durch den Zaun zurückzukommen, erschienen an der Grenze vier Angehörige der Westberliner Bereitschaftspolizei. Sie luden ihre Waffen durch und brachten sie auf den Postenführer in Anschlag, wobei einer der Bereitschaftspolizisten rief: »Lass den Mann rüber!« Der Grenzverletzer bat die Bereitschaftspolizisten mit den Worten »Helfen Sie mir, die Schweine wollen mich erschießen« um »Hilfeleistung«.
Die Bereitschaftspolizisten befanden sich unmittelbar an der Mauer, die an dieser Stelle 1,80 m hoch ist, wobei ihre Oberkörper von dem Gebiet der DDR aus zu sehen waren. Die Mauer – in der Mitte der Ebertstraße – befindet sich in diesem Grenzabschnitt eindeutig ca. 5 bis 8 Meter auf dem Territorium der DDR.
Angesichts der Waffenandrohung durch die Westberliner Bereitschaftspolizisten wurden von unseren Posten keine weiteren Maßnahmen zur Festnahme des Grenzverletzers eingeleitet. Dadurch gelang es ihm, die Mauer zu erreichen. Von den Westberliner Bereitschaftspolizisten wurde er über die Mauer gezogen.1
Nach dieser Grenzprovokation zogen sich die vier Westberliner Bereitschaftspolizisten zurück. Der Grenzverletzer wurde mit einem Wagen in das Westberliner Hinterland abgefahren.
Der Grenzverletzer ist nach Feststellungen des Postenführers am rechten Bein verletzt worden. Bei der Kontrolle der Spuren im 10-m-Kontrollstreifen wurden auch Blutspuren vorgefunden. Den Beobachtungen unserer Grenzposten zufolge handelt es sich bei dem Grenzverletzer um einen Jugendlichen. (Nach Angaben der Westpresse 16 Jahre alt.)2
Entsprechende Maßnahmen zur Ermittlung und Aufklärung des Grenzverletzers und weiterer Umstände der Grenzprovokation wurden eingeleitet.
Weiterhin erscheint es jedoch zweckmäßig, konkreter festzulegen, wie unsere Grenzposten bei derartigen Vorkommnissen mit Schusswaffenandrohung – unter Verletzung des Hoheitsgebietes der DDR durch Westberliner Kräfte – zu handeln haben. Desgleichen sollte geprüft werden, ob nicht in solchen Bereichen, wo unsere Grenzsicherungsanlagen von der eigentlichen Staatsgrenze entfernt zurückversetzt auf dem Gebiet der DDR verlaufen, eine Kennzeichnung des genauen Verlaufs der Grenze erfolgen sollte, um eindeutigere Verhältnisse zu schaffen.