Flucht der Cheflektorin der Akademischen Verlagsgesellschaft
24. April 1964
Einzelinformation Nr. 349/64 über die Republikflucht der Cheflektorin der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig (Verlag mit staatlicher Beteiligung), Kukulies, Edith
Dem MfS wurde bekannt, dass die Kukulies, Edith,1 geboren [Tag, Monat] 1923 in Königsberg, Cheflektorin der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, am 19.4.1964 unter Ausnutzung einer Dienstreise nach Westdeutschland republikflüchtig wurde. Die Kukulies, Edith wurde am 1.1.1964 mit der Funktion der Cheflektorin der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig betraut, nachdem sie vordem als kommissarische Leiterin dieser Verlagsgesellschaft tätig war.
Im Zuge der Profilierung im Verlagswesen wurden mit Wirkung vom 1.1.1964 die Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, und die B. G. Teubner-Verlagsgesellschaft zusammengeschlossen.2 Bei beiden Verlagsgesellschaften handelt es sich um halbstaatliche Verlage, die vorwiegend naturwissenschaftliche Hochschulliteratur herausgeben. Als Verlagsleiter dieser beiden Verlage, die aber weiterhin ihre ehemalige Bezeichnung beibehalten, wurde der Leiter der B. G. Teubner-Verlagsgesellschaft, Genosse Kratz,3 eingesetzt.
Die bis zum 31.12.1963 selbstständig arbeitende Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, war seit Jahren bemüht, besonders namhafte Autoren aus der DDR und aus Westdeutschland an den Verlag heranzuziehen. Es gelang auch – unter besonderer Mitwirkung der Kukulies –, westdeutsche Autoren zu halten, auch unter den erschwerenden Bedingungen, dass in Frankfurt/M. ein sogenannter Schwesternverlag bzw. ein gleichgelagertes Unternehmen besteht, das versuchte, Lizenzen und Nachdruckrechte von diesen Westautoren für sich in Anspruch zu nehmen. (Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt/Main mit dem Verlagsleiter Dietrich, der bis Januar 1961 als Leiter der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, tätig war und zu diesem Zeitpunkt republikflüchtig wurde.)
Kukulies, Edith wird als eine befähigte und außerordentlich qualifizierte, fachlich-wissenschaftliche Mitarbeiterin des Verlages eingeschätzt, deren Intelligenz und Verhandlungsgeschick bewirkte, dass sie als verantwortliche Verlagsmitarbeiterin zu einer größeren Reihe von Wissenschaftlern in der DDR und Westdeutschland gute und zum Teil persönliche Verbindungen im Interesse des Verlages aufnehmen konnte, die sich vorteilhaft auf die verlegerische Arbeit auswirkten.
Im Allgemeinen trat die Kukulies in ihren politischen Diskussionen nach außen hin positiv in Erscheinung. Sie neigte jedoch stark dazu, gegenwärtig in unserer Entwicklung noch vorhandene Schwächen überzubetonen und zu kritisieren. Unzufrieden äußerte sie sich mehrfach über politische Veröffentlichungen und Darlegungen, von denen sie meinte, sie würden nicht auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau basieren. In ihren politischen Ansichten war häufig ihre kleinbürgerliche Entwicklung zu erkennen. Die Kukulies trat die Dienstanreise nach Westdeutschland am 19.4.1964 gemeinsam mit dem Verlagsleiter Genossen Kratz an. Die Reise wurde auf Initiative der Kukulies und mit Genehmigung der Leitung der Hauptverwaltung Verlage beim Ministerium für Kultur durchgeführt. Diese Dienstreise sollte bis zum 26.4.1964 andauern und hatte das Ziel des Besuchs bedeutender in Westdeutschland lebender Autoren und Herausgeber der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, zur Erhaltung bzw. Festigung ihres Vertrauens und ihrer Zusammenarbeit mit dem Verlag. Dabei sollten u. a. München, Stuttgart, Heidelberg, Bad Homburg, Gießen und Marburg aufgesucht werden. Während der Besuche sollten die Autoren bzw. Herausgeber über die sich durch die Profilierung der Verlage ergebenden Veränderungen der Leitungsfunktionen in der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, informiert und der Genosse Kratz als neuer Verlagsleiter durch die Kukulies vorgestellt werden.
Bereits im Herbst 1963 wurde vom MfS eine Reise der Kukulies nach Westdeutschland zur Buchmesse in Frankfurt/M. abgelehnt, da bereits zu diesem Zeitpunkt begründete Verdachtsmomente einer Republikflucht bestanden. Die Ablehnung durch Mitarbeiter des MfS wurde im September 1963 dem Genossen Selle4 (1. Stellvertreter des HV-Leiters der Hauptverwaltung Verlage und verantwortlicher Leiter für die Frankfurter Buchmesse seitens der HV Verlage) vorgebracht. Genosse Selle entschloss sich trotz der Einwände durch das MfS zu einer Delegierung der Kukulies zur Frankfurter Buchmesse, wobei er sich auf die Zustimmung der Genossin Pflug,5 Abteilung Wissenschaften des ZK, berief und sich auch persönlich für die Rückkehr der Kukulies verbürgte. Im Herbst 1963 kehrte die Kukulies auch von ihrer Reise nach Westdeutschland zurück. Obwohl die Verdachtsmomente einer Republikflucht der Kukulies weiterhin bestanden und der Genosse Selle, wie oben dargelegt, die Probleme kannte, wurde das MfS über das Vorhaben der Kukulies, im April 1964 eine Dienstreise nach Westdeutschland zu unternehmen, von der Hauptverwaltung Verlage nicht unterrichtet.
Zur Republikflucht der Kukulies im Einzelnen: Unmittelbar nach Passieren der Staatsgrenze der DDR bei Gutenfürst/Hof eröffnete die Kukulies dem Genossen Kratz, dass sie nicht mehr in die DDR zurückkehren werde. Als Gründe gab sie an, sie sei ein Gegner der Profilierung der Verlage in der DDR und wäre mit der Vereinigung der B. G. Teubner-Verlagsgesellschaft mit der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig nicht einverstanden. Wegen ihrer Ablösung als kommissarischer Verlagsleiter der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig sei sie verärgert. Durch ihre Verbindungen in Westdeutschland und in der DDR beabsichtigte sie, gegen diese Maßnahmen vorzugehen. Sie bezeichnete ferner die DDR als »Unrechtsstaat«, in der es keine »persönlichen Freiheiten« gäbe und sprach sich gegen den antifaschistischen Schutzwall in Berlin aus. Die Arbeitsmethoden des Ministeriums für Kultur bezeichnete sie als »Zensur ohne Geist«. Sie gab dem Genossen Kratz gegenüber an, den Plan, die DDR illegal zu verlassen, habe sie bereits im Herbst 1963 gefasst. Sie beabsichtigt, bei der bevorstehenden Befragung in Gießen möglichst vor Presse, Rundfunk und Fernsehen gegen die DDR aufzutreten und ihr Wissen über das Verlagswesen der DDR preiszugeben.
Während der Gespräche, in denen Genosse Kratz die Kukulies von ihrem Vorhaben, republikflüchtig zu werden, abzuhalten versuchte, wollte sie den Genossen Kratz zum Verrat an der DDR verleiten. Auf seiner Rückreise wurde Genosse Kratz auch von Offizieren des bayerischen Grenzschutzes aufgefordert, ebenfalls in Westdeutschland zu bleiben. Genosse Kratz traf am 20.4.1964 wieder in Leipzig ein. Gegenüber dem Genossen Kratz äußerte die Kukulies im Zusammenhang mit ihren Republikfluchtabsichten, mithilfe des im Januar 1961 republikflüchtig gewordenen bereits genannten Dietrich, jetzt Leiter der Akademischen Verlagsgesellschaft Frankfurt/M., eine neue Existenz in Westdeutschland aufbauen zu wollen. Die Kukulies äußerte ferner die Absicht, namhafte Westautoren, die bisher für die Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, tätig waren, für den Verlag Frankfurt/Main zu übernehmen. Die Kukulies wies auf eine in den Händen Dietrichs bzw. des Besitzers der Akademischen Verlagsgesellschaft Frankfurt/Main Gottwald befindliche juristische Verfügung westdeutscher Gerichte hin, wonach der Verlagsgesellschaft Geest & Portig in Leipzig angeblich das Recht abgesprochen werden soll, während der Buchmesse in Frankfurt/M. Bücher auszustellen bzw. zu verkaufen. Nach den Angaben der Kukulies habe Dietrich bisher von dieser Verfügung aufgrund ihres persönlichen Einflusses keinen Gebrauch gemacht, um ihr keine Schwierigkeiten zu bereiten. Sie werde aber jetzt veranlassen, dass diese Verfügung in Kraft trete und den Leipziger Verlag »kaputtmache«. (Sollten diese Angaben zutreffen, könnte mit einer Anwendung dieses Beschlusses westdeutscher Gerichte gerechnet werden.)
Im Laufe des Gesprächs fiel von der Kukulies ferner die Bemerkung, es wären nunmehr drei ehemalige Leiter der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, in Frankfurt ansässig, wobei sie ihre Person mit einbezog. Die zwei anderen Leiter seien Dietrich und der ehemalige Leiter des Leipziger Verlages Ernst Nitzsche. Nitzsche ist zzt. als Vertreter der Kammer für Außenhandel der DDR und als deren Vertreter für Buchimport-Export in Frankfurt/M. eingesetzt.
Das Auftreten der K. in der Akademischen Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, seit der Zusammenlegung mit der B. G. Teubner-Verlagsgesellschaft lässt nach dem jetzt erfolgten Verrat die Schlussfolgerung zu, dass die Kukulies bereits seit Monaten ihre Republikflucht vorbereitete. Gegenüber Mitarbeitern des Leipziger Verlages brachte sie mehrfach ihre Bedenken gegen die Zusammenlegung der Verlage zum Ausdruck, wobei sie unter den verschiedensten Varianten ihre Mitarbeiter von der Richtigkeit ihrer Ansichten zu beeinflussen versuchte. Ihr Verhalten gegenüber den Mitarbeitern des Verlages wurde von diesen mehrfach in Gesprächen untereinander gerügt. Einige Mitarbeiter äußerten, kündigen zu wollen, falls sich im Auftreten der Kukulies gegenüber ihren Kollegen nichts ändere. Tatsächlich haben seit Januar/Februar 1964 bis heute sechs fachlich qualifizierte Mitarbeiter der Akademischen Verlagsgesellschaft gekündigt: der Lektor für Chemie, die Verlagssekretärin, der Leiter der Zeitschriftenherstellung, eine Redaktionsassistentin und erfahrene Lagerverwalter. Wenn auch bis auf den Lektor für Chemie und die Redaktionsassistentin alle Stellen wieder besetzt werden konnten, so ist dieser Ausfall nicht überwunden und bereitet dem Verlag noch heute Schwierigkeiten in der Einhaltung der Termine.
Von den zuständigen staatlichen Organen müssten u. E. umgehend Maßnahmen eingeleitet werden, um die durch den Verrat der Kukulies möglicherweise eintretenden Auswirkungen auf die Arbeit der Verlagsgesellschaft abzufangen und die weitere Mitarbeit der wichtigsten Autoren zu sichern. Gleichzeitig sollte geprüft werden, inwieweit entsprechende Vorbereitungen getroffen werden sollten, um bei dem beabsichtigten Auftreten der Kukulies vor Presse, Rundfunk und Fernsehen gegen die DDR rechtzeitig überzeugende Gegenargumente publizieren zu können.
Ferner wäre es zweckmäßig, den genannten Vertreter der Kammer für Außenhandel in Frankfurt/M., Ernst Nitzsche, in die DDR zurückzubeordern, um eventuellen Provokationen oder Abwerbungsversuchen seitens der Kukulies oder anderer Stellen vorzubeugen.