Flucht über den Teltow-Kanal
21. April 1964
Einzelinformation Nr. 337/64 über einen schweren Grenzdurchbruch im Bereich der 2. Grenzbrigade GR 46, 2. Kompanie (Teltow) am 20. April 1964
Am 20.4.1964, gegen 20.30 Uhr, erfolgte vom Gelände des VEB Betonwerk Teltow, [Bezirk] Potsdam, Jahnstraße, aus ein schwerer Grenzdurchbruch mittels Lkw nach Westberlin.
Die Kraftfahrer des VEB Kraftverkehr Brandenburg [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1935 in Brandenburg, wohnhaft Brandenburg, [Straße, Nr.], verheiratet, drei Kinder, bis 31.3.19641 NVA/Grenze, und [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1938 in Süchteln/Kempen, wohnhaft Brandenburg, [Straße, Nr.], verheiratet, drei Kinder, fuhren am 20.4.1964 auftragsgemäß Baustoffe für das Landesbaukombinat des VEB Montagebau Potsdam.
Gegen 19.35 Uhr trafen sie mit dem Lkw Škoda, polizeiliches Kennzeichen DS [Nr.], im VEB Betonwerk Teltow, [Bezirk] Potsdam, ein, wo das Fahrzeug mit 6,4 t Betonfertigteilen beladen wurde. Nach Übernahme der Ladung fuhren beide mit dem Lkw vor das Meisterbüro und begaben sich in den Waschraum. Anschließend erkundigte sich einer der Fahrer nach der Schlosserei, da er angeblich eine Halterung für die Sitzbank des Lkw reparieren lassen wollte. Nach Erhalt der Auskunft begab er sich auch in die Schlosserei, verließ diese aber sofort wieder und benutzte einen anderen Rückweg, der ihn unmittelbar an den Grenzsicherungsanlagen vorbeiführte. Auf diesem Weg konnte er zwangsläufig beobachten, dass die Posten den Beobachtungsturm verlassen hatten und mit Arbeiten an den Signalgeräten beschäftigt waren. Als der Fahrer zurückgekehrt war, bestiegen beide das Fahrzeug und fuhren mit stark überhöhter Geschwindigkeit in gerader Richtung auf die Grenzsicherungsanlagen und den Teltow-Kanal zu. Der Lkw durchfuhr zunächst den Werkzaun (Maschendraht), der sich schon im Grenzgebiet befindet, anschließend die an der Böschungskante stehende dreifache Pioniersperre, rollte die Uferböschung hinunter und blieb ca. 1 m vor dem Teltow-Kanal auf dem Gebiet der DDR stehen. Das Durchfahren der Sperren wurde durch das Fehlen eines Kfz-Fanggrabens begünstigt. (Die Staatsgrenze verläuft in diesem Abschnitt in der Mitte des Teltow-Kanals.)
Beide Fahrzeuginsassen verließen den Lkw und durchschwammen den Teltow-Kanal, wo sie am Westberliner Ufer durch Westpolizisten an Land gezogen und abtransportiert wurden. (Wie von den Grenzposten beobachtet wurde, befanden sich zum Zeitpunkt des Grenzdurchbruches auf dem gegenüberliegenden Ufer zwei Funkstreifenwagen der Westberliner Polizei sowie mehrere Zivilpersonen.)2
Zum Zeitpunkt des Grenzdurchbruches hatte das mit der Sicherung des Abschnittes beauftragte Postenpaar den in unmittelbarer Nähe des Grenzdurchbruchsortes gelegenen Postenturm verlassen und war ca. 80 m vom Durchbruchsort entfernt mit dem Aufbau von Signalgeräten beschäftigt. Die Posten wurden erst auf die Grenzverletzer aufmerksam, als diese bereits die Grenzsicherungsanlagen durchbrochen hatten und sich kurz vor dem Westberliner Ufer befanden. Vorher war den Posten die Sicht durch ein unmittelbar im Grenzgebiet stehendes Trafo-Häuschen sowie durch die vier bis fünf Meter hohe Böschung genommen. Die Posten begaben sich sofort zur Durchbruchstelle, eine Anwendung der Schusswaffe war aber nicht mehr möglich, weil die Grenzverletzer bereits Westberliner Gebiet erreicht hatten.
Die bisherigen Untersuchungsergebnisse lassen darauf schließen, dass der Grenzdurchbruch sorgfältig vorbereitet worden war. Beide Fahrer haben in den vergangenen Jahren häufig Material im VEB Betonwerk übernommen und konnten sich dabei intensiv mit den Örtlichkeiten vertraut machen. Die Übernahme der Ladung am 20.4.1964 erfolgte erst bei Einbruch der Dunkelheit, zu einem Zeitpunkt, als der Ladebetrieb fast völlig eingestellt war. Auch die Beladung von zwei später eingetroffenen Fahrzeugen wurde durch die Vortäuschung der angeblich beabsichtigten Reparatur am Lkw überbrückt, sodass die anderen Fahrzeuge das Werk bereits wieder verlassen hatten und die Grenzverletzer ihren Plan ungehindert durchführen konnten.
Bei den Grenzverletzern handelt es sich um Personen, die wiederholt negativ gegen unseren Staat aufgetreten sind. [Name 2] war für den 21.4.1964 zum WKK bestellt, wo mit ihm ein Gespräch über seine Zurückstellung vom aktiven Wehrdienst geführt werden sollte.
Beide hatten vor ca. einer Woche einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Kind verletzt worden war. Wegen des Verkehrsdelikts sollten sie sich in der nächsten Woche vor dem Kreisgericht Brandenburg verantworten.
Der Lkw wurde durch die NVA geborgen. Entsprechende Maßnahmen zur Verstärkung der Grenzsicherungsanlagen in diesem Abschnitt wurden eingeleitet.
Durch den Generalstaatsanwalt der DDR soll unter Bezugnahme auf das Verkehrsdelikt an die Westberliner Staatsanwaltschaft ein Antrag auf Auslieferung der beiden genannten Personen gestellt werden.