Flucht von 15 Personen in einem Kühllaster
10. September 1964
Einzelinformation Nr. 754/64 über einen Grenzdurchbruch von 15 Personen mit dem Lkw Mercedes IH 56–41 am KPP Heinrich-Heine-Straße am 9. September 1964
Am 10.9.1964, nach 0.00 Uhr, erschien der Beifahrer des Kühlzuges Lkw IH 56–41 [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1936 in Berlin, wohnhaft Berlin-Lichtenberg, [Straße, Nr.], am KPP Heinrich-Heine-Straße in der Absicht, mit dem Lkw IH 56–41 auftragsgemäß einen Fleischtransport nach Westberlin zu begleiten. Dabei wurde festgestellt, dass dieser Kühlzug ohne Beifahrer bereits am 9.9.1964, gegen 23.30 Uhr, am Grenzzollamt Heinrich-Heine-Straße zollmäßig abgefertigt wurde und den KPP passiert hatte.
Daraufhin begab sich der Beifahrer [Name 1] mit seinen gültigen Papieren über den KPP Heinrich-Heine-Straße, um vereinbarungsgemäß den Kühlzug am Reiseziel Am Tempelhofer Berg, Bergmannstraße,1 Fleischgroßmarkt, abladen zu helfen. Nach kurzer Zeit kehrte [Name 1] zum Grenzzollamt Heinrich-Heine-Straße zurück und berichtete, dass der Fahrer des Kühlzuges unter Ausnutzung des planmäßigen Fleischtransportes nach WB mit seiner gesamten Familie nach Westberlin republikflüchtig geworden sei.
Bei dem Fahrer handelt es sich um [Name 2, Vorname 1], geb. [Tag, Monat] 1932 in Orhlburg2/Ostpreußen, Kraftfahrer beim Güterkraftverkehr Berlin-Lichtenberg, wohnhaft Berlin-Karlshorst, [Straße, Nr.], Mitglied der SED seit 1960.
[Name 2] trat in der Vergangenheit in politischer Hinsicht positiv in Erscheinung.
Mit ihm verließen seine Ehefrau [Name 2, Vorname 2], geboren am [Tag, Monat] 1933 sowie die acht Kinder des Ehepaares im Alter von einem bis neun Jahren illegal die DDR. Außerdem schleuste [Name 2] mit dem gleichen Lkw seinen Schwager [Name 3, Vorname 1], geboren [Tag, Monat] 1933 in Grüneberg, Beifahrer beim Güterkraftverkehr Berlin-Lichtenberg, tätig für VEB Berliner Kindl/Weißensee, wohnhaft Berlin-Karlshorst, [Straße, Nr.], Kandidat der SED (ebenfalls in der Vergangenheit in politischer Hinsicht positiv in Erscheinung getreten), und dessen Ehefrau [Name 3, Vorname 2], geboren [Tag, Monat] 1933, mit drei Kindern im Alter von 8 bis 11 Jahren mit nach Westberlin.
Zu bemerken ist, dass die Fahrer und Beifahrer dieser Fleischtransporte nach Westberlin durch die Kaderabteilung ihres Betriebes VEB Güterkraftverkehr Lichtenberg nach Gesichtspunkten ihres positiven politischen Auftretens und ihrer Mitgliedschaft zur SED ausgewählt werden. Ferner spielte im Falle [Name 2] die große Anzahl der Kinder eine Rolle, da angenommen werden musste, dass Kraftfahrer mit einer großen Familie weniger die Möglichkeit eines illegalen Verlassens der DDR in Erwägung ziehen würden.
Die Untersuchungen zum Sachverhalt haben bisher Folgendes ergeben: Das Fahrzeug wurde am 9.9.1964 in Teterow, [Bezirk] Neubrandenburg, mit Fleisch (Schweinehälften) für Westberlin beladen. Danach erfolgte durch das Binnenzollamt Neubrandenburg ordnungsgemäß die binnenzollamtliche Abfertigung und es wurde die Zollplombe angelegt.
Der Fahrzeugführer [Name 2] hatte sich für den 10.9.1964, 0.00 Uhr, mit dem Beifahrer [Name 1] verabredet, um gemeinsam den Fleischtransport nach Westberlin vorzunehmen. Nachdem [Name 1] bis 0.45 Uhr vergebens auf den Lkw gewartet hatte, begab er sich zum KPP Heinrich-Heine-Straße – dem ständigen Passierpunkt des Fahrzeuges – und erhielt dort die Auskunft, dass der Transport bereits passiert hatte. Der Kraftfahrer [Name 2] muss den Zeitpunkt des Transports wissentlich vorverlegt haben, um – ohne [Name 1] von seinen Absichten Mitteilung geben zu müssen – den Grenzdurchbruch mit seiner Familie ausführen zu können.
Nach einer Kontrolle des Schleuserfahrzeuges, das inzwischen aus Westberlin zurückgeholt wurde, konnte festgestellt werden, dass die Zuladung der 14 Personen – die offensichtlich unter Ausnutzung der Dunkelheit auf der Fahrt von Neubrandenburg nach Berlin geschehen sein muss – mittels Verkürzung einer Niete am Zollverschluss erfolgte, wodurch ohne Beschädigung der Verplombung eine Öffnung der Ladeklappe auf einen Spalt möglich wird. (Diese Öffnung des Zollverschlusses kann von den Zollorganen bei einer einfachen Kontrolle nicht bemerkt werden. Lediglich das Beklopfen des Verschlusses mit einem Hammer würde Aufschluss darüber geben, ob eine Beschädigung vorliegt. Diese Praxis wird von den Zollorganen der KPP bisher aber nicht angewandt. Das Erkennen dieser Methode der unbemerkten Öffnung der Verplombung ist nur durch lange und intensive Beobachtung der Verplombung und der Kontrolle der Plomben an den KPP möglich.)
Die Unterbringung der 14 Personen muss auf der Ladefläche des Fahrzeuges hinter oder zwischen den zu transportierenden Schweinehälften – die in Reihen an entsprechenden Haken hängend gestapelt waren – erfolgt sein. Nach Auffassung des Beifahrers [Name 1] muss die Beladung des Kühlwagens durch [Name 2] bereits so erfolgt sein, dass durch entsprechende Stapelung unmittelbar hinter dem Fahrersitz ein Gang entstand, in dem ca. 14 Personen untergebracht werden konnten. (Nach bisher nicht bestätigten Ermittlungen sollen den Kindern der zwei Ehepaare Schlaftabletten eingegeben worden sein.)
Am KPP Heinrich-Heine-Straße erfolgte die Passkontrolle des Fahrzeuges IH 56–41, wobei sich der allein im Führerhaus befindliche Fahrzeugführer [Name 2] mit dem gültigen B-Schein nach Westberlin ordnungsgemäß auswies, ohne dass verdächtige Wahrnehmungen getroffen werden konnten.
Die Zollkontrolle führte der Genosse Zolloberassistent Kontrolleur [Name 4, Vorname], (seit 1.6.1957 Angehöriger des Zolls und seit dem 13.8.1961 am KPP Heinrich-Heine-Straße eingesetzt) durch. Nach seinen eigenen Angaben habe er vom Fahrer [Name 2] die Frachtbriefe erhalten und ordnungsgemäß nachgesehen. Eine Beschädigung der Zollplombe habe er bei der Überprüfung nicht feststellen können. Nach Überprüfung der Zollplombe und Öffnung der Ladetür habe er festgestellt, dass die Schlachtschweine sehr tief herunterhingen und auf seine diesbezügliche Frage an [Name 2] von ihm die Auskunft erhalten, dass er sehr große Tiere geladen hätte. Mit der Taschenlampe wurde danach vom Genossen [Name 4] unter den tiefhängenden Schweinehälften die Ladefläche abgeleuchtet, wobei er keine Feststellungen habe treffen können. Außer dem Ableuchten der Ladefläche, die von ihm nicht betreten wurde, erfolgte keine weitere Kontrolle des Kühlraumes. Ordnungsgemäß sei danach noch die Außenkontrolle des Fahrzeuges durchgeführt worden, ohne verdächtige Feststellungen treffen zu können.
Trotz bestehender Weisung, die Ausreiserampe mit zwei Genossen des Zolls zu besetzen, war jedoch zum Zeitpunkt des Durchbruchs die Rampe nur mit diesem einen Angehörigen des Zolls besetzt. Dadurch ist es auch nicht möglich, den Kontrollvorgang nachträglich zuverlässig zu überprüfen.
Bei einer Befragung des Beifahrers [Name 1], ob der Personentransport im Lkw nicht ein Risiko bedeute, erklärte [Name 1], den Fahrern sei bekannt, dass vom Zoll zwar intensive Außenkontrollen durchgeführt würden, die Ladefläche aber jeweils nur mit Taschenlampen ausgeleuchtet werde, wobei in der Regel die Kontrolle der Ladefläche nur kurze Zeit in Anspruch nehme.
Zur Kontrollmöglichkeit dieser Kühltransporte an den KPP ist insgesamt einzuschätzen, dass bei der starken Beladung dieser Fahrzeuge und bei der jetzigen Praxis – intensives Ableuchten der Ladeflächen – keine restlose Gewähr für die Aufklärung von Personenschleusungen gegeben ist. Da ein nochmaliges Umladen der Fracht, was eine intensive Kontrolle gewährleisten würde, nicht durchführbar ist (ständig Fleischpacker am KPP, hygienische Voraussetzungen, Vorhandensein eines leeren Kühltransportfahrzeuges usw.), werden nach diesem Vorfall mit den VEB Güterkraftverkehr Lichtenberg – der die Fleischtransporte ständig nach Westberlin durchführt – Verhandlungen aufgenommen, um eine solche Form der Beladung zu erreichen, die eine ausreichende Kontrolle direkt im Laderaum zulässt, unter Berücksichtigung der hygienischen Erfordernisse. Erst eine mögliche Kontrolle im Laderaum des Kühlfahrzeuges würde weitere derartige Zwischenfälle ausschließen.
Zur vermutlichen Ursache des illegalen Verlassens der DDR durch [Name 2] und [Name 3] wurde bisher Folgendes ermittelt: Über [Name 2] wurde bekannt, dass er während der Umsiedlung aus Ostpreußen 1945 seine Eltern verlor. Vor Kurzem erfuhr er von dem Verbleib seiner Eltern und Geschwister, die ihren ständigen Wohnsitz in Westdeutschland bei Essen/Bochum haben. Unmittelbar danach wurde [Name 2] von seinen Eltern und auch von seinen Geschwistern mit gültigen Aufenthaltsgenehmigungen besucht. Offensichtlich ist die Republikflucht des [Name 2] mit dem Zusammentreffen seiner Eltern in Verbindung zu bringen. [Name 2] hatte einen Monatsverdienst von rd. 1 200 MDN, [Name 3] von rd. 800 MDN. Beide lebten in geordneten Verhältnissen.
Vom MfS werden zzt. weitere Untersuchungen zur Aufklärung des Grenzdurchbruches sowie zur Ermittlung der Ursachen der Republikflucht durchgeführt.