Gegnerische Tätigkeit und moralische Mängel an der Staatsgrenze
7. Februar 1964
Einzelinformation Nr. 87/64 über die gegnerische Tätigkeit an den Staatsgrenzen der DDR sowie über einige Mängel im politisch-moralischen Zustand der NVA/Grenze
Im vergangenen Jahr setzte der Gegner besonders an der Staatsgrenze nach Westberlin seine Provokationstätigkeit verstärkt fort. Insgesamt waren 1963 über 7 000 Grenzprovokationen zu verzeichnen, davon von Westberlin ausgehend 5 757; [von] Westdeutschland ausgehend 1 395, wobei sich die Anzahl der wesentlichsten Provokationen des II. Halbjahres im Vergleich zum I/63 nur geringfügig unterscheidet.
Dazu folgende kurze Übersicht:
[Art der »Provokation«] | Staatsgrenze West [im Halbjahr] I/63 | Staatsgrenze West [im Halbjahr] II/63 | Staatsgrenze Berlin [im Halbjahr] I/63 | Staatsgrenze Berlin [im Halbjahr] II/63 |
---|---|---|---|---|
Beschießen mit Waffen | 1 | 1 | 68 | 72 |
Bedrohen mit Waffen | 2 | 3 | 26 | 9 |
Beschädigen der Grenzsicherungsanlage | 6 | 10 | 149 | 152 |
Verletzung des 10-m-Kontrollstreifens | 202 | 205 | 118 | 102 |
Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl der Provokationen an der Staatsgrenze West um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Dies ist nicht zuletzt auf den weiteren Ausbau des Sicherungssystems und die bessere Organisierung des gesamten Grenzdienstes zurückzuführen. Besonders durch die Errichtung eines weiteren Schutzstreifens und die damit verbundene Verlegung der Postenwege unserer Sicherungskräfte wurden die Möglichkeiten für gegnerische Provokationen weiter eingeschränkt.
Hauptmethode der gegnerischen Tätigkeit ist nach wie vor die politisch-ideologische Diversion, die speziell auf die ideologische Zersetzung und Schwächung der Kampfkraft unserer Grenzsicherungskräfte ausgerichtet ist.
Wenn auch an der Staatsgrenze West die Möglichkeiten der gegnerischen ideologischen Beeinflussung unserer Grenzposten eingeengt wurden, so setzte der Gegner seine von Westberlin ausgehenden Versuche der ideologischen Einflussnahme mit den vielfältigsten Mitteln und Methoden verstärkt fort. Von den im vergangenen Jahr festgestellten 4 900 Kontaktaufnahmeversuchen entfallen allein 3 988 auf die Staatsgrenze Berlin – ca. vier Fünftel (West 912). Davon wurden unsere Posten an der Staatsgrenze West in 200 Fällen und an der Staatsgrenze zu Westberlin in über 1 000 Fällen z. T. unter Versprechungen direkt zur Fahnenflucht aufgefordert. In den meisten Fällen handelte es sich bei den Provokateuren um Angehörige des BGS, des westdeutschen Zolls, der Westberliner Polizei oder des Westberliner Zolls bzw. der in Westberlin stationierten Besatzer.
Schwerpunkt war besonders der Monat Dezember 1963 mit 608 Kontaktaufnahmeversuchen von Westberlin aus (82 Staatsgrenze West). Weiter wurden im vergangenen Jahr in 46 Fällen die Hetzlautsprecherwagen des Westberliner Senats entlang der Grenze zu speziellen Hetzsendungen eingesetzt. Eine andere Methode der ideologischen Beeinflussung sind die vom Westberliner Senat entlang der Staatsgrenze der DDR aufgestellten 82 Hetzplakate (davon allein 51 im unmittelbaren Stadtgebiet), die monatlich z. T. mehrmals mit neuen Hetztexten versehen werden. Die Hetztexte sind vorwiegend gegen eine konsequente Dienstausübung unserer Grenzposten gerichtet und fordern zur Fahnenflucht und zur Begünstigung bzw. Beihilfe bei Grenzverletzungen auf. Zusätzlich zu der bereits seit Jahren in Betrieb genommenen Leuchtschriftanlage am Potsdamer Platz wurde im Oktober 1963 eine weitere Anlage in Kreuzberg, Kochstraße 22–23 errichtet, die allabendlich Hetznachrichten u. a. speziell an die Grenztruppen und Grenzbevölkerung gerichtete »Grenznachrichten« senden. Eine weitere Leuchtschriftanlage am Kiesberg in Berlin-Rudow steht kurz vor ihrer Fertigstellung und eine vierte Anlage plant der Westberliner Senat an der Schule Ellerbecker Straße im Wedding zu errichten.
Diese massierten Beeinflussungsversuche, die besonders während der Zeit des Passierscheinabkommens unter Anspielung auf eine gewisse »Entspannung« und »freundschaftliche Kontakte« z. T. durch Überwerfen von »Geschenken«, vorwiegend Genussmittel, durch die gegnerischen Kräfte forciert wurden, fanden nicht die vom Gegner gewünschte Wirkung. Während der gesamten Zeit des Passierscheinabkommens kam es an der Staatsgrenze nach Westberlin zu keinen Fahnenfluchten.
In der Zeit vom 1. bis 20.12.1963 waren an der Staatsgrenze nach Westberlin zwei Fahnenfluchten zu verzeichnen (Vormonat: keine). An der Staatsgrenze West erfolgten im Dezember elf Fahnenfluchten (Vormonat: 19), davon eine Gruppenfahnenflucht. Schwerpunkt bilden die GR Dermbach mit drei Fahnenfluchten, Eisenach mit zwei Fahnenfluchten.
Weiter konnten im Dezember 1963 insgesamt 13 Fahnenfluchten verhindert werden, davon neun in den Berliner Grenzbrigaden und vier aus den Linieneinheiten an der Staatsgrenze West.
Zu erwähnen ist ferner die Fahnenflucht der Ultn. [Name 1], Zugführer in der Kompanie Katharinenberg GR Mühlhausen. Als Ursache können Ehezerwürfnisse angesehen werden. Die Ehefrau des [Name 1] ist sieben Jahre älter, brachte zwei uneheliche Kinder mit in die Ehe und ist wiederrum schwanger. In der Ehe gab es oft Streit wegen Geldangelegenheiten und es fehlte an den notwendigsten Wohnungseinrichtungen, da [Name 1] sein Geld vorwiegend für Alkohol verausgabte.
Insgesamt waren im Jahre 1963 in den Grenztruppen 362 Fahnenfluchten zu verzeichnen (Vorjahr: 491).
Davon entfallen auf das
[Bereich] | [Halbjahr] I/1963 | [Halbjahr] II/1963 | Gesamt |
---|---|---|---|
Staatsgrenze West | 159 (28) | 128 (31) | 287 (59) |
Staatsgrenze Berlin | 38 (6) | 37 (9) | 75 (15) |
Gesamt | 197 (34) | 165 (40) | 362 (74) |
(Die in Klammern gesetzten Zahlen = davon Uffz.) Außerdem wurden zwei Offiziere (Ultn.) an der Staatsgrenze West fahnenflüchtig.
Beachtenswert ist vor allem der noch hohe Anteil der Unteroffiziersdienstgrade an den Fahnenfluchten, der ca. ein Fünftel der Gesamtzahl beträgt.
In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass der Einsatz als Unterführer bzw. die Beförderung zum Unteroffizier oftmals zu früh und ohne jegliche Bewährung in der Praxis erfolgt. Zum Beispiel waren von den im November 1963 fahnenflüchtig gewordenen 19 NVA-Angehörigen neun als Unterführer eingesetzt und hatten den Dienstgrad Unterfeldwebel bzw. Unteroffizier. Elf der 19 Fahnenflüchtigen wurden erst im Mai 1963 eingestellt, davon vier, die in der relativ kurzen Zeit (sechs Monate) zum Unteroffizier befördert und als Gruppenführer in den Linieneinheiten eingesetzt wurden. Bereits im Oktober 1963 wurden zwei Unteroffiziere fahnenflüchtig, die erst seit Mai 1963 Angehörige der NVA waren. Im Dezember wurden wiederum fünf Unteroffiziere fahnenflüchtig, die erst seit Mai 1963 der NVA angehörten.
Weiter konnten 1963 insgesamt 245 Fahnenfluchten verhindert werden, davon 132 an der Staatsgrenze West und 113 an der Staatsgrenze nach Westberlin. (Im Jahre 1962 wurden 531 Fahnenfluchten verhindert.)
An der Staatsgrenze West und an der Staatsgrenze nach Westberlin wurden insgesamt 44 Kontaktaufnahmen mit 228 Beteiligten festgestellt, davon Staatsgrenze West 21 mit 44 Beteiligten; Staatsgrenze nach Westberlin 23 mit 184 Beteiligten. Vorwiegend erfolgten die Kontaktaufnahmen zu gegnerischen Kräften des Westzolls, zu BGS-Angehörigen, zu Westberliner Polizisten oder zu Zivilpersonen im westlichen Grenzgebiet. Wiederholt wurde dabei durch unsere Grenzposten westliches Territorium betreten und »Geschenke« zumeist in Form von Genussmitteln entgegengenommen.
Weitere negative Erscheinungen und Missstände gab es besonders in der Bootskompanie der 4. Grenzbrigade an der Staatsgrenze zu Westberlin. In dieser Kompanie gab es eine Konzentration des gegnerischen Einflusses und es häuften sich die Fälle, dass Angehörige der Kompanie versuchten, das Westsenderhören zu rechtfertigen. Zum Beispiel erklärte der Parteigruppenorganisator im 4. Zug, Uffz. [Name 2], der mit seinem Radioapparat »Sternchen« beim Grenzdienst Westsender hörte: »Musik sei international und könne nichts schaden.« Uffz. [Name 3] und Uffz. [Name 4], beide Gruppenführer im 4. Zug, hörten den »Deutschlandfunk« und äußerten sich gegenüber Unterstellten: »Wenn sie uns die Radios einziehen, bestellen wir keine Zeitung mehr.« Nach einer Dienstauswertung des 4. Zuges, in der Soldat [Name 5] (SED) aktiv gegen das Westsenderhören aufgetreten war, äußerte Gefreiter [Name 6]: »Jetzt ist der Spitzel raus, jetzt können wir ungestört RIAS hören.«
Der Empfang von Westsendern erfolgt besonders auf den Booten im Grenzeinsatz.
Durch die dienstliche Leitung wie durch die Parteiorganisation wurde gegen diese Erscheinungen nicht wirksam vorgegangen. Zu einer Zugversammlung mit dem Thema: »Kampf gegen das Westsenderhören« äußerte z. B. der Parteigruppenorganisator Uffz. [Name 2]: »Dieses Thema sei überflüssig. Sie wären alle alt genug und wüssten schon was sie dürften und was nicht.«
Auf den im Einsatz befindlichen Booten wurden wiederholt Verstöße gegen die Wachsamkeit festgestellt, wobei besonders die Bootsbesatzungen des 4. Zuges während des Grenzdienstes schliefen. Die vorgeschriebenen stündlichen Meldungen über Funk wurden durch andere Bootsbesatzungen mit abgesetzt und beim Auftauchen von Kontrollbooten warnte eine Bootsbesatzung die andere durch vereinbarte Zeichen per Funk. Eine weitere Gefährdung der Einsatzbereitschaft stellt der verbreitete übermäßige Alkoholgenuss in der Bootskompanie dar. So waren Feldwebel [Name 7] (2. Zug), Uffz. [Name 8] und Uffz. [Name 9] (4. Zug) nicht in der Lage, ihren Dienst am 31.12.1963 ordnungsgemäß zu versehen. In einem anderen Fall waren sämtliche Angehörige des 3. Zuges dermaßen betrunken, dass sie nicht zum Dienst eingesetzt werden konnten, sodass nur vier anstatt sechs Boote zur Grenzsicherung ausfahren konnten. Vom Kompaniechef Oltn. [Name 10] wurden diese Vorkommnisse nicht geahndet, er erstattete auch keine Meldung darüber. Weiter wurden bei einer Überprüfung der Waffenkammer im Dezember 1963 grobe Verstöße gegen Befehle des Ministers für Nationale Verteidigung sowie gegen die bestehenden Dienstvorschriften festgestellt.
Hauptsächlichste Ursachen für die noch immer beträchtliche Anzahl von Fahnenfluchten, Kontaktaufnahmen sowie die angeführten Missstände sind vorwiegend
- –
ungenügende politische Erziehungsarbeit,
- –
mangelhafte Führungstätigkeit durch die Kommandeure,
- –
ungenügend gewissenhafte Auswahl von geeigneten Kadern für den Grenzdienst.
Die Unterschätzung der richtigen Auswahl der Kader für den Einsatz im Grenzdienst wird u. a. durch folgendes Beispiel bewiesen: Der Soldat [Name 11], Kompanie [Name 12], GR Dermbach, bedrohte am 18.12.1963 während des Grenzdienstes seinen Postenführer mit der MPi und forderte ihn auf, mit ihm gemeinsam fahnenflüchtig zu werden. Durch das umsichtige Verhalten des Postenführers konnte die Fahnenflucht jedoch verhindert werden. In der Untersuchung wurde festgestellt, dass [Name 11] bis zum 4.12.1963 seinen Dienst in der Kfz-Werkstatt des GR Dermbach versah und von dort wegen schlechter Arbeitsmoral in eine Linieneinheit versetzt wurde. Er versah am 18.12.1963 seinen zweiten Dienst an der Staatsgrenze.