Generalsuperintendent Jacob über Kirchenarbeit in der DDR
1. Dezember 1964
Einzelinformation Nr. 1062/64 über Vorstellungen des Generalsuperintendenten Jacob und Maßnahmen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg zur Entwicklung des »kirchlichen Dienstes« unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR
Am 15.10.1964 trat in Berlin ein interner Kreis von Mitarbeitern der Gossner Mission1 der DDR, Westdeutschlands und des kapitalistischen Auslands zusammen, vor dem der Verwalter des Bischofsamtes der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg, Generalsuperintendent Jacob2 in einem Bericht die gegenwärtige Situation in der Landeskirche Berlin-Brandenburg einschätzte, eine Reihe von Vorstellungen entwickelte und Maßnahmen erläuterte, wie der Dienst der Evangelischen Kirche unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR zu aktivieren sei.
Jacob untergliederte zu diesem Zweck seinen Bericht in die Abschnitte über den Dienst am Wort, an der Jugend, in den Gemeinden und dem leitenden Dienst der Kirche.
Einleitend dazu bemerkte Jacob, dass die tiefen Wandlungen des Zeitalters der »politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen« auch im Gebiet der Landeskirche Berlin-Brandenburg »in rasantem Tempo« vor sich gehen. Als Beispiel für die Industrialisierung nannte er das Gebiet der Niederlausitz, besonders den Bezirk Cottbus, der »praktisch zum Ruhrgebiet der DDR« werde und die »ganze bisher typische märkische Dorflandschaft mit ihren stillen Dörfern… durch Aufschließung neuer Braunkohlengebiete« verwandele, sowie die Errichtung des »Erdölkombinats Schwedt/Oder, neuer Chemiefaserwerke, Halbleiterwerke« usw. in den Bezirken Cottbus und Frankfurt/Oder, mit deren Erschließung oder Aufbau »ganze Dörfer« fast verschwänden und »neue Städte bzw. Stadtteile buchstäblich über Nacht« entstünden.
Andererseits seien aber auch die Mehrzahl der Gemeinden der Kirche Berlin-Brandenburg, die Landgemeinden, »heute äußerst verschieden strukturiert«. Jacob klassifizierte deshalb in seinem Bericht die kirchlichen Gemeinden wie folgt:
- 1.
»Geschlossene Dörfer mit noch volkskirchlicher Tradition«, wie etwa im »Spreewald«, wo die »Kirchengemeinde noch ganz in der Welt der Familie« lebe,
- 2.
»Geschlossene Dörfer, die … durch eine abgeschlossene und absolute Entwicklung gekennzeichnet« seien, »wie einige vollgenossenschaftliche Dörfer im Oderbruch«.
Auch in »einem der neuen Wohnblocks in Frankfurt/Oder« durchgeführte »Besucherdienste« hätten mit dem Ergebnis geendet, »dass nicht 10 % der aufgesuchten Familien auch nur auf eine Zugehörigkeit der Kirche ansprechbar waren«. Das seien »heute die großen weißen Flecken auf der kirchlichen Landkarte«.
- 3.
»Dörfer und Städte ohne die volkskirchliche Tradition, aber mit einem beständigen Gemeindekern«, wo die »Gemeinde auf breiter Basis neu gesammelt werde« und »Steuerzahler auf ihre Verpflichtung ernsthaft angesprochen« würden.
Diese Gemeinden bezeichnete Jacob als einen »Aufbruch nach vorn«, da sie die »volkskirchliche Enttrümmerung hinter sich« hätten.
- 4.
»Dörfer und Städte, in denen nur noch ganz kleine Gruppen um den Pfarrer« bestünden.
Das Leben in diesen kirchlichen Gemeinden bezeichnete Jacob als »äußerst differenziert, ja gegensätzlich«. Deshalb sei es auch nicht möglich, »diese unterschiedliche Situation … auf gemeinsame, thematische pauschale Formeln zu bringen«. Allgemein sei jedoch die »kirchliche Situation« in Stadt und Land gekennzeichnet »durch die Müdigkeit ihrer Glieder«, die viele Ursachen habe, so auch dem erheblichen Aderlass durch die Republikfluchten bis 1961. Besonders die Alten würden »auch in einem neuen Leben der Gemeinde nur Auflösungstendenzen« des christlichen Lebens sehen, »in einer prinzipiellen Protest- und Antihaltung« verharren und dadurch blind werden »gegenüber … Neuansätzen und Erfahrungen« kirchlichen Dienstes in den Gemeinden.
Von diesen allgemeinen Feststellungen zur Situation in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg ausgehend, leitete Jacob über zur Einschätzung der gegenwärtigen kirchlichen Dienste, verbunden mit Vorstellungen, Anregungen und Beispielen, wie die kirchliche Arbeit aktiviert werden könnte und sollte. Im Abschnitt zum »Dienst am Wort« befasste sich Jacob mit der »alarmierenden Echolosigkeit der sonntäglichen Predigten«. Diese »Echolosigkeit« habe viele Ursachen. So z. B. auch
- –
menschliche Unzulänglichkeiten und Routine mancher Pastoren und Seelsorger,
- –
die atheistische Propaganda,
- –
den um sich greifenden »Indifferenzismus«, der eine große Rolle spiele, da man sich auch als Christ »nicht mehr engagieren und exponieren« möchte, sondern nur noch »seine Arbeit leisten, gut verdienen und … privat leben, … aber im Übrigen in Ruhe gelassen werden wolle.«
Als entscheidende Ursache für diesen Zustand nannte Jacob jedoch die »Grundlagenkrise im Raum der evangelischen Theologie« und die »tiefe Krise der traditionellen Bilder und Worte« der Kirchensprache. Die Grundlagenkrise der evangelischen Theologie äußere sich heute darin, dass die »massiven theologischen Positionen der Kirchenkampfzeit im 3. Reich,3 diese Abwehr elementarer Angriffe von außen, heute unhaltbar geworden«, andererseits aber viele Probleme der faktisch »in dieser Kampfsituation« verdrängten »Anfragen der ethischen Bibelwissenschaft und festen theologisch begründeten Anfragen der Bultmannschule4 … inzwischen in voller Macht aufgestanden« seien. Außerdem gebe es einen Bruch zwischen der jüngeren Theologengeneration, die von der »Schule der Hermeneutik5 und der existenzialen Interpretation« beeinflusst sei, und der älteren Pfarrergeneration, der Bücher dieser Schule »nicht zugänglich« seien und die somit diese Kenntnisse »in der Frage der Exegese«6 (Bibelauslegung) nicht verarbeiten könnte. Dieser Bruch sei so groß, dass er »seine Analogie in dem Bruch der Jahre 1920–1930« habe. Diese tiefe theologische Grundlagenkrise aber bringe »gerade die täglichen Prediger heute vor ihren Gemeinden in große Nöte«.
Die »Krise der traditionellen Bilder und Worte der Kirchensprache« sei dadurch ausgelöst, dass »die Bilder vom himmlischen Schöpfer, vom Gott Vater, vom Himmel und Hölle usw. unter der Kritik des wissenschaftlich-technischen Weltbildes zu verstaubten Antiquitäten« und »die Kirchensprache mit ihren traditionellen Begriffen zur chinesischen Geheimsprache geworden« seien. Die »Not der Seelsorge« sei deshalb »nicht geringer«. Angesichts dieser »akuten Predigtnot« erfolge in der Landeskirche Berlin-Brandenburg »Anleitung«. Wie Jacob äußerte, geschähe in den meisten Pfarrkonventen und Kleinstkonventen eine »gemeinsame Predigtvorbereitung, die sich aber viel zu wenig … mit einem Gemeindekreis oder einem Team von Mitarbeitern im realen Meinungsstreit über die Tragik« der Kirche auseinandersetze. Als »neue Versuche« der Predigtgestaltung empfahl Jacob folgende schon praktizierte Beispiele:
- –
dass der Prediger, der in kleinen Gottesdienstgruppen auf dem Dorf kommt, mit den Anwesenden Gespräche über »Gottes Wort« führt;
- –
dass die Predigt als »gründlich vorbereitetes Gespräch zwischen zwei Pastoren oder zwischen Pfarrkonventen« durchgeführt wird;
- –
dass, wie beim Kreiskirchentag des Kirchenkreises Seelow, die Gemeinde an Tischen sitzt, jeder den biblischen Text vor sich hat, der Pastor eine exegetische (erklärende) Einführung gibt, danach die Gesprächsbesprechung an den einzelnen Tischen unter Leitung eines wirklich zugerüsteten Laien und abschließend die zusammenfassende Auslegung des Textes und der Tischgespräche durch den Pastor erfolgt.
Wie Jacob feststellte, lebe ein großer Teil der Gemeinden noch zu sehr in der Liturgie (Ordnung des Gottesdienstes), was seine These belege, »dass der Baum«, den man der Kirche in der DDR noch lasse, von der Kirche »selber gar nicht ausgefüllt« werde. Dabei gehe es darum, »gerade das im Gottesdienst herrschende 1-Mann-System zu überwinden«. Dort, wo »man die Gemeinde um die Gestaltung des Gottesdienstes« bemühe, »wo sich die gottesdienstliche Gemeinde in ihren Familien« darstelle, dort wachsen auch die Familiengottesdienste. Auch Synchronisierung und Koordinierung von Gottesdiensten und Kindergottesdiensten »in größeren Städten« hätten sich »als sehr positiv erwiesen«.
Darüber hinaus gebe es »eine Reihe guter Versuche, mit der kirchlichen Gemeinde den ›Herrentag‹ als ganzen Tag gemeinsam zu verbringen, mit Gottesdienst, Mahlzeit, Einkehr, Besinnung, Spiel und Abendmahl als Tischgemeinschaft«.
Jacob erklärte, ihm erschiene »der Erfahrungsaustausch über all diese Dinge« notwendig, »um durch die Aufstellung bewährter Modelle der Fantasielosigkeit vieler Pastoren und Ältester ein wenig zu begegnen«. Im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Formen der kirchlicher Arbeit und ihrer Aktivierung kritisierte Jacob dann die Perspektivpläne zur Besetzung der Pfarrstellen in der Landeskirche Berlin-Brandenburg, die vielfach nicht mehr der »apostrophierten Seelenzahl« entspräche. Als Beweis führte Jacob an, dass in Berliner Großstadtgemeinden die »apostrophierten Stellenzahl von 7 000 faktisch auf den Rest von 200 Menschen in 70–80 Familien reduziert« sei. Auf dem Lande gebe es »Dörfer, in denen es faktisch nur noch 10–20 kirchliche Familien gebe«. An der Weigerung, aus dieser »Diaspora-Situation der Kirche … eindeutige Konsequenzen zu ziehen« und am Festhalten »an diesem grotesken Missverhältnis, das zur Zeit noch durch allerlei künstliche Subventionen verdeckt« werde, könne die Kirche »eines Tages zugrunde gehen«. Für die Kirche Berlin-Brandenburg sei es deshalb »zwingend notwendig, dass in der Innenstadt (gemeint ist Berlin) die Planstellen entsprechend der tatsächlichen Entwicklung der Gemeinden verringert … und dafür in den neuen Wohnvierteln der Außenbezirke weitere Pfarrstellen mit kleineren und übersehbaren Pfarrbezirken und Gemeindezentren errichtet werden«.
Jacob forderte eine »Konzentration« der Kräfte auf »schwerpunktmäßigen Einsatz, damit Gemeinden als Leuchttürme entstehen« und die »Gemeinden wieder missionarische Strahlungskraft« erhalten. Im Grunde gehe es darum, zu erkennen, dass der Pfarrer der »in Vakanzen den Betreuungsdienst aufrechterhalten« müsse, daran gehindert werde, »in seiner Gemeinde etwas Neues aufzubauen«.
Ein Pfarrer in einem vollsozialistischen Dorf führe heute schon »eine trivialisierte (abgedroschene) scheinbar isphysische [sic!] Existenz, eine Art Narrenfreiheit in seinem Pfarrhaus, mit der er auf die Dauer unglaubwürdig werden« müsse in diesem geschlossenen Dorf.
Wenn man »nüchtern den weiteren Schwund« an Kirchenanhängern in den nächsten Jahrzehnten mitrechne, gelte es außerdem »ernstlich zu fragen, ob nicht die jungen Theologen alle erst einmal einen Beruf erlernen sollten, um im Notfall wie der Apostel Paulus existieren zu können«.
Im Abschnitt über den Dienst an der Jugend, nahm Jacob besonders zur Christenlehre und zur Konfirmation Stellung. In seinen Ausführungen zur Christenlehre hob Jacob hervor, dass es »nicht um den überholten Gegensatz von Stadt, Großstadt und Dorf« gehe, sondern »um die Alternative in Stadt und Land, volkskirchliches Erbe, das die Gemeinde erhalten könnte, oder totale Entkirchlichung«. Während der Besuch der Christenlehre durch die in den kirchlichen Karteien erfassten Kinder auf den Dörfern immer noch zwischen 50 und 100 % schwanke, sei er in den größeren Städten, vor allem den Industriegebieten, »trotz aller intensiven Bemühungen in den letzten Jahren« auf 30–5 % abgesunken. Außerdem hätten Tests bei Schulanfängern von 1964 in einer Stadt wie Lübbenau ergeben, dass von 94 aufgesuchten Familien, die bei der Taufe 1957 feierlich versprochen hätten, »dafür zu sorgen, dass ihre Kinder im christlichen Glauben erzogen werden«, nur noch 32 bereit seien, »ihre Kinder als Schulanfänger auch der Christenlehre zuzuführen«. Jacob betonte, dieses Untersuchungsergebnis stehe »sicher nicht allein«, denn auch im Kirchenbezirk Potsdam/Cottbus »scheine sich zu ergeben, dass trotz intensiver Besuchsaktionen im Vorfeld des neuen Schuljahres nur noch etwa 10 % aller Schulanfänger der Einladung zur Christenlehre folgen« werden, »wobei noch offen« bleibe, »ob sie dann auch regelmäßig« kämen.
Die Gründe dafür lägen »in einem völligem Indifferentismus«. Jacob forderte, solche Untersuchungen jetzt überall einmal durchzuführen. Ihre Ergebnisse würden die Kirche »wahrscheinlich auf eine schmerzliche Weise ernüchtern«, zugleich aber auch die vor der Synode stehende Frage verschärfen, »ob die bisherige Taufpraxis mit Eltern- und Patengesprächen nach kurzfristiger Taufanmeldung so noch weiter verantwortet werden« könne. Außerdem wies Jacob auf das allen Pfarrkonventen zum gründlichen Studium zugeleitete Memorandum, »Taufpraxis anders als üblich«, hin. Darin schlage die Kirchenleitung vor, um wieder größeren Zustrom zur Christenlehre zu erreichen, »die Festsetzung bestimmter Taufsonntage in der Gemeinde und die Zurüstung der Eltern auf einen solchen Taufsonntag in Form von offenen Gesprächsabenden … zu den Themen: Wer ist die Kirche; Taufe als Aufnahme in die Gemeinde; Einübung im Glauben und Taufhandlung, Taufpaten, Taufunterlagen«. Mit bereits durchgeführten geordneten Taufseminaren dieser Art seien in einigen Gemeinden schon »gute Erfahrungen« dahingehendgemacht worden, »dass Eltern in Redlichkeit um Taufaufschub« gebeten hätten, »mit der Begründung«, wenn sie die Tauffragen mit Ja beantworteten, würden sie »heucheln«.
Darüber hinaus empfahl Jacob, dort wo die Christenlehre wochentags »fast zusammengebrochen« sei, für Schulpflichtige »Kindertage« durchzuführen, weil damit in einigen Gebieten ebenfalls »großartige« Erfolge erzielt worden seien.
Zu den Fragen der Konfirmation verwies Jacob auf den von der Synode 1962 bestätigten Beschluss der Kirchenleitung für die Konfirmation, der »auch für das Entweder – Oder von Konfirmation und Jugendweihe«7 gelte. Dieser Beschluss sehe »für Jugendgeweihten eine Karenzzeit von mindestens einem Jahr vor, in der die Jugendgeweihten durch Teilnahme am Gottesdienst und am Leben der Jungen Gemeinde zeigen sollten, dass sie sich nur unter Druck der Jugendweihe unterworfen« hätten und es ihnen ernst sei »mit der Bitte um Zulassung zum Heiligen Abendmahl«.
Jacob bedauerte, dass »nicht weniger Pfarrer, vor allem in Berlin, sich an diese Richtlinie nicht gehalten« haben, sondern die »sogenannten Nachkonfirmation bereits … nach einer kurzen Zeit vollzogen« hätten. Dadurch sei das, was als »Notlösung« angeboten worden wäre, für einzelne Fälle, wo die Jugendweihe unter Druck hingenommen werden musste, »besonders wenn die Eltern Lehrer, Polizisten oder Staatsangestellte« wären, »als eine allgemeine Möglichkeit angesehen worden, die man von vornherein einkalkuliert.« Die Nichteinhaltung dieser Ordnung sei auch der Grund, »weshalb als Hauptthema der November-Synode … erneut das Thema Konfirmation und Taufe abgehandelt« werde. Die Vorstellungen und Vorschläge zu diesem, in »der Breite der verantwortlichen kirchlichen Gremien auf allen Stufen gründlich« vorgeklärten Thema seien sehr groß. Die einen plädierten »für die Fortsetzung des bisherigen Weges … die Konfirmation mit klarem Nein zur Jugendweihe in ihrer bisherigen Gestalt bestehen« zu lassen. Diese Kräfte erwarten von »der Synode nur eine Unterstreichung der bisherigen Forderungen, die es dann ermöglichen würde, die abweichenden Pfarrer zur Verantwortung zu ziehen«. Andere, Jacob bezeichnete sie als »Minderheit«, plädierten »für den sogenannten Magdeburger Weg … den Fortfall der bisherigen volksbildenden Konfirmation und die Konzentration auf das individuelle Abendmahlszulassen, … frühestens ein Jahr nach dem Abschluss des zweijährigen Unterrichts aufgrund einer Einzelentscheidung und Einzelzurüstung in den Gemeindegottesdiensten sowie unter Verzicht auf eine besondere Konfirmation«. Dadurch sollen sich junge Menschen, »vor allem von der Jungen Gemeinde her, im Laufe von Jahren für die Abendmahlszulassung anmelden können«.
Jacob gestand ein, »dass die Unruhe über die Konfirmations- und die Tauffrage auch unter den Geistlichen anwächst« und nannte diese Unruhe »heilsam«, denn nichts sei »schlimmer als der gedankenlose Vollzug eines verzierten Predigererbes, das immer zur Konvention erstarren« könne.
Schon deshalb müsse sich eine Kirche, »der der Zugang, der Zulauf ernst« sei, »den Fragen der Exegese stellen, so groß auch die Unruhe darüber werden« möge.
Jacob verwarf die »Freiwilligkeitskirche aufgrund utopischer Leitbilder«, betonte jedoch, dass sich die Kirche »unter dem Zwang der Verhältnisse, im Gegensatz zur westlichen Welt«, zu Fragen »herausgefordert und aufgerufen« sehe, wie »einer wirklich an die Wurzeln gehenden theologischen Besinnung und Verzicht auf allerlei bequeme Kompromisse im Interesse der Erhaltung des volksbildenden Status quo«, auch wenn sie sich dabei »scheinbar ins eigene Fleisch« schneide. Die Kirche Berlin-Brandenburg halte die Versuche, »die bisherige Konfirmation so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und deshalb die Entscheidungsfrage gegenüber der Jugendweihe auszuklammern, für nicht vertretbar«, da sie die Kirche »nichts vor Auflösung eines unreal gewordenen Erbes auf längere Sicht bewahren« würden. Ein klassisches Beispiel für diese These sei Thüringen, wo die Tatsache, dass man überhaupt nicht mehr nach der Jugendweihe frage, nicht das Geringste daran ändere, »dass die Zahl der Konfirmanden ebenfalls rapide zurückgeht«. Erfreulicher sei dagegen die Tatsache zu werten, »dass sich die freiwillige Teilnahme an dem Konfirmandenrüsten in den Ferien erstaunlich verbessert« habe, weil »solche gemeinsamen Tage mit den Konfirmandengruppen mehr bedeuten« könnten, »als viele Unterrichtsstunden«.
Die Ausführungen »über den Dienst in den Gemeinden« beschränkte Jacob »auf die Sondierung besonderer Dienste um den Gemeindeaufbau«. Jacob hob hier besonders hervor, dass »neue Wege gegangen und Experimente gewagt« werden müssten, weil die Kirche das Ziel erkannt habe, »inmitten der amorphen (gestaltlosen) Massen … Zellen und Gruppen möglicher Christen zu schaffen«. Darunter seien aber nicht etwa abgekapselte »Kerngemeinden« zu verstehen, »sondern Zehnergruppen, selbst auch Marxisten, die reif wären zur nationalen Ausstrahlung auf die Werktätigen. Von dieser Konzeption aus, die eine Konzentration, Mut zur intensiven Kleinarbeit und die Loslösung von der gewohnten volkskirchlichen Breitenarbeit alten Stils« erfordere, sehe die Kirchenleitung »die Bedeutung vom Stamm der Mitarbeiterkreise in den Gemeinden«. Zur Verwirklichung dieser Konzeption seien »umfangreiche Handreichungen für die Arbeit der Mitarbeiterkreise herausgegeben«. Diese seien »eine seminaristische Schulung, sodass der einzelne existenzielle Geborgenheit in einer Gruppe erfahren« könne. Bei diesen Schulungen gehe es um »Überwindung eines geistigen Analphabetentums durch intensives Bibelstudium und umfangreiche Information zur Lage der Kirche und der Welt heute« sowie um »intellektuelle Bewältigung der im weltanschaulichen Streitgespräch aufgeworfenen Fragen, z. B. ob es Christen und den lieben Gott gibt«. Jacob betonte dazu, dass dafür »nicht das gut gemeinte Gebet eines Bekenntnispfarrers« genügt, »sondern Sachkunde, auch in naturwissenschaftlichen Fragen notwendig« sei, wenn diese »Laien nicht hilflos dastehen sollen. Lauheit sei den Christen heute nicht mehr erlaubt.«
Aus diesem, auch »generationsmäßig sehr gut« zusammengesetzten Mitarbeiterkreisen in zahlreichen Gemeinden erwachsen die »Mannschaften, die für den komplizierten Besuchsdienst eingesetzt werden« könnten. Das beträfe »vor allem die neuen Wohnblocks, die auf viele Monate hin durch diese Besuchsmannschaften aufgesucht werden« müssten. In den größeren Städten gäbe es, »in Zusammenfassung der Mitarbeiterkreise die Gemeindeseminare, die nach festen Plänen und bestimmter Problemstellung konstant« arbeiteten. Die Mitarbeiterkreise und Gemeindeseminare sollen nach den Erklärungen von Jacob dazu dienen, »einen engen Kreis von Menschen zu einer Lebensgemeinschaft und Dienstgemeinschaft werden zu lassen«. Dies wiederum könne geschehen in »Gestalt von Wochenendfreizeiten, von mehrtägigen Einkehrfreizeiten oder Abendtreffen«. Besondere Bedeutung komme dabei den »Wochenendfreizeiten der Mitarbeiterkreise« zu, »wo ein gemeinsames Leben auf eine leibhaftige Weise praktiziert« werde.
Jacob erwähnte in diesem Zusammenhang auch die im vergangenen Winter durchgeführten ganztägigen »Ältestenrüsten«, sowie die Bewegung »Kirche unterwegs«, als Möglichkeiten, »leibhaftiger Verwirklichung des gemeinsamen Lebens«. Besonders hervorgehoben wurde von Jacob auch die »planmäßige Zurüstung von Lektoren, die nach mehrjähriger Vorbereitung zu ihrem Dienst, der sich nicht nur auf das Abhalten von Hilfsgottesdiensten in Notsituationen« beziehe, eingesetzt würden. In manchen Pfarrsprengeln stünden schon jetzt »160 eingesetzte Lektoren zur Verfügung«.
In seinem Abschnitt über den leitenden Dienst der Kirche, wies Jacob darauf hin, dass sich die Verkoppelung der Ämter des Generalsuperintendenten mit denen des Bischofs in der Praxis »als sehr schwierig« erwiesen habe und die Kirchenleitung auf seine Bitte hin eine Reihe von Funktionen, »die der Bischof wahrzunehmen« habe, in ständiger Stellvertretung dem Vorsitzenden des Konsistoriums, dem amtierenden Konsistorialpräsidenten und dem Vorsitzenden des Theologischen Prüfungsamtes übertragen habe. Jacob erklärte ferner, »dass bei den staatlichen Kontakten kirchlicherseits ein bestimmter Freimut zu verzeichnen« sei, und die Kirche »dankbar dafür sein« könne, dass der Staatssekretär selbst diesen Freimut respektiere, auch dann, wenn die »Gespräche sich um so heiße Eisen« drehten, wie z. B. die »Nichtbeteiligung an den Wahlen vom 20.10.1963.«
Gerade deshalb müsse er »noch einmal mit Nachdruck sagen«, es sei unwahr, den »Staat, die SED bzw. die atheistische Propaganda allein für den Schrumpfungsprozess in der Kirche verantwortlich zu machen. Der Raum, den der Staat« der Kirche noch lasse, werde ja »von der Kirche nicht restlos ausgenutzt«.
Jacob betonte nochmals, die Kirche wünsche »keine Wiederherstellung solcher Positionen im Volkskirchlichen Stil, … auch nicht die Erhaltung des Status quo, um den Preis einer Akklamation durch eine Kirche, die längst die religiöse Begleitmusik zu den politischen Ereignissen aufgegeben habe«. Es gehe vielmehr »um eine innere Erneuerung der Christen«, wobei die Kirche glaube, »damit sogar in der säkularisierten (verweltlichten) Welt von Morgen auf vorgeschobenen Posten zu stehen und nicht in einem trostlosen Kessel zu sitzen«.
In der anschließenden Diskussion antwortete Jacob auf die Frage, ob dieses Referat eine gemeinsame Arbeit der Kirchenleitung sei, dass dieses Referat nur von ihm persönlich zu verantworten sei.
Auf die Frage, wie die Menschen wieder der Kirche zugeführt werden könnten, betonte Jacob, diese Frage würde nicht dadurch gelöst, die Massenmedien aus den sozialisierten Reihen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Als wichtig erscheine ihm, dass man mit der neuen Arbeit sofort und ohne Zeitverlust in der kleinsten Gruppe anfangen müsse. Das bedeute auch, den geistigen Stand der Pfarrer zu heben, besonders ihr Wissen von der sie umgebenden Welt heute, vom Leben in Asien und Afrika. Es müsse als existenzielles Problem erkannt werden, dass man sich erst einmal eine Information über die heutige Welt verschafft.
Außerdem stoße die Kirche doch auch auf Menschen, die unzufrieden seien mit Fragen, um die es in Wirklichkeit gehe, die von der Kirche nur theologisch andere ausgedrückt würden. Die große Masse Menschen, umgeben von den täglichen Existenzfragen, sei ansprechbar. Mit diesen Menschen wirklich in konkrete Begegnung zu kommen, sollte man nicht unterschätzen. Das allerdings setze voraus, dass man das außerhalb des Gebäudes der Kirche und des kirchlichen Apparates tut. Diese Arbeit könne man nicht im muffigen Kirchenraum tun, weil da die Menschen nicht mehr hinkämen. Diese Arbeit müsse ohne Talar vollbracht werden in einem Kaffee oder bei einem gemeinsamen Kinobesuch mit anschließendem Gespräch.
Diese Information darf publizistisch nicht ausgewertet werden.