Haltung der CDU in der Passierscheinfrage und zu Brandt
5. März 1964
Einzelinformation Nr. 196/64 über die Haltung der CDU in der Passierscheinfrage und in den Auseinandersetzungen mit Brandt
Eine zuverlässige Quelle berichtete über Äußerungen führender CDU-Funktionäre zur Haltung der CDU in der Passierscheinfrage und in den Auseinandersetzungen mit Brandt. Es geht dabei besonders um die Ergebnisse des Gesprächs zwischen Dufhues1 und Amrehn2 am 17.2.[1964] in Westberlin, um die Haltung der CDU zu dem Vorschlag Brandts3, ein besonderes Gremium für die Erarbeitung einer »gemeinsamen Konzeption« zu schaffen, sowie um die Absicht der CDU, die sogenannte Viermächtearbeitsgruppe in Washington mit der Passierscheinfrage zu befassen.
Im Einzelnen berichteten die führenden CDU-Funktionäre über eine Äußerung des Chefs der Senatskanzlei Spangenberg4, nach der sich der Senat bereits geschlossen für eine verbesserte Wiederholung des Passierscheinabkommens vom 17.12.19635 und, darauf aufbauend, für eine langfristige Regelung ausgesprochen hatte.
Im Westberliner Senat habe die Auffassung bestanden, dass einflussreiche Kreise des Bundeskabinetts, besonders die Kabinettsmitglieder der FDP, für eine Wiederholung des Weihnachtsabkommens gewonnen seien. Umso mehr betrachte der Senat, nach Meinung Spangenbergs, die Westberliner CDU als verantwortlich dafür, dass die Bundesregierung ein neues Abkommen verhindere.
In diesem Zusammenhang berichteten die genannten führenden CDU-Funktionäre im Einzelnen über die Ergebnisse des Gesprächs zwischen Dufhues, Amrehn und weiteren Mitgliedern des CDU-Landesvorstandes in Westberlin am 17.2.[1964]. Dufhues habe sich über den Standpunkt der Westberliner CDU informieren wollen, um auf dieser Grundlage und auf der Grundlage von Gesprächen mit den anderen Landesverbänden eine feste Linie in der Passierscheinfrage für den CDU-Bundesparteitag Mitte März zu erarbeiten.
Dufhues habe sich in Westberlin davon überzeugen lassen, dass sich die Einwände, die die Westberliner CDU bereits gegen das Weihnachtsabkommen geltend machte, insofern politisch voll bestätigt hätten, dass die Regierung der DDR mit dem Abkommen Westberlin aus der »Verantwortung« der Bundesregierung und ihrer gesamten »Wiedervereinigungspolitik« habe herausbrechen wollen. Zwischen Amrehn und Dufhues sei volle Übereinstimmung darüber erzielt worden, dass die Haltung Brandts in der Passierscheinfrage ein hervorragendes Mittel sei, um die »Unglaubwürdigkeit« der SPD und ihrer »Deutschlandpolitik« anzuprangern. Das Spannungsverhältnis zwischen Senat, SPD und FDP in Westberlin einerseits und Bundesregierung und CDU/CSU andererseits könne dazu beitragen, die Positionen Brandts als Kanzlerkandidat innenpolitisch entscheidend zu schwächen. Nach Auffassung der genannten CDU-Funktionäre läuft die Taktik der CDU/CSU darauf hinaus, Brandt als Vorsitzenden der SPD in Widerspruch zu seiner Handlungsweise als Regierender Bürgermeister zu bringen.
Über die Auseinandersetzungen in der Passierscheinfrage müsse ein Gegensatz zwischen Brandt und der Außenpolitik der Bundesregierung erzeugt werden. Dann wäre es ein leichtes, den Glauben an Brandts politische Handlungsfähigkeit zu unterminieren.
Im Hintergrund stehe dabei vor allem der katholische Flügel der CDU/CSU, der in den letzten Jahren an Einfluss sowohl in der Bundestagsfraktion als auch im Bundeskabinett eingebüßt habe. Wichtige Schlüsselpositionen seien in die Hände von Vertretern des protestantischen Flügels geraten, zu dem sowohl Gerstenmaier,6 als auch Lemmer7 und Schröder8 zu zählen seien und in dessen Mitgliederkreisen eine »liberalere und aufgeschlossenere Verhandlungsbereitschaft« in der Deutschland- und Westberlinfrage vorherrsche. Dagegen stehe die Gruppe um Brentano,9 Barzel,10 Guttenberg11 und Strauß,12 die besonders scharf auf die »Gefahren von Passierscheinregelungen für Westberlin in ihren Auswirkungen auf das gesamte Deutschlandproblem« hingewiesen habe. Dabei halte sich Strauß etwas zurück.
Die genannten CDU-Funktionäre bestätigten, dass Brandt mit seiner »Flucht an die Öffentlichkeit«, wie seine Rundfunk- und Fernsehrede vom 28.2.[1964] in CDU Kreisen bezeichnet worden sei, die Bundesregierung stark verärgert habe. Andererseits habe sich Brandt als von der Bundesregierung »bevormundet und zurückgepfiffen« gefühlt, nachdem er sich bereits ihrer Zustimmung zu einer neuen Passierscheinregelung sicher zu sein glaubte. Neben der Antwort der Bundesregierung habe die Westberliner CDU von Bonn ein Fernschreiben erhalten, Brandts Haltung in einer Erklärung scharf anzugreifen.
Bundesregierung, CDU-Bundesvorstand und Westberliner CDU-Landesvorstand seien sich völlig darüber einig, die Bildung des von Brandt vorgeschlagenen besonderen Gremiums zur Ausarbeitung einer »gemeinsamen Konzeption« in der Passierscheinfrage abzulehnen. Es handle sich nach ihrer Auffassung um eine Aufgabe der zuständigen Parlamentsausschüsse: des Auswärtigen Ausschusses und besonders des Ausschusses »für gesamtdeutsche Fragen«. Die Westberliner CDU argumentiere noch damit, dass Wehner13 als Vorsitzender des »gesamtdeutschen Ausschusses« Garantie genug für eine »echte Meinungsbildung« sein müsse.
Der Bundeskanzler, die Mehrheit des CDU-Bundesvorstandes und auch die Mehrheit der CDU-Bundestagsfraktion seien sich mit der Westberliner CDU darüber einig, dass für eine künftige Passierscheinregelung folgende Bedingungen gestellt werden müssen: keine Zustimmung zu der Bezeichnung »Hauptstadt der DDR« auf den Passierscheinen; keine Tätigkeit von DDR-Angestellten auf Westberliner Boden, die als konsularische Tätigkeit aufgefasst und ausgelegt werden müsse; keine Beschränkung auf Verwandtenbesuche, sondern Besuchsmöglichkeit für alle Westberliner Bürger; kein Verständnis dafür, dass es nicht möglich sein sollte, Passierscheine für Westberliner Bürger an der Staatsgrenze der DDR in einem ähnlichen Verfahren wie beim Besuch von westdeutschen Bürgern auszugeben.
Die genannten CDU-Funktionäre betonten, dass die Bundesregierung fest zu diesen grundsätzlichen Erwägungen stehe. Deshalb habe der Westberliner Senat zzt. keinerlei Spielraum, außerhalb dieser Grundsätze zu operieren. Aus diesem Grunde seien auch die Passierscheinverhandlungen unterbrochen worden.
Das bevorstehende Gespräch zwischen Brandt und Erhard14 am 6.3.[1964] habe allein die Aufgabe klarzustellen, dass sich Bundesregierung und Senat in Zukunft nicht mehr vor der Öffentlichkeit über die Passierscheinfrage auseinandersetzen sollten. Es sei lediglich die »Vertraulichkeit der politischen Abstimmung« zwischen Bundesregierung und Senat wiederherzustellen.
Als nächsten Schritt habe die Bundesregierung, nach Mitteilung der genannten CDU-Funktionäre, vorgeschlagen, den gesamten bisherigen Ablauf der Passierscheinverhandlungen und des Abkommens vom 17.12.196315 in einer Stellungnahme der sogenannten Viermächtearbeitsgruppe in Washington zu erfassen. Die Arbeitsgruppe solle sich mit einer Art Zwischenbericht beschäftigen und dabei besonders herausstellen, wie aus ihrer Sicht der »Verantwortung für die gesamte Deutschlandpolitik« die Weiterführung der Passierscheinverhandlungen zu betrachten ist.
Die Bundesregierung komme in diesem Zusammenhang erneut auf den Vorschlag Schröders zurück, eine sogenannte ständige Deutschlandkonferenz auf der Ebene der stellvertretenden Außenminister einzusetzen, den er im vergangenen Jahr den Westmächten unterbreitete. Die Bundesregierung sei bereit, zu dieser Konferenz sogenannte Sachverständigengruppen aus beiden deutschen Staaten hinzuzuziehen. In Bonn werde dieser Vorschlag Schröders als ein »echtes Ventil« betrachtet, um die Passierscheinfrage aus dem »innerdeutschen Streitgespräch« herauszunehmen, sie mit langfristigen Verhandlungen über eine Regelung für die Westberliner Zufahrtswege und über »Verbesserungen der innerdeutschen Lage« und der »Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands« zu verbinden und die sogenannte Verantwortung der vier Mächte für die »deutsche Frage« zu erhalten. Nach Auffassung der Mehrheit der CDU-Fraktion sei es vor allem die Aufgabe eines »Innerdeutschen Gesprächs«, den »Anspruch auf die Verantwortung der Siegermächte für die Wiedervereinigung« geltend zu machen. Das sei umso dringender, je mehr es die Westmächte an der nötigen Konsequenz fehlen ließen, sich dafür einzusetzen.
Die genannten CDU-Funktionäre berichteten in diesem Zusammenhang darüber, dass vor allem jüngere Offiziere der amerikanischen Behörden in Westberlin in zunehmendem Maße zu einer realen Einschätzung der Lage neigten. Sie würden vor allem bei ihren Fahrten durch die DDR zunehmend den Eindruck gewinnen, dass man eines Tages innerhalb Deutschlands und Berlins über die Lösung der strittigen Fragen miteinander ins Gespräch kommen müsse. Auch ihre Besuche im demokratischen Berlin trügen dazu bei.
Unterscheiden wolle die Bundesregierung, nach Einschätzung der genannten CDU-Funktionäre, auf jeden Fall zwischen der »festgefahrenen innerdeutschen Situation« und der von ihr angestrebten Verbesserung der Beziehungen zu den sozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas. Diese Bestrebungen dürften durch die Passierscheinfrage nicht beeinflusst werden und seien unter einem anderen Gesichtspunkt weiter voranzutreiben.
Die genannten CDU-Funktionäre erwarten, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf ihrer Sitzung in Westberlin am 10.3.[1964] eine richtungsweisende Resolution zur Passierscheinfrage in Hinblick auf den Bundesparteitag fassen will. Eine ursprünglich mit Erhard vorgesehene Großkundgebung in Westberlin sei abgesagt worden, weil sich Erhard wahrscheinlich erst des Vertrauensvotums des Parteitages versichern wolle, um dann vor der Öffentlichkeit entsprechend auftreten zu können. Die Großkundgebung soll Ende April nachgeholt werden.
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