Haltung Prof. Robert Havemanns
9. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 458/64 über die Haltung Prof. Havemanns
Dem MfS liegen eine Reihe weiterer interner und zuverlässiger Informationen zur Haltung Prof. Havemanns1 vor. Im Wesentlichen zeigt sich darin die Haupttendenz alles zu tun, um international »seinen Fall«, seine Ansichten weiter hochzuspielen und Rückwirkungen auf die DDR hervorzurufen, Überlegungen und Spekulationen anzustellen, welches taktische Vorgehen und Verhalten zweckmäßig sei, um diese Bestrebungen am wirksamsten zu unterstützen. Dabei kalkuliert er in diesem Zusammenhang ganz offensichtlich schon weitere Auseinandersetzungen mit ihm in der DDR ein (Entfernung aus der DAW).
Im Einzelnen ist für sein Verhalten charakteristisch: Havemann hat sich mit dem Wuppertaler Rechtsanwalt Dr. jur. Hermann Rebensburg2 erneut schriftlich konsultiert und ihn um seinen Besuch gebeten, der am 6., 7. und 8.6.1964 in seiner Wohnung in Berlin, Strausberger Platz, auch stattfand. Dabei geht es ihm u. a. um die Einrichtung eines Kontos in Westdeutschland, was nach Ansicht Rebensburgs auch ohne Schwierigkeiten möglich sei.
Havemann hat vom Rowohlt-Verlag am 28.5.1964 ein Vorausexemplar des Buches (seine Vorlesungsreihe mit einem persönlichen Vorwort von ihm)3 erhalten und bat gleichzeitig um weitere ständige Zustellung einzelner Exemplare dieses Buches.
Der Rowohlt-Verlag hat bereits Verbindungen mit dem französischen Verlag Gallimard4 und dem italienischen Verlag Einaudi5 aufgenommen und beabsichtigt, über seine Auslandsbüros auch Verlage in den übrigen Ländern für eine Herausgabe dieses Buches zu interessieren. Havemann hat dazu – da diese Veröffentlichungen seinen ursprünglichen Vorstellungen weitgehendst entsprechen – den Rowohlt-Verlag autorisiert und ihn ferner gebeten, zwecks Veröffentlichungen in Österreich Kontakt mit einem Tony Scholl6 aus Wien aufzunehmen. Außerdem bat er den Verlag, den Studenten aus Wien bei Vorbestellung eine besonders schnelle Lieferung zu ermöglichen.
Besonders befriedigt zeigte sich Havemann über die wahrscheinlichen Veröffentlichungen in Frankreich und Italien, weil nach seiner Ansicht gar nicht die Veröffentlichungen in Westdeutschland das Wesentlichste seien, sondern eben die im Ausland. Havemann halte es für sicher, dass dann alle eventuell gegen ihn gerichteten Maßnahmen auch im Ausland großen Staub aufwirbeln und zu stärkeren Protesten führen würden. Das alles diene dazu, die »Weltwirkung seiner Sache« zu vergrößern. Es ginge dann nicht mehr, nur mit dem »Interview« zu argumentieren, sondern »alle Leute« wüssten Bescheid und würden sich selbst überzeugen wollen, was er geschrieben habe.
Havemann befindet sich dabei in völliger Übereinstimmung mit Stefan Heym7 und beide unternehmen deshalb auch gemeinsame Anstrengungen dazu. Heym versucht alles, um den »Fall Havemann« in diesem Sinne voranzubringen. Heym hat während seines jüngsten Aufenthaltes in der VR Ungarn seiner eigenen Darstellung nach überall entsprechend »berichtet«. Es bestünde in Ungarn ein riesenhaftes Interesse an Havemanns Ansichten und Auftreten und man habe dort die Empfindung, dass Havemann die ganze »ideologische Frage« endlich in Gang gebracht habe. Heym sei bereits unmittelbar nach seiner Ankunft in Ungarn von allen Seiten – angefangen von früheren Mitarbeitern8 Rákosis9 – über Havemann befragt worden. Heym ließ auch durchblicken, dass eines der beiden von ihm nach Ungarn mitgenommenen Manuskripte Havemanns sich beim ungarischen Ministerium für Kultur befände und es dort »entsprechenden Vorbereitungen« diene. Heym habe außerdem »ausgezeichnete Veröffentlichungen von Lukács«10 mitgebracht. (Heym seien außerdem in Ungarn in einer Fernsehsendung folgende zwei Fragen gestellt worden: 1. Was er tun würde, wenn er drei Tage lang Generalsekretär der Schriftsteller in der DDR sein könnte? 2. Was er schreiben würde, wenn er schreiben könnte, was er wolle? Heym habe darauf geantwortet, dass der Generalsekretär der Schriftsteller in der DDR keine Macht hätte und dass zweitens er schreibe was er will; nur gedruckt würde es nicht immer. Das sei die Frage.)
Für das weitere Vorgehen Havemanns und Heyms ist aufschlussreich, dass Heym beabsichtigt, in die Schweiz (Zürich/Basel/Bern) zu fahren. Er will dort ebenfalls Manuskripte Havemanns mitnehmen und offensichtlich für die Popularisierung der Angelegenheit Havemann wirken. Zwischen Havemann und Heym wurde vereinbart, dass Havemann unbedingt Heym in der Schweiz über die weitere Entwicklung telefonisch verständigt. Dabei ginge es gar nicht so sehr um den Stand der Veröffentlichungen durch den Rowohlt-Verlag oder andere Verlage, sondern in erster Linie um Reaktionen und Maßnahmen, die man möglicherweise gegen Havemann ergreife und darum, welche Erfolge ihre »Gegenmaßnahmen« hätten. In diesem Zusammenhang wurden Vorstellungen erörtert, dass man im Falle einer Entlassung Havemanns einige Professoren zu Protestschreiben gewinnen müsste. Gedacht wurde dabei u. a. an die Prof. Thilo11 und Mothes12 und an den westdeutschen Publizisten Dr. Arno Peters13/München. Havemann selbst äußerte dazu, »bevor er selbst fallen sollte«, werde er ihnen (der Partei) »auf den Wecker fallen«. Nach seiner Einschätzung befände sich die Partei in einer sehr schwierigen Lage. Die Partei habe sich sicher überlegt, dass es im Falle seiner Rehabilitierung einen »Erdrutsch« geben würde. Auf der anderen Seite komme es bei einem nochmaligen Vorgehen zu einem Massenprotest, der – nach Ansicht des Gesprächspartners Havemanns Dr. Herward Pietsch14 – die beste Reklame für sein Buch sei. Dr. Pietsch schätzte in diesem Zusammenhang auch ein, dass es für die Partei kompliziert sei, eine Teilnahme Havemanns an der jährlich stattfindenden Zusammenkunft der Nobelpreisträger (in Lindau/Bodensee)15 richtig abzuwägen. Der Partei wäre klar, dass Havemann bei einer Teilnahme automatisch im Mittelpunkt dieser Zusammenkunft stehen und entsprechend informieren würde und dass dort alle Leute versammelt wären, die für Havemann wirksam werden könnten. Das hieße, dass bei einem nochmaligen Vorgehen gegen Havemann sich aus den jetzt noch einzelnen und unorganisierten richtige organisierte Proteste entwickeln könnten. Aus diesen Gründen sei eine Teilnahme Havemanns, der ja mit Sicherheit in die DDR zurückkehren würde, unzweckmäßig. Andererseits gäbe es aber offensichtlich den Wunsch, Havemann loszuwerden.16
Wie dazu weiter bekannt wurde, ist es zwischen Havemann und dem westdeutschen Publizisten Dr. Arno Peters/München am 14.6.1964 zu folgenden Abmachungen gekommen. Havemann hat den Peters für die Ende Juni in Lindau stattfindende Zusammenkunft der Nobelpreisträger interessiert und ihn aufgefordert, zu einem Vortrag von Max Born17 (über Symbole und Naturwissenschaft) dort hinzufahren. Ferner wies Havemann ihn darauf hin, dass er zu dieser Tagung eingeladen sei, aber keine Genehmigung für diese Reise bekommen habe. Peters schlug daraufhin vor zu versuchen, eine Einladung durch die DFU18 möglich zu machen.
Im Auftrage Havemanns soll Peters Prof. Heisenberg19 befragen, was er von den Vorlesungen Havemanns hält.20 Peters will Prof. Heisenberg außerdem mitteilen, dass Havemann zu dieser Tagung eingeladen sei, aber dazu keine Genehmigung in der DDR erhalte. Peters hofft, Heisenberg könnte in dieser Angelegenheit vielleicht etwas unternehmen.
Peters hat Havemann außerdem daraufhin angesprochen, dass er in seiner Eigenschaft als Publizist an einer Veröffentlichung einer »Zuschrift« von Havemann interessiert sei.21 Havemann hat ihm dies zugesagt.22
Unabhängig davon spekuliert Havemann darauf, dass »eines Tages auch Pauling23 und Schweitzer24 und wie sie alle hießen« aktiver würden. Schweitzer habe allerdings einen Fehler gemacht, dass er geschrieben habe »auf Havemanns Bitte hin«. Es hätte mehr gewirkt, wenn Schweitzer das anders formuliert hätte. Pauling sei in dieser Beziehung schlauer gewesen.25
(Die dem MfS bereits bekannte Tatsache, dass die von Pauling und Schweitzer eingegangenen Stellungnahmen von Havemann organisiert waren, wird dadurch nochmals eindeutig bestätigt, wie zugleich auch die Absicht, besonders führende Wissenschaftler des Auslandes für sich auszunutzen.)
Am 28.5.1964 ist Havemann erstmals wieder öffentlich auf einer Diskussion der Hochschulgruppe des Kulturbundes im Klub der Kulturschaffenden aufgetreten. Unter den Teilnehmern befanden sich Dozenten, wissenschaftliche Mitarbeiter aus Universität und Akademie, Assistenten und Studenten älterer Semester aus allen Fakultäten und Fachrichtungen. Havemann weilte auf Einladung von Prof. Dr. Schottlaender26 (Direktor des Instituts für Altertumskunde der Humboldt-Universität) dort, der auch das Hauptreferat unter dem Thema »Wer sind wir? Gedanken zur Natur des Menschen« hielt. Unter anderem trugen Schottlaenders Ausführungen starke Züge der Havemannschen Entfremdungstheorie. Nach zwei Koreferaten, die nicht direkt gegen die Thesen Schottlaenders zielten, führte Havemann in einem ausführlichen Diskussionsbeitrag diese Thesen Schottlaenders weiter aus und vertrat seine alte feindliche Theorie, u. a.
- –
im Sozialismus entstünde eine grundsätzlich neue Form der Entfremdung des Menschen;
- –
es bestünde ein tiefer Widerspruch zwischen dem Sozialismus, den wir wollen, und dem, was bis jetzt entstanden ist usw.
In der anschließenden Diskussion traten mehrere Teilnehmer gegen die »zu große Abstrahierung des Entfremdungsbegriffes« auf. Ein Diskussionsredner, der in kompromissloser Form gegen die Theorien Havemanns und Schottlaenders auftrat, wurde von Havemann und Schottlaender durch Zwischenrufe und Fangfragen aus dem Konzept gebracht. Unter anderem forderte Havemann ihn in beiliegender Form auf: »Sprechen Sie doch endlich einmal wie ein Mensch und nicht wie Sie müssen!«
Abschließend wird noch auf einige Ansichten Havemanns aufmerksam gemacht, die er zu andern Anlässen entwickelte. Unter anderem erklärte er zu den Auseinandersetzungen mit den Führern der KP Chinas:27 »So wie die chinesische Politik in der Erklärung der Sowjetunion dargestellt wird, so wird sie von den Chinesen natürlich nicht dargestellt. Es ist eben hauptsächlich die Meinung nur einer Seite. Die Chinesen haben natürlich auch eine Menge vorzubringen, was nicht ganz unberechtigt ist. Er halte die Position der Chinesen zwar nicht für richtig, wäre aber der Meinung, die Chinesen hätten ein Recht dazu. Es sei nicht notwendig, dass sich die ›Chinesen und Russen‹ einig sind. Seiner Meinung nach dürften in einer großen politischen Bewegung gegensätzliche Meinungen bestehen, sie müssten sogar bestehen. Wenn aber jeder behaupte, dass er der einzige ist, der Recht hat, wäre das Quatsch. Beide hätten nicht Recht, das solle man ruhig zugeben. Zum Beispiel wäre mit ihm selbst auch nicht so ein Krach, wenn es in der Partei nicht Leute gäbe, die der Meinung sind, nur was sie sagen wäre richtig.«
In einem anderen Zusammenhang entwickelte Havemann Vorstellungen, dass es möglich sein müsste, eine internationale Fraktion zu bilden, z. B. mit Fischer,28 Garaudy,29 Goldstücker30 und all den anderen Leuten, also nicht innerhalb der DDR etwa, sondern im großen Rahmen. Fraktionelle Auseinandersetzungen habe es schon immer gegeben und er denke an Auseinandersetzungen über grundlegende Fragen, nicht mit dem Ziel, die Partei zu zerstören, sondern »ihr neue Kräfte zu verleihen«, sie »attraktiv« zu machen. Man dürfe nicht glauben, dass eine fraktionelle Spaltung eine Schwächung bedeute. Wenn das so wäre, sei er auch dagegen.
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