IG Metall und Heinz Brandt über seine Ausreise (2)
9. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 459/64 über die Haltung von Heinz Brandt und der IG Metall seit der Ausreise Brandts nach Westdeutschland
Die Begnadigung Heinz Brandts1 und seine Freilassung nach Westdeutschland wurden von der Westpresse und vom Westrundfunk in verhältnismäßig großem Umfang für die Hetze gegen die DDR auszunutzen versucht.2 Gleichzeitig ging jedoch aus den Hetzkommentaren auch eine gewisse Unsicherheit hervor und es wurde sichtbar, dass sich die Initiatoren der Hetze über die Umstände der Freilassung Brandts, seines Empfanges in Westdeutschland und der Haltung der IG Metall nicht im Klaren waren. Sie konzentrierten die Hetze auf Versuche, die Begnadigung und Freilassung Brandts als einen »Erfolg« der Protestbewegung darzustellen. Verschiedentlich wurden diese Parolen mit der Forderung nach Freilassung weiterer sogenannter politischer Gefangener und in Einzelfällen mit Spekulationen auf bevorstehende »Wandlungen« im Justizwesen der DDR verbunden.
Bei seiner Ankunft in Frankfurt/M. hatte Brandt – offensichtlich in Abstimmung seines Auftretens mit der IG Metall (»den Ultras3 kein Wasser auf ihre Mühlen zu liefern«) – angekündigt, zu gegebener Zeit der Öffentlichkeit Einzelheiten seiner Verhaftung mitzuteilen. Die Berichterstattung über die Ankunft Brandts in Westdeutschland war auf die Wiedergabe der »Wiedersehensszene« konzentriert. Mit der Bemerkung von Brandts Frau, dass ihr Mann erst einmal einen guten Arzt gebrauche und man dann weitersehen könne, wurde die Beantwortung von Fragen der Journalisten umgangen.
Am 30.5.1964 soll Brandt angeblich einen anonymen Anruf mit der Drohung erhalten haben: »Ich warne Sie, in Ihrer Angelegenheit irgendwelche Schritte zu unternehmen.« Die IG Metall hatte daraufhin veranlasst, dass Brandt und seine Familie verstärkten Polizeischutz erhielten.
Am 3.6.1964 fand die große Pressekonferenz der IG Metall mit Heinz Brandt statt.4 Offensichtlich hielt sich dabei Brandt an von der IG Metall für sein Auftreten vorher festgelegte Instruktionen. Brandt behandelte auf der Pressekonferenz – entsprechend seiner vorherigen Ankündigung – sehr ausführlich seine »Entführung durch Ostagenten«. Dabei wurde besonders die Rolle des geflüchteten ehemaligen Funktionärs der IG Metall Hans Beyerlein,5 gegen den der Vorstand der IG Metall am 29.5. Strafanzeige wegen »Verdachts der Beihilfe zur Freiheitsberaubung« erstattet hatte, hochgespielt.
In der Zwischenzeit berichtete eine zuverlässige Quelle über Äußerungen eines führenden Funktionärs der IG Metall, wonach Brenner6 die Vorgänge um Brandt benutzt, um gegen die progressiven Kräfte in der IG Metall vorzugehen. Brenner habe unmittelbar nach der Freilassung Brandts im Geschäftsführenden Vorstand der IG Metall erklärt, dass er mit den ehemaligen KPD-Mitgliedern in der IG Metall »rücksichtslos aufräumen« werde. Das Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes Strohtmann7 habe selbst Befürchtungen, weil er frühere Warnungen, insbesondere eines gewissen [Name], vor Beyerlein nicht beachtet hatte. Von Strohtmann wurden in diesem Zusammenhang auch die Namen Dürrbeck,8 Bleicher9 und Schwab10 genannt. Bei einem Teil der progressiven Kräfte in der IG Metall sei eine gewisse Unsicherheit eingetreten. Offensichtlich ist das Hochspielen der Rolle von Beyerlein in diesem Zusammenhang zu sehen.
Auf der Pressekonferenz behandelte Brandt außerdem sehr ausführlich sein Verhalten in der Untersuchungshaft, während des Prozesses und in der Strafvollzugsanstalt Bautzen. Dabei hob er hervor, dass er ein Angebot von DDR-Seite, nach Abgabe einer sogenannten Reue-Erklärung in der DDR zu bleiben und seine Familie nachzuholen, abgelehnt habe. Er sei aufgrund der Erfahrungen mit seinem Bruder (angeblich in der SU ermordet)11 nicht den Weg der Aussageverweigerung gegangen. Er habe seine »physische Vernichtung« nicht provozieren wollen.
Von der Erklärung Brandts verdienen weiter seine Ausführungen über seine frühere Tätigkeit in der DDR Beachtung. Seine oppositionelle Einstellung gegen die Politik der DDR habe ihn von »Formen des Widerspruchs zu Methoden des Widerstandes« geführt. Er sei in der DDR ein »Atompazifist in Opposition« gewesen. Er habe nach Verständigungswegen zwischen den ausgeschlossenen nach Liberalisierung drängenden Kräften der SED und den Kräften in der SPD gesucht, die unter der Voraussetzung einer »Liberalisierung« in der DDR zur Fühlungnahme mit der SED und zur Verständigung bereit waren. Er betrachte deshalb auch seine Verurteilung als einen Racheakt wegen dieser von ihm unternommenen Versuche. Er sei 1958 nach Westdeutschland gegangen, weil er von der Parteikontrollkommission Schwierigkeiten erwartete, die nicht nur zum Parteiausschluss, sondern auch zu einer Verhaftung geführt hätten. Er, Brandt, sei jederzeit bereit, vor einem Gericht der DDR als Zeuge in einem Untersuchungsverfahren zur Aufklärung seines Falles aufzutreten. Er habe zu bedenken gegeben, dass seine »Entführung« unter Umständen ein Irrtum untergeordneter Stellen gewesen sein könne. Er wolle mit seinem Angebot den DDR-Behörden eine Brücke bauen.
Brandt führte weiter an, dass er aber schon damals nicht mit der Absicht nach Westdeutschland gekommen sei, um im Westen kalter Krieger zu werden und für die atomare Aufrüstung einzutreten, sondern um der »freien demokratischen Arbeiterbewegung« zu dienen. Er vertrete die Meinung, dass die im Westen bestehende »Freiheit gegen Einengung zu schützen« sei.
Er, Brandt, sehe nicht den sogenannten Menschenraub als Sensation an, sondern seine Freilassung zu seiner Familie und an seinen Arbeitsplatz nach Frankfurt. Er betrachte dies als eine »überraschende Geste Walter Ulbrichts«,12 die auf die »weltweite Solidarität«, seine eigenen Bemühungen (über die er noch nicht sprechen wolle) und auf die sich anbahnende Annäherung und Auflockerung des kalten Krieges zurückzuführen sei. Er wolle die auf beiden Seiten errichtete sogenannte Hass-Mauer mit abtragen helfen. Er denke dabei nicht nur an »politische Häftlinge« in der DDR, sondern »auch an so manchen politischen Häftling in der Bundesrepublik«.
Zu den Möglichkeiten einer Verständigung zwischen der SPD und SED hatte Brandt ausgeführt, dass der Weg der Verständigung zwischen der Sowjetunion und den USA auch zur Annäherung in der deutschen Frage führe. Ihm seien bei seiner Entlassung seitens der DDR-Organe keine Auflagen gemacht worden. Allerdings habe man ihm erklärt, dass er nach wie vor Bürger der DDR bleibe, den Gesetzen der DDR unterstehe und zur Rechenschaft gezogen werde, wenn er gegen diese Gesetze verstoße. Seine Entlassung habe Brandt als Vorspiel für größere Entlassungsmaßnahmen gewertet. Auf die Frage eines Journalisten, warum Brandt trotz seiner »bitteren Erfahrungen« immer noch von der DDR spreche, erwiderte Brandt, die DDR ist eine Realität.
Der Vorsitzende der IG Metall machte in der gleichen Pressekonferenz ausführliche Angaben über den von der westdeutschen Polizei gesuchten ehemaligen Gewerkschaftsfunktionär Beyerlein, wobei er u. a. hervorhob, dass Beyerlein von 1925 bis 1930 der NSDAP angehörte und von einem westlichen Geheimdienst nach 1945 in die KPD geschleust worden sei.
Brenner bemühte sich dabei »klarzustellen«, dass von einer »kommunistischen Unterwanderung« der IG Metall nicht die Rede sein könne. Die IG Metall werde mit den Kommunisten in ihren eigenen Reihen selbst fertig.
Auch Brenner bezeichnete die Freilassung Brandts als Vorspiel für weitere Entlassungen. Er habe der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die DDR damit einen kleinen Beitrag zur Entspannung leisten wollte, wobei jedoch noch niemand sagen könne, ob sich darauf eine neue Politik entwickeln werde und ob sich der »Druck auf die Bevölkerung« vermindere. Brenner versuchte dabei erneut herauszustellen, dass die vielen »Solidaritätsbeweise« für Brandt auf die DDR-Organe Eindruck gemacht hätten.
Brenner habe es als eine falsche Politik bezeichnet, einen langen Katalog von Forderungen an die DDR zu richten. Auch der Westen und insbesondere die Bonner Politik müssten in Bewegung kommen, wenn der kalte Krieg und die Spannungen abgebaut werden sollen.
In der Reaktion der Westpresse unmittelbar nach der Pressekonferenz war besonders auffallend, dass ihre Berichterstattung (auf den Innenseiten der Zeitungen) darauf konzentriert war, die sogenannte Entführung Brandts in den Mittelpunkt zu rücken und in einigen Fällen auch das »standhafte« Verhalten Brandts während der Nazizeit sowie seinen Widerstand gegen die SED-Politik.13
Seine in Richtung Verständigung zielenden Worte, seine wenn auch vorsichtige Kritik an den Verhältnissen in Westdeutschland und seine von früheren Pressedarstellungen abweichenden Ausführungen wurden von der überwiegenden Mehrheit der West-Blätter verschwiegen. In westlichen Rundfunkkommentaren wurde u. a. zum Ausdruck gebracht, dass nach dem Auftreten Brandts das Gesamtbild noch unklar sei und gewisse Vorgänge noch der präziseren und offeneren Erklärung bedürften.
Die Reaktion der Westpresse und des Westrundfunks blieb in den letzten Tagen im Wesentlichen auf die Berichterstattung über die Ermittlungen der Westberliner Politischen Polizei zur Aufklärung der »Entführung« usw. beschränkt. Dabei wurde vor allem das Verschwinden der »Ostagenten« bzw. der Hauptzeugen (Beyerlein, Familie Ast14/Steglitz, die »Bardamen«15 Eva Walter/Lichtenberg und Carmen Moser/Prenzlauer Berg) in den Vordergrund zu rücken versucht.
Wie von einer zuverlässigen Quelle berichtet wurde, werde Brandt weitgehend isoliert gehalten. Brandt wolle auf der nächsten Beiratstagung der IG Metall am 15.6. in Frankfurt/M. über seine Festnahme, über den Prozessverlauf und über seine Haftzeit ausführlich berichten. Von einer zuverlässigen Quelle wurde eingeschätzt, dass die SPD-Führung und vor allem Wehner16 die Situation in der IG Metall im Zusammenhang mit den Vorgängen um Brandt/Beyerlein auszunutzen versuchen, um größeren Einfluss auf die IG Metall zu gewinnen und unbequeme Funktionäre auszubooten. Brenner werde alles tun, um sich in der Öffentlichkeit nicht zu kompromittieren und deshalb auch mit ehemaligen KPD-Mitgliedern aufräumen. Die Konzessionsbereitschaft Brenners schließe auch ein, bis nach den nächsten Bundestagswahlen Streikkämpfe zu vermeiden.
Nach anderen internen Informationen hätten Vertreter des Westberliner SPD-Landesvorstandes »eingeschätzt«, dass die Freilassung Brandts ein Entgegenkommen der DDR gegenüber der IG Metall sei, wobei die DDR im Hinblick auf die Arbeit dieser Industriegewerkschaft spekulative Absichten verfolge. Andere führende Westberliner SPD-Funktionäre würden die Freilassung Brandts im Zusammenhang mit der »Liberalisierung« in der DDR und als Erfolg der »Protestbewegung« betrachten. Diese Funktionäre brachten weiter zum Ausdruck, dass die DDR-Presse propagandistisch »unklug« reagiere, weil ihre »lakonischen Mitteilungen« verschiedene Auslegungen zulassen würden.
Ein führender Funktionär der IG Metall und gleichzeitig der Jungsozialisten in Hessen erklärte, dass nach der Freilassung Brandts die »sozialistische« Jugend Westdeutschlands das Gespräch mit der Jugend der DDR wieder aufnehmen könne. Die Freilassung Brandts bezeichnete er als eine Entlastung im Hinblick auf die bevorstehenden Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten Tarif-Partnern. Andere Gewerkschaftsfunktionäre brachten ebenfalls zum Ausdruck, dass die DDR mit der Freilassung Brandts »Ballast losgeworden« sei.