Innerkirchliche Situation nach Gespräch Ulbricht – Mitzenheim
4. September 1964
Einzelinformation Nr. 723/64 über die innerkirchliche Situation nach dem Gespräch des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Walter Ulbricht, mit dem Evangelischen Landesbischof von Thüringen, Mitzenheim, auf der Wartburg
Nach vorliegenden Informationen zuverlässiger Quellen haben das Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Walter Ulbricht, und dem evangelischen Landesbischof von Thüringen, Mitzenheim,1 am 18. August 1964 auf der Wartburg2 und die Verbreitung und Veröffentlichung der Kanzelabkündigung3 des Landesbischofs Mitzenheim anlässlich des 50. bzw. 25. Jahrestages des Beginn des Ersten und Zweiten Weltkrieges vom 6.8.1964 zu folgender Situation innerhalb der evangelischen Kirchenleitungen der DDR geführt:
Die in der »Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR«4 bisher führenden Personen, der Vorsitzende der Konferenz Landesbischof Krummacher/Greifswald,5 sein Stellvertreter Bischof Noth/Dresden6 und der Verwalter des Bischofsamtes der Landeskirche Berlin-Brandenburg, Jacob/Cottbus,7 wurden durch das Gespräch auf der Wartburg und die Kanzelabkündigung von Bischof Mitzenheim völlig überrascht. Obwohl Bischof Krummacher sofort nach Bekanntwerden dieser Tatsachen mit allen Bischöfen in der DDR telefonisch in Verbindung trat, gelang es ihm nicht, eine einheitliche Position und ein einheitliches Handeln der übrigen Bischöfe in der DDR zu erreichen. (Bischof Krummacher schätzte auf der internen Besprechung seines Konsistoriums am 25.8.1964 ein, dass nur Landesbischof Noth/Dresden fest auf seiner Seite stehe. Bischof Mitzenheim dagegen wäre es gelungen, Bischof Jänicke/Magdeburg8 auf seine Position zu ziehen.)
Alle Bischöfe wären sich bei der gegenseitigen Konsultation darin einig gewesen, dass die theologische und politische Aussage der Kanzelabkündigung von Landesbischof Mitzenheim sowie der Inhalt des Gesprächs auf der Wartburg nicht anzufechten seien. (Selbst in der Leitung der katholischen Kirche wurde eingeschätzt, dass Landesbischof Mitzenheim einen Blick für die Perspektive besitze, was aber bisher unterschätzt wurde.)
Die internen Erklärungen von Bischof Krummacher und vom Verwalter des Bischofsamtes der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg Jacob, dass sie einer gemeinsamen Kanzelabkündigung in Form der von Landesbischof Mitzenheim veröffentlichten zugestimmt hätten, wenn er sich vorher mit ihnen beraten hätte, werden jedoch selbst in diesen beiden Kirchenleitungen als unglaubwürdig angesehen.
Die Auswirkungen des Auftretens von Bischof Mitzenheim auf die Kirchenleitungen in der DDR finden ihren sichtbaren Ausdruck auch in den unterschiedlichen kirchlichen Verlautbarungen der Bischöfe Krummacher, Jänicke, Noth und Jacob nach der Kanzelabkündigung von Bischof Mitzenheim.
Bischof Krummacher und Bischof Noth gaben zur Wiederkehr des Jahrestages des Ausbruchs des Ersten und Zweiten Weltkrieges lediglich theologische Anweisungen an ihre Geistlichen, ohne auf die politische Aussage der Kanzelabkündigungen der Bischöfe Mitzenheim und Jänicke einzugehen. Bischofsverwalter Jacob gab in einer Kirchenleitungssitzung am 27.8.1964 nur eine mündliche Weisung, anlässlich des Jahrestages in Predigten die Notwendigkeit zur Buße herauszustellen.
Nach dem Gespräch auf der Wartburg ist in den führenden Kirchenkreisen der DDR allgemein die Tendenz erkennbar, Überlegungen darüber anzustellen, wie der »Vorsprung« von Bischof Mitzenheim wieder eingeholt bzw. die eigene Position aufgewertet werden kann.
Im Konsistorium Greifswald wurde im Zusammenhang mit solchen Überlegungen eingeschätzt, dass Bischof Krummacher durch seine ständige zögernde Politik den Anschluss an die durch Bischof Mitzenheim ausgelöste Bewegung verpasst habe. Bischof Krummacher will aber trotzdem versuchen, eventuell anlässlich der bevorstehenden Einweihung der Erdölförderung in Grimmen ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrates zu führen. Bischof Jacob führte im internen Kreis ebenfalls Beratungen durch, wie er den »Vorsprung Mitzenheims ausgleichen« könne. Jacob äußerte sich im internen Kreis, dass auch er einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrates zustimmen würde und dafür nach einer passenden Gelegenheit suche. Er schätzte sich in diesem Zusammenhang als viel geeigneter für ein solches Gespräch ein. Er habe zwar nicht die Absicht, sich »einkaufen« zu lassen, mit ihm könne man jedoch über alle Fragen real sprechen und verhandeln. So würde er auch bei einem solchen Gespräch seine Meinung offen darüber darlegen, dass die Normalisierung des Reiseverkehrs zwischen beiden deutschen Staaten nicht nur von der Anerkennung der DDR durch Bonn abhänge, sondern dass dazu vielmehr z. B. die Erhöhung des Lebensstandards in der DDR notwendig sei, um das jetzt noch vorhandene Gefälle zwischen Ost und West auszugleichen. Das wäre nach seiner Ansicht auch die wichtigste Voraussetzung zur Beseitigung der Gefahr von Republikfluchten.
Wie Bischof Jacob bei dieser Gelegenheit weiter erklärte, habe er schon seit Anfang des Jahres 1964 ernsthafte Bemühungen unternommen, um mit Bischof Mitzenheim in zweiseitige Verhandlungen zu kommen. Es hätten bereits auch Aussprachen stattgefunden, aber diese müssten nun forciert werden. Er, Jacob, habe auch sofort nach Erhalt der Kanzelabkündigung von Bischof Mitzenheim diesem einen sehr positiven und zustimmenden Brief geschrieben. Er hätte sich jedoch gezwungen gesehen, nach der Veröffentlichung des Schreibens von Bischof Mitzenheim an die übrigen Bischöfe der DDR in der Presse diesem in einem zweiten Brief sein Befremden auszudrücken. Bischof Jacob brachte dabei zum Ausdruck, Mitzenheim könne sich nicht vorstellen, in welche Lage die anderen Bischöfe durch diese Veröffentlichung gekommen seien. Alle Verlautbarungen der anderen Bischöfe nach der Veröffentlichung des internen Schreibens von Bischof Mitzenheim an die Bischöfe müssten von der Öffentlichkeit als ein Nachtrab hinter Bischof Mitzenheim gewertet werden. Jacob gab dabei zu verstehen, dass er sich zurzeit überlege, welche Initiative er entwickeln könne, ohne in den Verruf zu kommen, Bischof Mitzenheim zu kopieren.
Jacob erwägt aus diesem Grunde in der westdeutschen Zeitschrift »Stern« einen Artikel zu veröffentlichen, in dem er
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die Legende vom Kirchenkampf in der DDR zerstören,
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die positiven Wandlungen innerhalb der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg darlegen und
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als Bischof der DDR die staatliche Anerkennung der DDR von Westdeutschland fordern will. (Jacob steht in entsprechenden Verhandlungen mit dem Mitarbeiter der Zeitschrift »Stern«, Leo.)
Seine Hauptsorge ist dabei, dass dieser Artikel nicht als Nachtrag des Wartburg-Gespräches gewertet wird, sondern die organischen Veränderungen in der DDR erkennen lasse. Dieser Schritt wäre nicht ganz originell, aber weil er öffentlich erfolgt, sicherlich von großer Wirkung.
Jacob erklärte weiter, er werde sich auch von den westlichen kirchlichen Stellen nicht davon abhalten lassen, Gespräche mit Bischof Mitzenheim und Bischof Jänicke zu suchen. Das wäre schon deshalb notwendig, weil seine Lage in Berlin-Brandenburg viel komplizierter als die eines anderen Bischofs sei und für ihn 1965 die Frage seiner Wiederwahl als Bischofs stehe. Offensichtlich aus diesen Erwägungen heraus nahm Jacob auch gegen die Predigt von Bischof Dibelius9 in Westberlin anlässlich des Jahrestages des Beginns der Weltkriege Stellung. Jacob bezeichnete diese Rede als eine schamlose Kriegspredigt.
Zur Haltung von Landesbischof Mitzenheim wurde dem MfS bekannt, dass dieser im engeren Kreis seiner Mitarbeiter zum Ausdruck gebracht hat, die Reaktion der anderen Bischöfe der DDR und vor allen Dingen die Reaktion von Bischof Jänicke in Magdeburg habe ihm die Bestätigung gegeben, dass sein Weg der richtige ist. Mitzenheim ist der Meinung, dass er einen großen Durchbruch innerhalb der evangelischen Kirche in der DDR erreicht habe. Davon zeugten auch die vielen zustimmenden Erklärungen, die er im Ergebnis der Veröffentlichung des Wartburg-Gespräches von Geistlichen erhalten habe. Die vereinzelten anonymen Schriften, in denen er wegen des Wartburg-Gespräches verleumdet werde, könnten deshalb keineswegs seine positive Haltung beeinflussen.
Am 25.8.1964 kam es zu einem Treffen von Mitzenheim und Jänicke. Bischof Jänicke informierte dabei Mitzenheim über den Brief, den er an Bundeskanzler Erhard10 gesandt hat (siehe unsere Einzelinformation Nr. 709/64 vom 30.8.1964). Bischof Mitzenheim war mit dem Inhalt des Briefes voll einverstanden. Beide Bischöfe legten an diesem Tag ihr gemeinsames Auftreten am 30.8.1964 zum Friedensgottesdienst in der Herderkirche in Weimar fest. Während dieses Gespräches machte Bischof Jänicke Bischof Mitzenheim Vorhaltung darüber, dass er den internen Brief an die Bischöfe habe veröffentlichen lassen. Bischof Mitzenheim erklärte daraufhin, dass diese Veröffentlichung ohne sein Wissen geschehen sei. Im weiteren Verlauf der Zusammenkunft informierte Bischof Mitzenheim Bischof Jänicke über das Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrates auf der Wartburg und schilderte dabei besonders seine eigenen Eindrücke. Besondere Bedeutung haben für ihn, Mitzenheim, die Darlegungen gehabt, dass alle Menschen zum Sozialismus kommen, auch die christlichen Menschen aufgrund ihrer humanistischen11 Ideale und ihrer Friedensliebe. Das habe ihm das wichtigste Moment des Gespräches gegeben. Nach seiner Meinung ist damit ausgesprochen worden, dass die christlichen Bürger nicht Menschen zweiter Klasse seien, sondern in die große Bewegung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR eingereiht wurden.
Die Anregung des Staatsratsvorsitzenden, ein hoher kirchlicher Würdenträger müsste auch im Präsidium des Nationalrates der Nationalen Front die Gleichstellung der Christen in unserer Gesellschaft repräsentieren, hat bei Bischof Mitzenheim ein sehr positives Echo ausgelöst. Er hat jedoch Bedenken, dass dann, wenn er Mitglied des Präsidiums des Nationalrates wäre, seine weiteren öffentlichen kirchlichen Verlautbarungen als »politisch abgestempelt« gelten könnten. In der Auswertung des Wartburg-Gespräches mit seinen engsten Mitarbeitern ist Bischof Mitzenheim auf die von ihm selbst vorgetragenen Wünsche der Kirche – Reisewünsche älterer DDR-Bürger, die nicht nach Westdeutschland übersiedeln wollen, und die sogenannten Ost-West-Heiraten – nur am Rande eingegangen. Er erwähnte lediglich, beim gemeinsamen Mittagessen diese beiden Fragen vorgetragen zu haben. Bischof Mitzenheim war mit der vom Vorsitzenden des Staatsrates gegebenen Antwort zufrieden und machte das nicht zu einem besonderen Punkt der Auswertung. Auch in den anderen Kirchenleitungen wurden diese Fragen in Auswertung des Wartburg-Gespräches bisher nicht behandelt.
Dagegen hob Bischof Mitzenheim in der Auswertung des Wartburg-Gespräches hervor, dass die Vermittlung dieses Gespräches nicht über die CDU, sondern über die Kanzlei des Staatsratsvorsitzenden direkt erfolgt sei. Nach seiner Meinung wäre ein Gespräch auf dieser Ebene wirkungsvoller.
Generalsuperintendent Jacob schätzt diese Lösung – Zustandekommen des Gespräches ohne Mitwirkung der CDU – als sehr wichtig ein. Nach seiner Meinung löse man sich damit offensichtlich langsam von der Vorstellung, dass die CDU auch für die Kirche spreche. Darin sehe er einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Gespräch auf der Wartburg und dem Gespräch mit Prof. Emil Fuchs,12 das von der CDU arrangiert und durch Unterschriftensammlung vorbereitet worden sei.
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