Olympia-Ausscheidungen und Fragen des gesamtdeutschen Sportverkehrs
19. August 1964
Einzelinformation Nr. 668/64 über die Olympia-Ausscheidungen und Fragen des gesamtdeutschen Sportverkehrs
Es liegen zuverlässig eine Reihe von Angaben aus führenden westdeutschen Sport- bzw. Parteikreisen vor. Sie betreffen die Olympia-Ausscheidungen, insbesondere die bevorstehenden Leichtathletik-Wettkämpfe in Westberlin und Jena, sowie Fragen einer Aufhebung des Düsseldorfer Beschlusses vom 16.8.1961 über den gesamtdeutschen Sportverkehr.1
Aus Kreisen des Sportbeirats beim SPD-Parteivorstand wurde bekannt, dass der Vorstand des westdeutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) bereits im vorigen Monat bei einer Beratung und Auswertung der bisherigen Olympia-Ausscheidungen die Aufgabe stellte, alle Kräfte für die bevorstehenden Ausscheidungen in Westberlin und Jena zu sammeln, um möglichst viele westdeutsche Leichtathleten in die sogenannte gemeinsame deutsche Mannschaft zu bringen. Besonders durch die Erfolge der Sprinter der DDR sei der DLV rechtzeitig gewarnt worden.
Die genannten SPD-Kreise schätzten ein, dass für die DDR trotz ihrer bisherigen günstigen Positionen die Ausscheidungen in Westberlin sehr schwer würden. Die Atmosphäre in Westberlin sei stark angeheizt worden. Der DLV-Vorstand habe Maßnahmen eingeleitet, um Zwischenfälle zu vermeiden, die den Ablauf der Wettkämpfe stören könnten. So sei beispielsweise auch ein vorgesehenes Treffen ehemaliger DDR-Sportler in Westberlin abgesagt worden.
Dennoch müsse die DDR besonderes Augenmerk auf ihre jungen Sportler richten, die zum ersten Mal nach Westberlin kämen. Es gebe eine Reihe von westdeutschen Leichtathletik-Funktionären, auf deren mögliche Versuche, mit Sportlern der DDR »Kontakte« anzuknüpfen, besonders geachtet werden müsse. Als Beispiel führten die erwähnten SPD-Kreise die Vertreter von Bayer/Leverkusen (Cheftrainer Bertel Sumser2 und seine Assistenz Rolf Bäslack3) an, die vor allem »Interesse« für die Sprinter aus Leipzig zeigen könnten.
Für die Ausscheidungen in Jena habe der DLV seine Vereine aufgefordert, die westdeutschen Aktiven durch Entsendung von Delegationen »moralisch« zu unterstützen und gleichzeitig »menschliche Begegnungen« mit Sportlern der DDR zu suchen. Der DLV-Geschäftsführer sei an das Westberliner Reisebüro »Helios« herangetreten, eine Gesellschaftsreise für westdeutsche Leichtathleten als Zuschauer nach Jena vom 28. bis 30.8.[1964] zu organisieren.
Im Zusammenhang damit wurde bekannt, dass Minister Lemmer4 anlässlich der westdeutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Westberlin eine Unterredung mit DLV-Präsident Dr. Danz5 hatte. Lemmer habe dabei den DLV für [seine] gute Arbeit und besonders für sein Beharren auf [die] Durchführung der Meisterschaften und der Ausscheidungskämpfe in Westberlin gelobt und erklärt, es sei gerade mithilfe der Ausscheidungskämpfe möglich, vor allem junge Sportler der DDR zu beeinflussen und auf sie eine »emotionale« Wirkung zu erzielen. Dr. Danz habe dazu bemerkt, dass der DLV zwar die »menschlichen Begegnungen« der Sportler begrüße, aber keinen Sportler der DDR auffordern könne, sich »frei« (für die Bundesrepublik) zu entscheiden.
Zum bisherigen Abschneiden der westdeutschen Sportler in den Olympia-Ausscheidungen äußerten führende Kreise der westdeutschen Vereinigung der Freunde der Leichtathletik,6 die der FDP nahestehen, die Ursachen dafür lägen nicht in der Einschätzung von Daume,7 dass der DSB und das westdeutsche NOK keine Weisungsbefugnis hätten. Der Leistungssport in der Bundesrepublik müsse eine entsprechende staatliche Anerkennung finden. Auch eine verstärkte Einflussnahme des Ministeriums »für gesamtdeutsche Fragen« ändere nichts an den Grundproblemen. Der westdeutsche Sport benötige vor allem eine stärkere ökonomische Unterstützung und eine breitere Massenbasis. Ein Prozent der westdeutschen Rüstungskosten würde ausreichen, um dem westdeutschen Sport für die Olympischen Spiele 1968 »eine solidere Grundlage« zu geben.
Die genannten Kreise wandten sich gegen die ständigen Störungen und die sogenannten Proteste durch die westdeutsche Seite bei den bisherigen Ausscheidungen, die keine gute Visitenkarte für den westdeutschen Sport gewesen seien. Durch unsachliche Polemiken und Kritiken der westdeutschen Presse seien die noch ausstehenden Ausscheidungen wie beispielsweise in der Leichtathletik zu einer reinen Prestigefrage geworden. Dadurch seien bereits die Nerven einiger westdeutscher Leichtathleten so stark angegriffen worden, dass sie zu einer maximalen Leistung nicht mehr fähig seien.
Die genannten Kreise teilten auch mit, dass Daume anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für Ritter von Halt8 in München mit IOC-Präsident Brundage9 zusammengetroffen und mit ihm Probleme der sogenannten gemeinsamen deutschen Mannschaft aus der Sicht seiner kürzlich in Moskau geführten Gespräche erörtert habe. Im Zusammenhang damit wurde bekannt, dass Daume in Moskau die Angelegenheit der Verurteilung der ehemaligen Berliner Dynamo-Sportlerin Schneider10 zur Sprache gebracht und gebeten habe, sowjetische Sportfunktionäre sollten sich beim DTSB für eine »Überprüfung« des Urteils einsetzen.
Zur Frage des gesamtdeutschen Sportverkehrs wurde aus Kreisen des Sportbeirats beim SPD-Parteivorstand bekannt, dass dieses Gremium ungefähr vier Wochen vor den Olympischen Spielen in Tokio11 mit einer Grundsatzerklärung dazu an die Öffentlichkeit treten wolle. Auf einer Aussprache zwischen Vertretern des Sportbeirats, den SPD-Innenministern von vier Bundesländern und Vertretern des Westberliner Senats im Juli dieses Jahres in Westberlin seien folgende Vorschläge diskutiert und präzisiert worden:
- 1.
Der Sportverkehr zwischen Westdeutschland und der DDR sei wieder aufzunehmen. Dabei sei die Frage einer Einbeziehung des Westberliner Sports nicht als unabdingbar hinzustellen.
- 2.
Die »Verfassungsfeindlichkeit« des DTSB in Westdeutschland sei für ungültig zu erklären, und die entsprechende Strafrechtsnovelle der Bundesrepublik sei zu überprüfen, um einen reibungslosen Sportverkehr von Verein zu Verein sicherzustellen.
Nach Auffassung der Kreise des Sportbeirats zeige im Parteivorstand vor allem Willy Brandt12 ein größeres Verständnis für die Probleme des gesamtdeutschen Sportverkehrs. Wegen der »gemeinsamen menschlichen Berührungspunkte« plädiere besonders der hessische Ministerpräsident Zinn13 für eine Aufhebung des Düsseldorfer Beschlusses. Der Frankfurter SPD-Funktionär [Name 1], ein persönlicher Freund von Zinn, sei einer der Initiatoren der geplanten Initiative des Sportbeirats.
Der Sportbeirat selbst sei der Meinung, dass der Düsseldorfer Beschluss unklug war und in seinen Auswirkungen nur der DDR zugutegekommen ist. Die Position des DSB in der Frage des gesamtdeutschen Sportverkehrs sei allerdings sehr stark. Deshalb müsse vor allem erreicht werden, dass die Forderung nach Einbeziehung des Westberliner Sports in den Hintergrund tritt. Nur so könne der westdeutsche Sport »wieder in die Offensive kommen«.
Der DSB-Funktionär [Name 2] habe in einer Unterredung mit Vertretern des SPD-Sportbeirats die Konzeption des DSB gegen eine Wiederaufnahme des gesamtdeutschen Sportverkehrs zu rechtfertigen versucht und behauptet, die Verantwortung für den Düsseldorfer Beschluss trage zu einem wesentlichen Teil Willy Brandt. Er sei es gewesen, der nach dem 13.8.1961 an die CDU appelliert habe, sogenannte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Kreise des Sportbreirats schätzten ein, dass die CDU jetzt versuche, Brandt im Hinblick auf die Bundestagswahlen die Schuld am Abbruch des Sportverkehrs in die Schuhe zu schieben.
Führende Kreise des westdeutschen Verbandes für Modernen Fünfkampf äußerten sich ebenfalls zur Frage einer Aufhebung des Düsseldorfer Beschlusses. Sie betonten, dass sich Westdeutschland dadurch selbst den schlechtesten Dienst erwiesen, alle Möglichkeiten von Kontakten verbaut und sich den »Schwarzen Peter« zugespielt habe. Zur Haltung von Daume äußerten diese Kreise, dass er selbst einsehe, wie unsinnig dieser Beschluss war, selbst aber ihn nicht aufheben könne, ohne sein Gesicht zu verlieren. Es biete sich vielleicht dahingehend ein Ausweg an, dass Daume vorübergehend zurücktritt, sein Nachfolger die notwendigen Maßnahmen zur Wiederaufnahme des Sportverkehrs ergreift und Daume dann seine Funktion wieder übernimmt und die neue Situation akzeptiert. (Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Präsident des westdeutschen Verbandes für Modernen Fünfkampf selbst auf die Funktion Daumes spekuliert.) In den Äußerungen der genannten Kreise zeigte sich auch das Bestreben, vor allem deshalb Stellung gegen den Düsseldorfer Beschluss zu beziehen, um der DDR vor der Öffentlichkeit den sogenannten Schwarzen Peter zuzuschieben, indem sie auf Abwerbung von DDR-Sportlern bei Wiederherstellung des Sportverkehrs spekulieren, was, nach ihrer Auffassung, die DDR dazu bewegen könnte, ihrerseits den Sportverkehr zu unterbinden.
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