Protestlosungen und -Anrufe von Oberschülern
3. April 1964
Einzelinformation Nr. 272/64 über einige von Oberschülern durchgeführte feindliche und provokatorische Handlungen
Durch das MfS wurden in Berlin und Kleinmachnow, [Bezirk] Potsdam Vorkommnisse aufgeklärt, wo Oberschüler Hetzlosungen gegen führende Parteifunktionäre geschmiert und anonyme Telefonanrufe an verschiedene Personen organisiert hatten.
Auswertung an Schulen erfolgte.1
Zu den Vorkommnissen im Einzelnen
1. Am 17.3.1964 wurde im Treppenhaus des 2. Stocks der 10. Oberschule in Berlin-Pankow eine Hetzlosung festgestellt, deren Inhalt – bezugnehmend auf die Ermordung des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Kennedy2 – Morddrohungen gegen den Genossen Walter Ulbricht beinhaltete. Die Hetzparole war mittels eines spitzen Gegenstandes in die Wand des Treppenflures eingeritzt worden. Durch Ermittlungen des MfS wurde als Täter der Oberschüler [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1949 in Berlin, wohnhaft in Berlin-Pankow, [Straße, Nr.], ermittelt. [Vorname Name 1], ein Schüler mit politisch negativer Einstellung, hatte u. a. Mitschülern gegenüber sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Hetzparole nicht mit schwarzer Farbe geschmiert worden sei, da diese schwieriger zu entfernen wäre. Es wäre nach seinen Äußerungen auch richtiger gewesen, noch »Heil Hitler« unter die Hetzlosung zu setzen.
Während einer Befragung durch das MfS gab [Name 1] an, mit dem Bestehen der Staatsgrenze West nicht einverstanden zu sein; die Schließung der Grenze in Berlin wäre seiner Meinung nach ungerechtfertigt auf Veranlassung von Genossen Walter Ulbricht erfolgt. (Vor dem 13.8.1961 hatte sich [Name 1] wiederholt in Westberlin aufgehalten, sich Filme angesehen und in Westberliner Warenhäusern kleinere Diebstähle ausgeführt.)
Die schulischen Leistungen des [Name 1] sind äußerst ungenügend, er wurde zweimal nicht versetzt. Er ist verärgert, dass ihm ein Übersiedeln nach Westberlin durch das Bestehen der Staatsgrenze nicht möglich ist. Durch eine eventuelle Republikflucht beabsichtigte er dem weiteren Schulbesuch im demokratischen Berlin aus dem Wege zu gehen. Für eine gemeinsame Republikflucht versuchte er einen weiteren ihm bekannten Oberschüler zu gewinnen. Dadurch begünstigt, dass [Name 1] zwei Jahre älter als seine Klassenkameraden ist, gelang es ihm, größeren Einfluss unter seinen Mitschülern zu erreichen. Die Eltern des [Name 1] nehmen auf die politische Entwicklung ihres Sohnes keinerlei Einfluss, obwohl die häuslichen Verhältnisse der Eltern geordnet sind und beide Teile ihrer Arbeit nachgehen.
2. Am 27.2.1964 wurde in der 24. Oberschule in Berlin-Lichtenberg, Rummelsburger Straße, Klasse 10b, während des Staatsbürgerkundeunterrichts (Unterrichtsthema: Sozialistische Moral, »Was ist ein Kollektiv?« durch die Lehrerin festgestellt, dass ein beschriebener Zettel unter den Schülern herumgereicht wurde. Ihre Feststellungen ergaben, dass die Niederschrift auf dem Zettel starke Verleumdungen und eine hetzerische Auslegung des Begriffs Kollektiv beinhaltete. Der Täter verstand danach unter dem Begriff des Kollektivs »Bandengeist«, der imstande ist, jemanden »umzubringen«. In diesem Zusammenhang wurden Morddrohungen gegen den Genossen Walter Ulbricht ausgesprochen.
Als Täter wurde die Schülerin der Klasse 10b, [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1947 in Berlin, wohnhaft in Berlin-Friedrichsfelde, [Straße, Nr.], ermittelt. In einer Befragung durch das MfS brachte die [Name 2] u. a. zum Ausdruck, die Niederschrift sei aus »Langeweile« und »gedankenlos« entstanden. Gleichzeitig erklärte sie aber auch, mit der »Mauer« nicht einverstanden zu sein. Sie lebe »beengt«, schuld daran sei Genosse Walter Ulbricht, der für die Schaffung der Staatsgrenze Berlin verantwortlich zeichne. Die Morddrohungen gegen Genossen Walter Ulbricht seien aus dieser Einstellung und in Erinnerung an die Mordtat an Kennedy entstanden. Die [Name 2] wird als durchschnittliche Schülerin, die weder in den schulischen Aufgaben noch in gesellschaftlicher Hinsicht besonders in Erscheinung tritt, eingeschätzt. Im Elternhaus werden mit der [Name 2, Vorname], – obwohl beide Elternteile berufstätig sind und der Vater mehrmals als Brigadier und Aktivist ausgezeichnet wurde sowie als politisch zuverlässig gilt – keine politischen Gespräche geführt. Die Familie hört laufend Westsender und Westfernsehen.
3. Am 2. bzw. 3.3.1964 erhielt die Familie des Schauspielers Herbert Köfer,3 wohnhaft in Kleinmachnow, [Bezirk] Potsdam bzw. deren Tochter [Vorname 1] zwei anonyme Anrufe, welche diesen Personenkreis zunächst sehr beunruhigte. Im ersten anonymen Telefonanruf an die Tochter [Vorname 1] meldete sich ein Peter Wurm, welcher der [Vorname 1] im Auftrage der Humboldt-Universität – an der sich [Vorname 1] um ein Studium beworben hatte – Zusagen im Zusammenhang mit ihrem Studienantrag unterbreitete und versprach, sich für ihre Studienwünsche zu verwenden.
Kurze Zeit darauf kam der zweite Telefonanruf für [Vorname 1] Köfer, wobei sich der Anrufer mit Dr. Donnerblech meldete und mitteilte, das vorherige Gespräch auf Band aufgenommen zu haben. Nach einem Knacken in der Leitung des Apparates wurde das Band eingeschaltet und die Bandaufnahme des Gesprächs zwischen [Vorname 1] und dem angeblichen Peter Wurm abgespielt. Die Mutter der [Vorname 1] überzeugte sich von der Richtigkeit der Angaben ihrer Tochter.
Nach diesem Vorkommnis zeigte sich das Ehepaar Köfer sehr empört und vertrat die Meinung, ihr Telefonapparat werde abgehört, wobei Herbert Köfer noch anführte, auch die Schauspielerin Irene Korb4 habe vor einigen Monaten ein ähnliches Gespräch geführt, während dem gleichfalls eine Tonbandaufnahme ihrer früheren Gespräche abgespielt worden sei.
Die Untersuchungen durch das MfS ergaben, dass es sich bei den Tätern um Mitschüler der [Vorname 1] Köfer aus der erweiterten Oberschule Kleinmachnow, [Bezirk] Potsdam, Klasse 12b/I handelt. Die Oberschüler [Vorname Name 3], [Vorname Name 4], [Vorname Name 5], [Vorname Name 6] und [Vorname Name 7] hatten zu der von der Familie Köfer angegebenen Zeit eine Zusammenkunft in der Wohnung von [Name 3], angeblich, um Schulaufgaben zu erledigen. [Name 3] nahm diese Zusammenkunft zum Anlass, das ihm von seinem Vater geschenkte Tonband »Smaragd« und die von ihm selbst gebastelte Hörmuschel, die es ermöglicht, Telefongespräche auf das Tonband zu übertragen, vorzuführen. Zu diesem Zweck rief [Name 3] die [Vorname 1] Köfer an und meldete sich als Peter Wurm. Die Gespräche liefen so ab, wie von der Familie Köfer geschildert. Nach Meinung des [Name 3] als Initiator der Gespräche und der übrigen Oberschüler sei angeblich am Schluss des Gesprächs ersichtlich gewesen, dass es sich um einen »Scherz« handele. [Vorname 1] Köfer und ihre Mutter konnten nach ihren Aussagen jedoch aus dem Inhalt der Gespräche nicht entnehmen, dass es sich um einen Scherz handeln sollte.
Ähnliche Gespräche wurden von dem gleichen Kreis der Oberschüler am selben Tage mit drei weiteren Mitschülern bzw. Mitschülerinnen geführt und ebenfalls auf Band aufgenommen. Außerdem wurden nach Angaben der Oberschüler am gleichen Tage wahllos einige Teilnehmer – die Telefonnummern wurden aus dem Fernsprechverzeichnis ersehen – angerufen und unter falschem Namen mit diesen Gespräche geführt. Der Inhalt dieser Gespräche bezog sich auf Mitteilungen bzw. Aufforderungen seitens der Oberschüler, angeblich von Familienangehörigen des Gesprächspartners bestellte Möbel, Bäume oder andere Gegenstände von bestimmten Geschäften abzuholen. An die Namen der betreffenden Teilnehmer konnten sich die Jugendlichen angeblich nicht mehr erinnern, bis auf einen Anruf an die Tochter des Komponisten Neef,5 die sich aber nicht gemeldet hatte.
Bei dem Initiator der anonymen Telefonanrufe [Vorname Name 3] handelt es sich um den FDJ-Sekretär der Klasse 12b/I, der nach Angaben des Direktors der Oberschule schwierigsten Klasse. [Name 3] trat in der mit ihm geführten Aussprache sehr überheblich auf und leugnete anfänglich hartnäckig. Aufgrund seiner Haltung konnte bisher nicht geklärt werden, inwieweit seinen Handlungen eine politische Zielsetzung zugrunde lag.
Auf Befragen teilte [Name 3] mit, die Bänder mit den betreffenden Gesprächen bereits gelöscht und sämtliche Bänder mit klassischer Musik bespielt zu haben. Das Abspielen der in der Wohnung des [Name 3] vorgefundenen vier Tonbänder ergab, dass sämtliche Bänder ausschließlich mit Westschlagern – Originalaufnahmen von Westsendern – bespielt waren. Am Ende des einen Bandes war ein Teil westlicher Nachrichten aufgenommen worden.
4. In einem weiteren Falle versuchten zwei Oberschüler die Staatsgrenze Berlin in provokatorischer Weise illegal zu überschreiten. Am 4.4.1964, gegen 15.15 Uhr, wurden an der Staatsgrenze nach Westberlin im Raum Königs Wusterhausen (1. Kompanie, 4. Brigade) die beiden Oberschüler [Name 8, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1947 in Berlin, wohnhaft in Dahlewitz, [Straße, Nr.], und [Name 9, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1949 in Berlin, wohnhaft in Berlin-Friedrichsfelde, [Straße, Nr.], von der Kontrollstreife der NVA/Grenze festgenommen, da sich beide Jugendliche unberechtigt in diesem Gebiet aufhielten.
Die beiden Oberschüler waren im Besitz eines umgebauten z. T. verrosteten Laufes eines KK-Gewehrs, mit dem sie in der Lage gewesen wären, nach manueller Herausnahme der Patrone jeweils einen Schuss abzugeben. Außerdem trugen sie 47 Schuss Munition für KK-Gewehr, zwei Zangen und eine Drahtschere bei sich. Beide gaben nach Befragen zu, die Absicht gehabt zu haben, bei Einbruch der Dunkelheit einen Grenzdurchbruch durchführen und erforderlichenfalls die mitgeführte Schusswaffe einsetzen zu wollen. Bei den Jugendlichen handelt es sich um Schüler der bereits im Punkt 2 (Vorkommnis mit der [Name 2, Vorname]) genannten 24. Oberschule in Berlin-Lichtenberg. [Name 8] und [Name 9] sind bereits durch kriminelle Delikte in Erscheinung getreten (Handel mit Westzigaretten; Geld- bzw. Zigarettendiebstähle). [Name 8], der Initiator des versuchten Grenzdurchbruchs, erreicht in der Schule nur mangelhafte Ergebnisse und es bestand die Möglichkeit, dass er den Abschluss der 10. Klasse nicht erreicht. Durch eine Republikflucht wollte er einem weiteren Schulbesuch aus dem Wege gehen. [Name 8] wird durch das Elternhaus negativ und im westlichen Sinne beeinflusst. Seine Eltern dulden ein ständiges Abhören der Westsender. Sein Vater ist ehemaliger Grenzgänger6 und wegen Staatsverleumdung vorbestraft. Er unterstützt die negative Einstellung seines Sohnes. [Name 9] ist weitgehendst von dem älteren [Name 8] beeinflusst worden. Seine schulischen Leistungen sind ebenfalls mangelhaft. Bei seinem Vater handelt es sich um den parteilosen stellvertretenden Produktionsleiter des VEB Ausbau Berlin. [Name 8] und [Name 9] verständigten von ihrem Vorhaben die Mitschülerin [Name 10], wohnhaft Berlin-Friedrichsfelde, [Straße, Nr.] und beauftragten sie, erst am 6.4.1964 die Schüler der 24. Oberschule von ihrem Grenzdurchbruch zu unterrichten. (Weitere Untersuchungen dazu werden geführt.)
Nach Bekanntwerden der Vorkommnisse mit den Oberschülern wurden in Verbindung mit den örtlichen Organen, insbesondere den Schulleitungen, entsprechende Maßnahmen zur Auswertung mit den Eltern und unter den Schülern der betreffenden Schulen eingeleitet.
[Vorname Name 1] wurde in Auswertung durch die Abteilung Volksbildung während einer Elternversammlung von der Teilnahme an der Jugendweihe ausgeschlossen. Durch die Abteilung K der VPI Berlin-Pankow läuft ferner gegen ihn ein E-Verfahren.
Über das Vorkommnis mit der [Vorname Name 2] wurde in einer Elternbeiratssitzung und in einer Klassen-Elternversammlung beraten, wobei von den Eltern die Zustimmung gegeben wurde, [Vorname Name 2] von der Oberschule zu verweisen. Auf Antrag des Schuldirektors bei der zuständigen VP-Dienststelle wird gegen [Vorname Name 2] ein E-Verfahren eingeleitet.
Über die provokatorischen Handlungen des [Vorname Name 3] wurden im Leitungskollektiv der Erweiterten Oberschule Kleinmachnow sowie im Elternaktiv Aussprachen und eine entsprechende Auswertung durchgeführt. Eine weitere Auswertung soll vor dem Schülerkollektiv der betreffenden Schule erfolgen.
Gegen [Vorname Name 8] wurde, da es sich um den Initiator des versuchten Grenzdurchbruchs handelt, von der Abteilung K des VPKA Königs Wusterhausen ein Haftbefehl erwirkt, [Vorname Name 9] wurde nach Hause entlassen. Von der Schulleitung werden zurzeit noch Beratungen über die Auswertung des Vorkommisses vor dem Elternaktiv bzw. vor den Schülern der Oberschule geführt, mit dem Ziel, beide von der Schule zu entfernen.