Selbstmord eines Krananbinders des TRO Berlin
3. April 1964
Einzelinformation Nr. 271/64 über den Selbstmord des Krananbinders [Name 1] vom VEB TRO »Karl Liebknecht« Berlin
Am 23.3.1964 wurde im VEB TRO »Karl Liebknecht« in der Abteilung Großtrafobau festgestellt, dass sich in einem Ölkühler eines Maschinenumspanners, der zur Lieferung an das Kraftwerk Lübbenau bereitgestellt war, Metallspäne befanden. Da dadurch bei Inbetriebnahme des Trafos ein Defekt (elektrischer Kurzschluss in der Spule) eintreten konnte und der Verdacht einer feindlichen Handlung gegeben war, wurden sofort entsprechende Maßnahmen zur Aufklärung dieses Vorkommnisses gemeinsam von dem zuständigen Mitarbeiter der Abteilung K der VPI Köpenick und dem Betriebsmitarbeiter des MfS in Zusammenarbeit mit leitenden Ingenieuren des VEB TRO veranlasst. Unter anderem machte es sich notwendig, auch die anderen bereits montierten Ölkühler an diesem Maschinenumspanner abzubauen, um zu überprüfen, ob in ihnen ebenfalls Metallspäne oder andere Fremdkörper enthalten sind.
Zur Durchführung dieser Arbeiten erhielt am 26.3.1964 der Krananbinder [Name 1] vom Brigadier [Name 2] den Auftrag, den vierten Ölkühler mithilfe des Hochkranes vom Trafo abzuheben und einige Meter entfernt in der Halle abzustellen. Dabei stieß der Boden des Ölkühlers an einen Rohranschluss der Ölumlaufleitung, wodurch der Durchlassschieber abgerissen wurde und 27 t Öl in die Halle liefen. (Sachschaden durch Ölverlust und zusätzliche Montagearbeiten ca. 5 000 DM.)
Zur Klärung dieses erneuten Vorkommnisses wurden der Krananbinder [Name 1] und der Kranführer [Name 3] zur informatorischen Befragung ins Zimmer der Abteilung K im VEB TRO bestellt. Dort erklärte [Name 1], dass er im Mai 1961 im VEB TRO eine Tätigkeit als Transportarbeiter aufnahm und kurze Zeit danach als Anbinder eingesetzt wurde. Nachdem er drei Monate gearbeitet hatte, gab er von selbst diese Beschäftigung auf, da ihm die Verantwortung zu groß war. Er hatte immer Angst davor, dass bei den komplizierten Transportarbeiten im Großtrafobau etwas passieren könnte. Mitte 1963 wurde er dann trotzdem wieder als Krananbinder eingesetzt. Zum Vorkommnis selbst erklärte [Name 1], dass er am selben Tag vom Brigadier [Name 2] den Auftrag zum Abheben des Kühlers bekam. [Name 2] hatte bereits vorher die Schrauben der Verbindungsstücke gelöst. Nachdem [Name 1] die Seile am Ölkühler befestigt hatte, gab er dem Kranfahrer ein Zeichen zum kurzen Anheben des Ölkühlers. Hierbei hockte er vor dem Kühler, um sich zu überzeugen, ob das Anheben ausreicht. In diesem Moment habe [Name 1] eine größere Menge Öl ins Gesicht bekommen, konnte im ersten Augenblick aber nicht feststellen, wo dieses herkam. Auf Befragen gab [Name 1] an, dass er den Kühler nicht wie erforderlich festgehalten hat, um ihn beim Anheben nach rechts wegzudrücken. Dadurch wurde der Schieberflansch abgebrochen. Gleichzeitig brachte [Name 1] zum Ausdruck, dass er nicht ganz bei der Sache war und leichtsinnig gehandelt hat. Es war darüber verärgert, dass er bei einem großen Arbeitsanfall allein als Anbinder in dieser Schicht im Großtrafobau arbeiten musste, obwohl seines Wissens in der Nachtschicht bei bedeutend geringerem Arbeitsanfall drei Anbinder anwesend waren.
Die Befragung wurde von dem Mitarbeiter der Abteilung K Leutnant [Name 4] und dem Mitarbeiter des MfS im Betrieb Leutnant [Name 5] durchgeführt, ohne dass sich der Mitarbeiter des MfS als solcher zu erkennen gab. Es erscheint auch nahezu ausgeschlossen, dass [Name 1] und [Name 3] den Mitarbeiter des MfS von der Person her irgendwie kannten. [Name 1] und [Name 3] wurden keinerlei Vorhalte gemacht. [Name 1] gegenüber wurde offen erklärt, dass es sich um eine grundsätzliche Klärung der unbefriedigenden Zustände im Großtrafobau handele und es nicht darum gehe, ihn wegen des Schadens zur Verantwortung zu ziehen. Abschließend wurde [Name 1] darauf hingewiesen, dass man ihn nach den Osterfeiertagen möglicherweise noch einmal befragen werde. Die Befragung dauerte ca. 1¼ Stunde [Name 1] zeigte in dem Gespräch keinerlei Anzeichen einer Erregung. Auch als [Name 1] anschließend mit seinem Meister sprach, erklärte er, es sei zu dem Vorkommnis befragt worden, etwas Besonderes hätte es aber nicht gegeben.
Wie am 31.3.1964 durch die VPI Lichtenberg bekannt wurde, hat dieser [Name 1] am 31.3.1964 in der elterlichen Wohnung durch Leuchtgas Selbstmord verübt. [Name 1] hinterließ einen an seine Eltern gerichteten Abschiedsbrief, der unter dem Gesichtspunkt der weiteren Aufklärung des Falles sichergestellt wurde. Der Inhalt des Briefes ist weder den Eltern noch im Betrieb bekannt. In diesem Brief führte [Name 1] an, er habe zuerst republikflüchtig werden wollen. Dies sei ihm aber zu riskant erschienen, weil er dem »Staatssicherheitsdienst« nicht in die Hände geraten wollte. Außerdem schrieb er, dass er im Mai Vater werden würde.
Die bisherigen Ermittlungen zur Person des [Name 1] ergaben Folgendes: [Name 1] führte einen sehr leichten Lebenswandel. Er verbrachte seine Freizeit in der Hauptsache in Gaststätten, überwiegend im Ratskeller in Neuenhagen, wo er mit einer Serviererin ein Verhältnis hatte, vertrank sein ganzes Geld und kehrte nach seinen Zechgelagen meist erst nachts in die elterliche Wohnung zurück. Danach erschien er dann öfters übermüdet zur Arbeit und es kam zu Auseinandersetzungen mit dem Meister. Nach Angaben der Mutter hatte [Name 1] trotz wiederholter Mahnungen ständig einen schlechten Umgangskreis. Da er keine Lust zur Arbeit hatte, musste er auch seine Lehre im Maurerberuf abbrechen. 1958 beging er in Strausberg einen Gelddiebstahl und 1961 einen Fahrraddiebstahl, wofür er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde. Ferner wurde bekannt, dass [Name 1] verschiedentlich negative Äußerungen gegen die VP getan hat.
Nach Angaben der am 1.4.1964 befragten Eltern des [Name 1] begab sich [Name 1] auch am 29.3.1964 nach Neuenhagen, kehrte erst am 30.4.1964 gegen 22.00 Uhr zurück und legte sich schlafen. Über das Vorkommnis im Betrieb habe er zu Hause lediglich erzählt, er sei von der Kripo verhört worden und werde nach Ostern noch einmal verhört. Er sei jedoch nicht schuldig und wolle nicht ins Gefängnis. Er habe auch von »drüben« keinen Auftrag zur Sabotage gehabt, wie man es angeblich beim Verhör hätte hören wollen. (In der Befragung ist eine solche suggestive Frage nicht gestellt worden. Lediglich zu Beginn der Befragung wurde [Name 1] – als er versuchte, um eine wahrheitsgemäße Schilderung herumzureden – aufgefordert, doch ganz offen und freimütig den Vorgang zu schildern, wie er sich tatsächlich zugetragen hat. Man könnte doch sonst annehmen, er hätte etwas zu verbergen oder handle wie einer, der einen Auftrag habe. Dies sei aber doch nicht der Fall.)
Die Untersuchungen besonders hinsichtlich der Vorkommnisse im Betrieb werden vom MfS weitergeführt.