Selbstmordversuch des kommissarischen Produktionsdirektors des EKO
14. November 1964
Bericht Nr. 1017/64 über den Selbstmordversuch des kommissarischen Produktionsdirektors [Name 1] vom EKO Eisenhüttenstadt am 4. November 1964
In den Abendstunden des 4.11.1964 unternahm der kommissarische Produktionsdirektor des EKO Eisenhüttenstadt [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1915 in Schlöben, Beruf Volksschullehrer, Hochofeningenieur, Parteizugehörigkeit NSDAP von 1937–1938, SED seit 1946, Militärzugehörigkeit 1938–1945, letzter Dienstgrad Oberleutnant der Panzerartillerie, einen Selbstmordversuch.
Dem MfS wurde dazu Folgendes bekannt: Am 4.11.1964 fanden im EKO Eisenhüttenstadt eine Parteiaktivtagung und eine Werkdirektorensitzung statt, auf denen der Werkdirektor des EKO [Name 2] den kommissarischen Produktionsdirektor des EKO [Name 1] wegen eines mangelhaft erarbeiteten Berichtes über die Produktionsergebnisse des Monates Oktober 1964 stark kritisierte.
Auf der Werkdirektorensitzung beendete [Name 2] seine Kritik mit der Bemerkung: »Wenn Du es nicht besser kannst, musst Du es sagen, dann werden wir Dich verändern.« [Name 1] bat daraufhin um seine Ablösung, der [Name 2] sofort zustimmte.
[Name 1] suchte im Anschluss an die Werkdirektorensitzung den 1. Sekretär der BPO des EKO Genosse [Name 3] – seinen Schwiegersohn – auf und gab ihm Kenntnis von seiner bevorstehenden Ablösung. Dabei erklärte [Name 1], die an ihm geübte Kritik bestehe im Wesentlichen zu recht, er könne sich jedoch nicht mit der Art und Weise des Vorgehens des [Name 2] einverstanden erklären. Während dieser Aussprache hinterließ [Name 1] bereits einen sehr verstörten und niedergeschlagenen Eindruck. Der Parteisekretär Genosse [Name 3] erklärte [Name 1] noch, er solle nicht so empfindlich sein und außerdem würde man sich in der ZPL mit diesem Problem beschäftigen.
Als [Name 1] in den Abendstunden nach Hause kam, machte er auch gegenüber seiner Ehefrau einen verstörten Eindruck. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte er auch keine Unterlagen mitgebracht, um abends in der Wohnung weiterzuarbeiten, wie dies bei ihm üblich war.
Gegen 19.30 Uhr verließ [Name 1] seine Wohnung, nachdem er sich in auffälliger Weise von seiner Enkeltochter verabschiedet hatte. Gegenüber seiner Frau begründete er das nochmalige Verlassen der Wohnung mit einer Sitzung im Klubraum der Intelligenz.
Nach eigenen Angaben hat [Name 1] die Wohnung bereits in der Absicht verlassen, an diesem Abend Selbstmord zu begehen. Zu diesem Zweck führte er auch einen Strick und eine Flasche Schnaps mit sich. [Name 1] begab sich in die Nähe der Wohnung des Werkdirektors [Name 2] und unternahm dort den Selbstmordversuch.
Da sich nach Angaben von [Name 1] der Strick gelöst hatte, sei der Versuch misslungen. Von einem zweiten Versuch habe er dann Abstand genommen, da er keinen Mut mehr gehabt hätte.
Gegen 22.00 Uhr kehrte [Name 1] in seine Wohnung zurück und verständigte seine Ehefrau von dem Vorkommnis.
Am Hals von [Name 1] waren blaugefärbte Würgemale und am Hals und im Gesicht deutlich erkennbare Hautabschürfungen zu erkennen.
Die Frau des [Name 1] verständigte sofort ihren Schwiegersohn, den 1. Sekretär der BPO, Genossen [Name 3], und den 2. Sekretär, Genossen [Name 4].
In den ersten Aussprachen und auch in den zwei Abschiedsbriefen an seine Frau und den 1. Sekretär der Kreisleitung Eisenhüttenstadt, Genossen [Name 5], die er vor seinem Selbstmordversuch geschrieben und in der Wohnung hinterlegt hatte, nannte [Name 1] als Motiv für seine Handlung die unsachliche Kritik des Werkleiters [Name 2] an seiner Person. Er erklärte, in den letzten zwei Wochen nur noch Spießruten gelaufen zu sein, weil er nicht an den Kneipengesprächen und Zechgelagen von [Name 2] teilgenommen habe. Trotz seiner 13-jährigen Tätigkeit beim Aufbau des EKO und seiner siebenmaligen Auszeichnung als Aktivist sei ihm jeden Tag von [Name 2] seine Unfähigkeit dokumentiert worden, sodass er zum Schluss selbst daran geglaubt habe. Nach seiner Entlassung als Lehrer und seiner Ablösung als Kampfgruppenkommandeur wollte er nicht zum dritten Male zerbrechen. Wie [Name 1] erklärte, diese Feststellung ist auch in einem Abschiedsbrief enthalten, wollte er durch seinen Selbstmord den Anlass zur Überprüfung der Leitungsmethoden von [Name 2] und zur Klärung der Cliquenwirtschaft geben, die ungesund ist und die Atmosphäre im Betrieb, vor allem unter den leitenden Wirtschaftsfunktionären, vergiftet.
Über die Entwicklung des [Name 1] und seine möglichen Motive für diese Handlungsweise liegen dem MfS noch folgende weitere Hinweise vor: [Name 1] begann im Jahre 1946, nachdem er aufgrund der Schulreform aus dem Schuldienst entlassen worden war, in der Max-Hütte Unterwellenborn als Hilfsarbeiter zu arbeiten. Nach seiner Qualifizierung als Ingenieur für Hochofentechnik an der Betriebsakademie der Max-Hütte wurde [Name 1] 1951 zum Schichtleiter des Hochofenbetriebes im EKO berufen. Später bekleidete er mehrere Funktionen im EKO. Vor seiner Berufung zum kommissarischen Produktionsdirektor im Mai 1964 war [Name 1] Hauptdispatcher.
Charakterlich wird [Name 1] als ehrlicher und aktiver Genosse eingeschätzt, der sehr strebsam und ehrgeizig ist. Gegenüber Kritiken ist er empfänglich, legt jedoch Wert auf eine bestimmte Form.
Die Berufung [Name 1] zum kommissarischen Produktionsdirektor erfolgte, nachdem Werkleiter [Name 2] ohne Zustimmung der VVB Roheisen und ohne Genehmigung des Volkswirtschaftsrates eine zusätzliche Planstelle »1. Stellvertreter des Werkleiters« geschaffen hatte. In diese Funktion berief [Name 2] den damaligen Produktionsdirektor [Name 6]. Zu den Bestrebungen von [Name 2], [Name 1] von seiner Funktion abzulösen, wurde bekannt, dass einige Tage vor der Werkdirektorensitzung vom 4.11.1964 bei [Name 2] ein Schreiben des Genossen Minister Markowitsch1 einging, in dem die Planstelle des »1. Stellvertreter des Werkleiters« im EKO abgelehnt wird. Offensichtlich mit darauf zurückzuführen, begann [Name 2] die Ablösung von [Name 1] vorzubereiten. So machte der Kaderleiter [Name 7] bereits am Vormittag des 4.11.1964 der Sekretärin der ZPL Genossin [Name 8] Mitteilung über die geplante Veränderung. Zu diesem Zeitpunkt lag auch schon eine Bestätigung für die Umbesetzung durch den »1. Stellvertreter des Werkleiters« [Name 6] vor.
In der ZPL war diese kadermäßige Veränderung des [Name 1] noch nicht beraten und bestätigt worden.
Wie aus vorliegenden Informationen weiter ersichtlich ist, äußerte [Name 1] bereits Anfang 1964 seinen Unwillen über die vom Werkleiter [Name 2] praktizierten Leitungsmethoden. Ähnliche Hinweise, insbesondere das Verhalten des Werkleiters anderen Funktionären gegenüber betreffend, wurden auch von anderen leitenden Wirtschaftsfunktionären des EKO gemacht.
Allgemein wird anerkannt, dass [Name 2] mit Übernahme der Funktion des Werkdirektors im EKO (August 1960) bemüht war, mit Zielstrebigkeit und großer Energie eine Erhöhung der Produktion zu erreichen. Die Monatsproduktion an Roheisen z. B. stieg in dieser Zeit von ca. 100 000 t auf 140 000 t. Gegen jede Form von Schlamperei und Verantwortungslosigkeit, besonders bei leitenden Kadern oder Angehörigen der Intelligenz, tritt [Name 2] konsequent auf.
Hemmend auf seinen Leitungsstil wirkt sich jedoch die nicht immer sachliche Prüfung von Entscheidungen aus. Durch die Unterdrückung der Kritik an seiner Person und durch das teilweise unsachliche und verletzende Auftreten gegenüber anderen Personen wird die Herausbildung und Festigung des Leitungskollektivs erheblich erschwert. Wegen der Unterdrückung von Kritiken besteht unter zahlreichen Angehörigen des Werkes, selbst unter den leitenden Funktionären die Meinung, es habe keinen Sinn gegen Fehler des Werkleiters [Name 2] aufzutreten. In persönlichen Absprachen, auf offiziellen Besprechungen oder bei privaten Zusammenkünften bedient sich [Name 2] eines betont vulgären Umgangstons, offensichtlich mit beeinflusst durch übermäßigen Alkoholgenuss. (Von Angestellten der Buchhaltung und Rechnungsprüfungsstelle wird zum Ausdruck gebracht, die Finanzierung der durchgeführten Zechgelage erfolge zum Teil aus betrieblichen Mitteln.)
Ein derartiges Verhalten zeigte [Name 2], der als Reisekader für das sozialistische und kapitalistische Ausland bestätigt ist, auch bei Verhandlungen um den Aufbau der »Neuen Hütte« im September 1964 in der Sowjetunion. Er benahm sich dabei gegenüber den sowjetischen Verhandlungspartnern derart unhöflich und undiszipliniert, dass die zur Delegation gehörenden Genossen des VEB »Ernst Thälmann«-Werkes Magdeburg die Beratung mit den sowjetischen Partnern kurz unterbrachen und [Name 2] unter Androhung einer Parteistrafe zur Änderung seiner Verhaltensweise zwingen mussten. (In der nächsten Zeit beabsichtigt [Name 2] eine Reise in die Schweiz zu unternehmen. Der 1. Sekretär der Bezirksleitung Frankfurt/O., Genosse Mückenberger,2 wurde vom MfS informiert.)
Die im Bericht angeführte Kritik [Name 2] an der Arbeit [Name 1], vor allem an dem Bericht über die Ergebnisse der Oktoberproduktion, wird von verschiedenen anderen leitenden Mitarbeitern in der Umgebung des Werkleiters als sehr unverständlich bezeichnet, da es im Allgemeinen zu den Eigenschaften von [Name 1] gehöre, gründlich zu arbeiten und fundierte Vorlagen bzw. Berichte vorzulegen.
Beachtenswert für die Einschätzung dieser Vorgänge ist auch ein telefonischer Anruf durch den Genossen [Name 2] am 6.11.1964 beim 1. Sekretär der BPO, Genossen [Name 3]. [Name 2] frug bei [Name 3] an, weshalb wegen dieser Angelegenheit so ein »Aufsehen« gemacht wird, da man doch alles hätte anders klären können. (Womit offensichtlich die Einsetzung einer Untersuchungskommission durch die Bezirksleitung Frankfurt/O. gemeint war.) In diesem Gespräch versuchte [Name 2] – nach Angaben des Genossen [Name 3] – diesen einzuschüchtern, indem er andeutete, Kenntnis von moralischen Verfehlungen des Genossen [Name 3] während einer Reise in die VR Polen zu haben.
Der 1. Sekretär der Bezirksleitung Frankfurt/O., Genosse Mückenberger, wurde vom MfS über die wichtigsten im Bericht genannten Probleme der Leitungstätigkeit im Zusammenhang mit dem Selbstmordversuch des Genossen [Name 1] informiert.