Situation in der Mischdüngerfabrik des Kali-Werks »Glückauf«
19. August 1964
Einzelinformation Nr. 635/64 über die Situation in der Mischdüngerfabrik des VEB Kali-Werk »Glückauf«, Sondershausen, [Bezirk] Erfurt
Dem MfS wurde bekannt, dass die Mischdüngerfabrik des Kali-Werkes »Glückauf« Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, insbesondere in den letzten Monaten einen Schwerpunkt im Auftreten von Havarien, zum Teil mit schweren Sach- und Personenschaden, bildet.
Seit Dezember 1963 wurden infolge der in diesem Betriebsteil auftretenden Betriebsstörungen zwei Arbeiter getötet und einer schwer verletzt.
Obwohl nach den Untersuchungsergebnissen alle aufgetretenen Havarien technische Ursachen hatten, ist einzuschätzen, dass diese Störungen im Wesentlichen hätten vermieden werden können, da die Mängel, die zu den Havarien führten, den Aufsichtspersonen und leitenden Funktionären zum größten Teil bekannt waren und es auch entsprechende Festlegungen über notwendige Veränderungen gab, die jedoch nicht eingehalten wurden.
Der Betriebsteil Mischdüngerfabrik mit der Kaliammonsalpeter- und Salpetersäure-Anlage besteht seit dem Jahre 1927 und ist infolge der ständigen Säureeinwirkung in einem baulich sehr schlechten Zustand. Dringend erforderliche Rekonstruktionsarbeiten, auf deren Notwendigkeit die Werkleitung und Aufsichtspersonen zum Teil von den Produktionsarbeitern, zum Teil aber auch durch Gutachterprotokolle und Fachexperten aufmerksam gemacht wurde, sind nicht mit entsprechendem Nachdruck durchgeführt worden.
So ist der Betriebsleitung seit Jahren bekannt, dass sich die Betriebsanlage der Kaliammonsalpeterfabrik in einem derart schlechten Zustand befindet, dass jederzeit mit weiteren schwerwiegenden Havarien gerechnet werden muss. Bereits im Jahre 1961 fand durch die staatliche Bauaufsicht und Vertreter der VVB Kali eine Besichtigung der Gebäude der Kaliammonsalpeterfabrik zur Überprüfung der Standfestigkeit statt, in deren Ergebnis festgestellt wurde, dass starke Korrosionserscheinungen an Stahlstützen, Deckenträgern, Stahlkonstruktionen sowie an Verankerungen vorhanden sind.
Trotz Aufzeigen der Fehlerquellen fanden bis Anfang 1964 keinerlei Rekonstruktionsarbeiten statt. Am 6.3.1964 erfolgte durch die gleichen Institutionen eine weitere Überprüfung der Betriebsanlagen, an der der stellvertretende Betriebsleiter [Name 1], Vertreter der Arbeitsschutzinspektion, Bau-Ingenieur [Name 2] und Bauleiter [Name 3] teilnahmen. In einem im Anschluss an die Betriebsbegehung gefertigten Protokoll wurden wiederum alle festgestellten Mängel an der Eisenkonstruktion aufgenommen und Termine zur Änderung und Reparatur vereinbart. (In diesem Protokoll wurde u. a. auch die Auswechslung des Trägers vorgesehen, durch dessen Unbrauchbarkeit am 24.7.1964 ein Schmelzkessel aus seiner Halterung stürzte und ca. 20 000 bis 30 000 MDN Schaden verursachte und einen Arbeiter tödlich verletzte.) Aber auch nach dem 6.3.1964 wurden im Kaliwerk keine Reparaturen durchgeführt.
Infolge der ständigen jahrelangen Vernachlässigung der Rekonstruktionsmaßnahmen insbesondere in der Betriebsabteilung Mischdüngerfabrik kam es seit Dezember 1963 im Kaliwerk »Glückauf« Sondershausen, Erfurt zu vier folgenschweren Havarien. Eine weitere Betriebsstörung konnte durch die Aufmerksamkeit der Produktionsarbeiter noch rechtzeitig verhindert werden.
Bei den Betriebsstörungen handelt es sich im Einzelnen um folgende: Am 19.12.1963 ereignete sich in der Salpetersäure-Anlage eine Groß-Havarie durch das Umstürzen des im Jahre 1927 erbauten Kontaktturmes V infolge ständiger Säureeinwirkung. Dabei wurde das seitlich vom Säureturm liegende Gebäude der Verbrennungsanlage quer durchschlagen und von acht darin vorhandenen Verbrennungselementen drei vollständig zerstört, sodass sich ein Gesamtschaden von ca. 1,260 Mio. MDN ergab. Auf den ungenügenden bautechnischen Zustand des Turmes V hatten die in der Mischdüngerfabrik beschäftigten Arbeiter schon mehrmals hingewiesen. Von der Werkleitung war daraufhin auch am 1.12.1961 eine bautechnische Untersuchung vorgenommen worden, die die von den Arbeitern geäußerten Bedenken bestätigte. Die Werkleitung unternahm jedoch keine Maßnahmen, sondern verließ sich auf ein später gefertigtes Gutachten von Prof. Dr. [Name 4], Weimar (7.2.1962), das die Tragfestigkeit des Unterbaues des Turmes V zwar bestätigte, zugleich aber auch darauf hinwies, dass die tieferliegenden Fundamentteile von durchgesickerter Säure angegriffen sein könnten. Trotz dieser Hinweise wurden keine Maßnahmen zur Klärung der widersprüchlichen Gutachterergebnisse, zur Untersuchung der offenen Probleme (tieferliegende Fundamentteile) und zur Veränderung der Situation eingeleitet.
Nach der Havarie vom 19.12.1963 wurden zwar von der Werkleitung und Vertretern der VVB Maßnahmen festgelegt, um weitere Störungen zu verhindern, sie bezogen sich jedoch weniger auf Rekonstruktionsarbeiten und waren nicht zur Klärung der gesamten Situation geeignet. So wurde ohne gründliche Untersuchung an den übrigen Türmen die Sprengung des Turmes IV beschlossen, der ebenfalls wie der umgestürzte Turm V äußerlich sichtbare Zerstörungen durch Säureeingriff aufwies. In einer kurze Zeit danach durch das MfS veranlassten gründlichen bautechnischen Untersuchung wurde jedoch bewiesen, dass die Standfestigkeit der übrigen Türme noch für ca. zwei Jahre ausreichend und eine Sprengung nicht erforderlich wäre, die Beseitigung der äußeren Schäden jedoch umgehend zu erfolgen hätte. Mit der sofortigen Beseitigung der äußeren Schäden hätte eine weitere Säureeinwirkung, die die Tragfestigkeit des Turmes ernstlich gefährdete, schnellstens verhindert werden können.
Im Ergebnis dieser erneuten Untersuchung unterblieb die Sprengung des Turmes IV. Die damit geforderten Sofortmaßnahmen wurden aber nur sehr schleppend durchgeführt. Die Werkleitung veranlasste lediglich, die sich in den Gruben der freigelegten Fundamente angesammelten größeren Mengen Salpetersäure durch Soda zu neutralisieren, womit aber keinesfalls eine weitere Säureeinwirkung ausgeschlossen wurde.
Trotz dieses äußerst fahrlässigen Vorgehens hinsichtlich der inneren Sicherheit der Anlage verfügte Werkleiter Schilling, der den bautechnischen Zustand der Anlage kannte, im April 1964 – mit Wissen der VVB Kali –, den Turm IV in die Produktion einzubeziehen, wobei diese Anlage das Doppelte der früheren Produktion bringen muss (die Produktion für den eingestürzten Turm V mit). Erfolgt mit dieser Belastung und durch die Nichteinhaltung der angeordneten Rekonstruktionsarbeiten am Turm IV ein Einsturz, so würde diese Havarie, die auch eine Zerstörung der Verbrennungshalle bewirken könnte, einen völligen Ausfall der Produktion herbeiführen.
Nach der Havarie am Turm V am 19.12.1963 wurde von der Leitung des Betriebsteiles Mischdüngerfabrik alles unternommen, die Salpetersäureanlage schnellstens wieder in Betrieb zu nehmen. Nachdem die Anlage vorfristig am 7.3.1964 fertiggestellt war, beschloss die Leitung der Mischdüngerfabrik, die Anlage sofort probeweise in Betrieb zu nehmen, ohne von diesem Entschluss die leitenden Funktionäre des Kali-Werkes »Glückauf« in Kenntnis zu setzen. Dabei wurden die zu dieser Zeit herrschenden sehr niedrigen Außentemperaturen nicht beachtet und es kam infolge von Eisbildung in den Türmen und im Kühlsystem durch das vom Endexhauster erzeugte Vakuum am 7.3.1964 zur Zerstörung des Turmes VII.
Diese erneute schwere Havarie in der Salpetersäure-Anlage führte zu einem weiteren mehrwöchigen Produktionsausfall und zu einem Gesamtschaden von ca. 1,5 Mio. MDN.
Nach dieser zweiten schweren Havarie am 7.3.1964 am Turm VII und nach vorliegenden Hinweisen seitens der Belegschaft über den weiteren ungenügenden technischen Zustand der gesamten Mischdüngerfabrik wurde die Werkleitung des Kaliwerkes vom MfS erneut aufgefordert, die gesamte Betriebsabteilung Mischdüngerfabrik auf ihren technischen und sicherheitstechnischen Zustand hin zu überprüfen und Maßnahmen zur Veränderung durchzuführen. Daraufhin führte die Bauabteilung des Werkes eine erneute Betriebsbegehung durch und legte alle dabei festgestellten Mängel in einem Protokoll vom 8.4.1964 nieder.
Auch in diesem Protokoll wurde festgehalten (wie das bereits im Protokoll vom 6.3.1964 erfolgt war), dass in der Mischdüngerfabrik der 40er-Doppel-I-Träger unter dem Schmelzkessel – der am 24.7.1964 zur Havarie führte – stark mit Säure angefressen ist. Zur Sicherung dieses Schmelzkessels wurde das Einziehen eines Unterstützungsträgers festgelegt und die Abteilung Hauptmechanik des Kaliwerkes mit der Durchführung dieser Arbeiten bis zum 31.5.1964 beauftragt. Eine Kontrolle der Realisierung dieses Termins erfolgte nicht, sodass diese dringend erforderliche Sicherheitsmaßnahme verzögert wurde.
So kam es am 24.7.1964 zur dritten schweren Havarie in der Mischdüngerfabrik/ Kaliammonsalpeterfabrik durch Umstürzen eines 42 t schweren Schmelzkessels, der die Decke der 2. Etage durchbrach und einen Arbeiter tödlich verletzte. Der Sachschaden betrug insgesamt ca. 20 bis 30 TMDN. Die Ursache des Absturzes war der Bruch der 40er-I-Trägers, der stark verrostet war und auf dem der Kessel auflag.
Ein weiteres Vorkommnis in der Kaliammonsalpeterfabrik des Kaliwerkes »Glückauf« war am 28.7.1964 zu verzeichnen, als es beim Umspeichern vom Kohlenstaub infolge eines technischen Mangels in der Transportleitung zum Austreten von größeren Mengen Kohlenstaub aus einem Reserve-Silo kam. Dieser Kohlenstaub entzündete sich und führte zur Verpuffung. Dabei wurde ein Arbeiter infolge Verbrennungen 3. Grades getötet, einer schwer und drei weitere leicht verletzt. Von einem Fachmann der Versuchsstrecke Freiberg konnte die Zündquelle bisher nicht eindeutig bestimmt werden, jedoch wurden in einer Ersteinschätzung erhebliche Mängel, die an Schlamperei grenzen, festgestellt. So führte ein unsachgemäß verlegtes Starkstromkabel unmittelbar am Ansaugkanal der Transportleitung vorbei; außerdem liegen Litzen und andere Kabel frei und sind damit dem unmittelbaren Anflug von Kohlenstaub ausgesetzt.
Am 1.8.1964 kam es in einem Kohlenstaub-Silo des Kraftwerkes der Mischdüngerfabrik zu einem Glimmbrand. Eine Havarie konnte verhindert werden, da der Brand von Produktionsarbeitern rechtzeitig bemerkt und mit Kohlensäure gelöscht wurde.
Dem MfS liegen Hinweise vor, wonach aufgrund der Betriebsstörungen in der Mischdüngerfabrik des Kaliwerkes, insbesondere seit Dezember 1963, und des den Produktionsarbeitern bekannten ungenügenden bautechnischen Zustandes der gesamten Anlage ein großer Teil der dort beschäftigten Arbeiter äußerst beunruhigt ist. Dabei wird mehrfach die Auffassung vertreten, das Vertrauen zur Werkleitung verloren zu haben, da von ihnen die Mängel in der Sicherheit des Betriebsablaufes zwar avisiert wurden, von der Werkleitung aber keine Maßnahmen unternommen werden, diese zu beseitigen. In letzter Zeit gibt es Kündigungsbestrebungen seitens einiger Produktionsarbeiter der Mischdüngerfabrik aus der Erwägung, unter den ungenügenden Bedingungen der inneren Sicherheit des Betriebes nicht mehr arbeiten zu wollen.
Die Leitungstätigkeit im Kaliwerk »Glückauf« Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, trägt dieser ernsten Situation ungenügend Rechnung. Die gesamte Tätigkeit des Werkdirektors, der als ein guter Fachmann eingeschätzt wird, ist zwar auf die unbedingte Planerfüllung orientiert, missachtet aber dabei gröblichst die innere Ordnung und Sicherheit des Betriebes. Werkdirektor Schilling brachte selbst zum Ausdruck, dass es ihm in erster Linie um die Erfüllung der Produktion ginge und dabei die Sicherheit hintenan stehen müsse.
Zur Verhinderung weiterer Betriebsstörungen und zur Herstellung der inneren Ordnung und Sicherheit im Kaliwerk »Glückauf« wäre es dringend erforderlich, eine grundsätzliche komplexe Überprüfung des Gesamtzustandes der Mischdüngerfabrik zu veranlassen und sofort entsprechende Veränderungen bei ständiger Kontrolle der erforderlichen Sicherheitsarbeiten durchzuführen.