Über den freischaffenden Bildhauer Fritz Cremer
9. April 1964
Einzelinformation Nr. 296/64 über den freischaffenden Bildhauer Prof. Fritz Cremer, geboren am 22. Oktober 1906 in Arnsberg/Westfalen, wohnhaft in Berlin-Niederschönhausen, [Straße, Nr.]
Cremer1 ist einer der profiliertesten bildenden Künstler der DDR und hat bedeutende positive Kunstwerke geschaffen, die ihm die Anerkennung und Popularität unter den Künstlern und der Bevölkerung einbrachten. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Künste und wurde zweimal (1953 und 1958) mit dem Nationalpreis ausgezeichnet.
Cremer, der bis 1945 in jugoslawischer Gefangenschaft war, hielt sich von 1945 bis 1950 in Österreich auf. (Seine 1. Ehefrau war österreichische Staatsbürgerin, von der er sich 1953 trennte, um 1954 die ehemalige Ehefrau2 des Bildhauers Grzimek3 zu heiraten.) 1952 wurde Cremer Kandidat und später Mitglied der SED, trat aber nie sonderlich aktiv in Erscheinung. Ihm angetragene Partei- und gesellschaftliche Funktionen lehnte er ab, weil sich diese seiner Ansicht nach nicht mit der künstlerischen Arbeit vereinbaren ließen. In der Folgezeit wurde seine mangelnde Parteiverbindung noch deutlicher.
Zur politischen Haltung und Entwicklung Cremers sind dem MfS noch folgende Hinweise bekannt, die aber im Interesse der Sicherheit der Quellen nur zur persönlichen Information bestimmt sind: Cremer bezog bereits seit 1956 (in offensichtlicher Beeinflussung der konterrevolutionären Vorgänge in Ungarn und der staatsfeindlichen Konzeption Harichs4) eine immer deutlichere oppositionelle Haltung gegenüber der Politik der Partei, besonders zu Fragen der Kultur-Politik. Nachdem er bereits 1956 in Zusammenkünften mit dem inzwischen nach Westdeutschland übersiedelten Bildhauer Seitz5 und dem Komponisten Dessau6 über die staatsfeindlichen Ansichten Harichs zumindest wohlwollend diskutierte, trat er insbesondere nach dem 30. Plenum des ZK der SED mehr oder weniger offen auf.
Seine gegen die führende Rolle der Partei (besonders in der Kunst) gerichteten Argumente beinhalteten in dieser Zeit im Wesentlichen:
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Die Partei führe gegenüber den Künstlern eine Holzhammerpolitik durch. Die Kulturpolitik der Partei würde von Leuten gemacht, die von Kunst wenig verstünden. (Dementsprechend bezog und bezieht er eine ablehnende Haltung gegenüber der Kulturabteilung des ZK, dem Ministerium für Kultur sowie allen Kulturfunktionären.)
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Es gäbe keinen Meinungsstreit in künstlerischen Fragen und die Politik der Partei sei zu starr und geeignet, führende Künstler in das Lager des Gegners zu treiben.
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Den Mitgliedern der Deutschen Akademie der Künste müsste mehr Freizügigkeit eingeräumt werden, da die Deutsche Akademie der Künste eine gesamtdeutsche Einrichtung sei.
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Die Meinungen und Ratschläge der führenden Künstler – insbesondere in der Akademie der Künste – würden von der Partei nicht beachtet, z. B. Abbruch des Potsdamer Stadtschlosses gegen den Beschluss der DAK,7 Fortsetzung des Thälmann-Denkmals durch die Bildhauerin Hahne8 usw.
Als 1959 auf dem IV. Kongress des Verbandes Bildender Künstler9 die Künstler Grzimek, Graetz,10 Sandberg,11 Mohr12 und Heller13 kritisiert wurden, solidarisierte sich Cremer mit dem Zwischenruf: »Hierzu gehört auch Cremer« mit ihnen und verließ spontan die Tagung.
Cremer nahm dann auch demonstrativ nicht an der Kulturkonferenz 196014 (wie einige andere Künstler auch) teil, weil er seinen Äußerungen nach damit gegen die Kulturpolitik der Partei protestieren und sich »von den Funktionären nicht schulmeistern lassen« wolle. In diesem Zusammenhang forderte er »mehr Freiheit in der Kunst« und brachte zum Ausdruck, dass sozialistischer Realismus sich nicht mit wirklicher Kunst vereinbaren ließe und deshalb abgelehnt werden müsse. Diese Linie setzte sich bei Cremer in immer stärkerem Maße durch. Er kritisierte Künstler, die die Probleme des Aufbaus des Sozialismus realistisch künstlerisch gestalten (z. B. den Maler Witz15) und unterstützte solche Kräfte, die vom sozialistischen Realismus weit entfernt sind. So war Cremer der Hauptinitiator der von einem Kreis junger bildender Künstler gegründeten privaten »Galerie konkret«.16 Seine ablehnende Haltung gegenüber der Kulturpolitik der Partei verbreitete er unter diesen jungen Künstlern, die fast ausschließlich ehemalige Studenten an der Kunsthochschule in Weißensee bzw. Meisterschüler der DAK waren. Cremer begrüßte die Gründung der Galerie im Oktober 1960 und bezeichnete sie als ein Ventil gegen die Kulturpolitik der Partei. Die jungen Künstler, deren Arbeiten in den Ausstellungen des Verbandes Bildender Künstler nicht aufgenommen wurden, müssten sich Gelegenheit verschaffen, dort ihre Arbeiten ausstellen zu können. In der Galerie waren nur inhaltlose und formalistische Arbeiten ausgestellt, die in keiner Weise den Forderungen der Partei entsprachen. Zur materiellen Sicherstellung dieser Einrichtung stellte Cremer ferner 1 000 DM zur Verfügung.
Als die »Galerie konkret« nicht mehr existierte, wurde unter der Schirmherrschaft von Cremer in der Akademie der Künste – die Cremer als die einzige Institution ansah, in der »man noch einmal ›nein‹ (zur Kulturpolitik) sagen« könnte – eine Ausstellung junger Künstler organisiert.17 Diese Ausstellung zeigte einen großen Teil Werke solcher Künstler, die bereits in der »Galerie konkret« ausstellten. Die gesamte Ausstellung war ihrem Inhalt nach gegen die Kulturpolitik der Partei gerichtet. In den Auseinandersetzungen um diese Fragen mit den Ausstellungsveranstaltern war es wiederum Cremer, der verantwortliche Funktionäre in massiver Form angriff und sie bloßzustellen versuchte. Im Anschluss an die deshalb an ihm geübte Kritik legte er seine Funktion in der Akademie nieder und trat eine Zeitlang nicht mehr so offen provokatorisch in Erscheinung.
Cremer trat dann wieder aktiv gegen die V. Deutsche Kunstausstellung 196218 auf und erklärte, es müssten etwa zwei Drittel der Exponate herausgenommen werden, erst dann wäre es eine gute Ausstellung. Es sei nicht richtig juriert worden und die V. Deutsche Kunstausstellung werde zu Unrecht als sichtbarer Fortschritt gegenüber der IV. Deutschen Kunstausstellung19 hervorgehoben.
Nach dem VI. Parteitag20 war Cremer z. B. einer der Vertreter solcher Ansichten, dass die »Ablösung« des Genossen Kurella21 zwar bemerkenswert sei, aber darauf schließen lasse, dass die Kulturpolitik der Partei »nicht in Ordnung« und »zu eng« sei. Es wäre zunächst angebracht, abzuwarten und zu schweigen.
Dem MfS liegen aber zahlreiche Hinweise aus dieser Zeit vor, aus denen hervorgeht, dass Cremer – und in starkem Maße auch seine Frau – die oppositionelle Haltung im internen Kreise fortsetzten. Er versuchte in dieser Zeit u. a. zu testen, wie man auf einen von ihm angedrohten Austritt aus dem Verband reagieren würde. Er und seine Frau wandten sich ferner in Äußerungen zu verschiedenen Personen gegen Veröffentlichungen zu Fragen der Kulturpolitik im ND (Genosse Hager,22 Frankenstein23) und gegen die Absetzung von Hacks24 »Sorgen um die Macht«.25 Seine Frau schätzte z. B. ein, dass dies alles so weit gekommen wäre, weil sie alle Feiglinge seien. Sie interessierte sich stark für die Personen, die gegen die Absetzung des Stückes stimmten.
Wie die jüngsten Reaktionen Cremers beweisen, ist er jedoch nach wie vor bestrebt und wieder offen dazu übergegangen, seinen Einfluss auszunutzen, um gegen die Kulturpolitik der Partei vorzugehen und dabei offen revisionistische Forderungen zu diskutieren und zu stellen. So fand beispielsweise bereits in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr 1963 in Cremers Wohnung eine Zusammenkunft zwischen Cremer und Prof. Dr. Havemann,26 Biermann,27 Hermlin28 und vermutlich auch Sandberg statt. Dabei wurde diskutiert, dass die Entwicklung Jugoslawiens den Beweis erbracht habe, dass sie – im Gegensatz zur DDR – richtig sei. Diese Ansicht wurde zwar hauptsächlich von Biermann vertreten, aber bis auf Hermlin hätten sich die anderen nicht dagegen ausgesprochen. Am 14.1.1964 hielt Cremer an der Universität Greifswald eine Gastvorlesung. Er sprach darin sinngemäß von einer gewissen »geistigen Einengung« und von einem »abfallenden Niveau«. Dies wurde von einigen Studenten so interpretiert, dass der »politische Kurs der SED und die Unfreiheit« zu einem solchen Niveau führen müsse, weil nur starre Formen anerkannt würden. Außerdem befassten sich zu viele Laien mit Kunst, die die Künstler unberechtigt kritisieren.
Auf der zentralen Beratung der Bildenden Künstler Berlin am 16.1.1964 kam nach den einleitenden Ausführungen lange Zeit keine Diskussion zustande, weil die anwesenden Künstler offensichtlich mit ihrer Meinung zurückhalten wollten. In dieser Situation erklärte Prof. Cremer, er habe sich zwar vorgenommen, nichts mehr zu sagen, wolle aber die Diskussion herausfordern.29 Diese Herausforderung bestand u. a. in folgenden Ansichten: – in der Kulturpolitik der DDR laufe vieles falsch und man müsse deshalb die Dinge richtig ausdiskutieren; – in der DDR sei deshalb auf dem Gebiete der Kunst ein XX. bzw. XXII. Parteitag30 notwendig.
Ferner lehnte er die sowjetische Kunst in ihren jetzigen Formen als beispielgebend ab. Er sei für den sozialistischen Realismus und verstünde darunter die Kunst eines Picasso.31
C. wird zwar von einigen, selbst mit ihm befreundeten Künstlern als nicht sonderlich intelligent eingeschätzt, aber seine gegen den sozialistischen Realismus und besonders gegen die Kulturpolitik der Partei gerichteten Äußerungen erhalten durch die große Popularität von ihm eine nicht zu unterschätzende Wirksamkeit besonders auf die künstlerischen Nachwuchskräfte.
Außerdem muss in diesem Zusammenhang die Vielzahl von Verbindungen Cremers zu den verschiedensten Kulturschaffenden erwähnt werden. Neben den bereits genannten Personen
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Seitz (keine Verbindung mehr)
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Grzimek (lose Verbindung)
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Graetz, Sandberg (früher sehr eng, in letzter Zeit lose geworden)
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Mohr, Heller (keine Verbindung mehr)
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Havemann, Biermann, Hermlin
unterhält Cremer noch enge Verbindungen zu
und weniger enge Verbindungen zu
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Gertrud Classen,35 Ingeborg Hunzinger,36 Werner Stötzer,37 Theo Balden,38 Heinz Werner,39 Prof. Klemke,40 Prof. Heinrich Ehmsen,41 Fritz Duda42 (alles Bildhauer oder Maler)
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zu Ernst Busch43
und einer Vielzahl weiterer bildender Künstler, Schauspieler u. ä. Personenkreisen, die dem MfS bekannt sind.
Ferner wird darauf aufmerksam gemacht, dass er offensichtlich auch noch Verbindungen nach Österreich unterhält und die Absicht hatte, von Mitte Januar bis Ende Februar 1964 nach Österreich zu reisen. Um welche Personen es sich dabei handelt und inwieweit eventuell seine erste Ehefrau eine Rolle spielt, ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass Cremer Verbindung zu Dr. Bunge44 (Verwalter des Brecht-Nachlasses bei der DAK) hat, der seinerseits wieder mit Havemann in Verbindung steht und enge Beziehungen zu Ernst Fischer,45 Wien, unterhält.
Außerdem muss C. Kontakt nach Dänemark gehabt haben, denn in der dänischen Zeitschrift »Dialog«,46 Heft Nr. 5, Jahrgang 1961, sind eine Reihe fast an pornografische Darstellung grenzende Zeichnungen von C. erschienen, die in der DDR nie veröffentlicht wurden. (»Dialog« ist eine der »Sozialistischen Volkspartei Dänemark«47 – Larsen48 – sehr nahestehende Zeitschrift, die in ihren Beiträgen dem »modernen Sozialismus« und der »Freien Kulturentfaltung« das Wort redet und sich gegen die »veraltete Klassenkampftheorie« wendet.)
Von einer Reihe Kulturschaffender, die C. zumindest so gut kennen, um sich ein Urteil über seine politische Haltung bilden zu können, werden sinngemäß folgende Einschätzungen getroffen: Cremer trage typische anarchistische Züge, sei impulsiv und in politisch-ideologischen Fragen oft primitiv und gleichzeitig sich selbst überschätzend. Er versuche, richtige und gute Gedanken einerseits mit wirren und falschen Vorstellungen andererseits zu einer Einheit zu verbinden. So vertrat er bereits im Sommer 1963 die Meinung, dass die »vielen Unklarheiten und Widersprüche zu Fragen der Kunstgestaltung und Methoden unter den Künstlern« in der nächsten Zeit so geklärt werden, wie es seinen Vorstellungen entspricht (und wie er es auf dem Kongress des Verbandes Bildender Künstler auch darlegte). Das sei einfach ein Entwicklungsprozess der Menschen. Er selbst stünde über oder außerhalb dieser ganzen Diskussionen. Die anderen sollten sich darüber streiten, er sei dabei müde geworden. Er werde zwar immer offen seine Meinung sagen, aber sich nie in irgendwelche konspirativen Dinge einlassen. ’
In letzter Zeit habe er besonders häufig mit Prof. Havemann diskutiert, der versucht habe, ihn auf seine Position zu ziehen. Darauf hätte er sich aber nicht eingelassen. Es wird jedoch eingeschätzt, das C. nicht nur von Havemann, sondern auch von anderen geistig über ihm stehenden Personen aus seinem Bekanntenkreis als der »geistig nehmende Teil« Vorstellungen und Ansichten übernimmt, ohne dies zuzugeben. So wird auch trotz intensiver Vorbereitung Cremers auf sein letztes Auftreten vor dem Kongress eingeschätzt, dass dies nicht ausschließlich »sein Werk« gewesen sein kann.
Die Reaktion auf Cremers Auftreten vor dem Kongress war bei vielen bildenden Künstlern dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht so sehr die persönliche Rolle Cremers, sein Auftreten sahen, beurteilten oder sich einmütig mit ihm identifizierten, aber zum großen Teil der Meinung waren, C. habe einige Fragen der künstlerischen Arbeit aufgeworfen, über die man sprechen müsse. Der Kongress habe dies nicht ausdiskutiert, vielmehr sei man ihnen (im Schlusswort des Genossen Bartke49 z. B.) »wieder einmal über den Mund gefahren«. Die Diskussion müsse im Rahmen der Bezirksverbände und Sektionen fortgesetzt werden. Dabei wird betont, dass es sich um ehrliche und ernste Diskussionen im Sinne unserer Kulturpolitik handeln müsse. Eine offene Unterstützung Cremers erfolgte durch Sandberg, der erklärte, Cremer gehe es einzig und allein um die Kunst und seine Bemühungen seien doch anzuerkennen.
Cremer selbst soll während des Kongresses gegenüber dem Maler Frankenstein geäußert haben, dieser sei ein Schuft, und gegenüber dem Maler Sitte,50 dieser sei ein Verräter, offensichtlich weil sie ihn mit seiner Konzeption nicht unterstützten, wie er es vielleicht erwartet hatte.