Über Professor Nehring
28. Mai 1964
Einzelinformation Nr. 437/64 über Prof. Dr. Dr. h.c. Kurt Nehring, Oskar-Kellner-Institut für Tierernährung in Rostock
Dem MfS wurde bekannt, dass Prof. Dr. Dr. h.c. Nehring, Kurt,1 geboren am 29.5.1998 in Posen, wohnhaft Rostock, [Straße, Nr.], parteilos, aufgrund eines Sondervertrages mit der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften im Oskar-Kellner-Institut für Tierernährung in Rostock (OKI), beschäftigt als Hauptverantwortlicher für die Arbeitsgebiete Eiweiß, Futtermittelkunde und Futtermittelkartei, Arbeitsgruppenleiter »Eiweiß« im RGW sowie der entsprechenden Arbeitsgruppe in der DDR, Leiter der Arbeitsgruppe »Tierernährung und Futterwirtschaft« der Sektion VII der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (DAL) und Vorsitzender der Gutachterkommission »Futtermittel« beim Landwirtschaftsrat der DDR, wertvolle wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Materialien aus dem OKI bzw. dem Institut für landwirtschaftliches Untersuchungs- und Versuchswesen in Rostock an Institute in Westdeutschland und NATO-Staaten übergeben hat bzw. in westdeutschen Verlagen veröffentlichen ließ,2 ohne hierfür eine Genehmigung der DAL zu besitzen. (Prof. N. war – unabhängig von dieser bestehenden Genehmigungspflicht durch die DAL für Veröffentlichungen in Westdeutschland u. a. kapitalistischen Staaten – im November 1962 vom wissenschaftlichen Direktor der DAL Prof. Dr. Plachy3 brieflich und letztmalig am 25.3.1964 durch den stellv. Direktor der DAL Dr. Feil4 persönlich auf diese Genehmigungspflicht hingewiesen worden.)
Trotz der bestehenden Anweisungen der DAL arbeitet Prof. N. seit einigen Jahren an wissenschaftlichen Materialien für die Herausgabe des »Handbuches für Futtermittelkunde« im Hamburger Parey-Verlag.5 (Der Druck dieses Buches wurde vom Direktor des Instituts für Tierphysiologie und Tierernährungslehre Kiel, Prof. Dr. Max Becker,6 unter Verwendung von Materialien des OKI Rostock organisiert.) Die für dieses »Handbuch« erforderlichen wissenschaftlichen Materialien wurden von Prof. Nehring unter Mithilfe anderer wissenschaftlicher Mitarbeiter und Ausnutzung der modernen wissenschaftlichen Einrichtungen des OKI Rostock sowie mit finanziellen Mitteln der DDR erarbeitet. (Das Oskar-Kellner-Institut für Tierernährung in Rostock ist in der Welt führend auf dem Gebiet der Eiweißforschung und Tierernährung. Außerdem werden im OKI Forschungen auf dem Gebiet »Eiweiß und Tierernährung« im Rahmen des RGW durchgeführt. Das OKI soll sich zum Leitinstitut im RGW entwickeln.)
Prof. Nehring beruft sich in seiner Handlungsweise auf einen Vertrag mit dem Parey-Verlag, den er bereits vor 1945 abschloss und der festlegte, dass er alle Neuauflagen bzw. neueste wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Tierernährung über den Parey-Verlag veröffentlicht.
Für den Band II des genannten »Handbuches für Futtermittelkunde« lieferte er im März 1964 an Prof. Dr. Becker in Kiel Unterlagen. Darunter befanden sich u. a. 15 nichtveröffentlichte und zwei bereits in Druck befindliche Materialien aus dem OKI bzw. aus dem ehemaligen Institut für landwirtschaftliches Versuchs- und Untersuchungswesen Rostock, indem Prof. Nehring bis 1962 Direktor war. Diese Arbeiten stellen sehr wertvolles wissenschaftliches Material dar, das aufgrund seines Inhalts einen direkten Wert für Länder mit hochentwickelter landwirtschaftlicher Produktion und Agrarwissenschaft besitzt.
Es ist vorgesehen, noch im 2. Halbjahr 1964 den Band III des »Handbuches« abzuschließen.7
Zu diesem Zweck fand am 20.5.1964 eine Zusammenkunft zwischen Prof. Dr. Becker aus Kiel und Prof. Nehring im demokratischen Berlin statt.
Trotz der gegebenen Anweisungen der DAL und persönlicher Aussprachen mit leitenden Mitarbeitern der DAL sah Prof. N. nicht ein, dass er aufgrund der bestehenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden deutschen Staaten diesen Vertrag lösen muss. Prof. N. vertritt im Gegensatz dazu die Meinung, die »deutsche Wissenschaft sei einheitlich und kenne keine Grenzen«. Eine Veröffentlichung in ähnlichen Verlagen der DDR lehnt er ab, da unsere Verlage nicht den Weltruf des Parey-Verlages besäßen. (Das »Handbuch« wird großen internationalen Zuspruch in Wissenschaft und Praxis finden. Als voraussichtlicher Preis werden 150 DM West angegeben. Eine Verlegung des »Handbuches« in der DDR hätte demzufolge hohe Deviseneinnahmen gebracht.) In Gesprächen ließ Prof. Nehring durchblicken, dass die DDR und speziell die wissenschaftlichen Mitarbeiter des OKI kaum in den Besitz dieses Buches kommen werden.
Aus dem Institut für Pflanzenernährung der Justus-Liebig-Universität Gießen wurde bekannt, dass Prof. N. weiterhin an einem »Handbuch der Pflanzenernährung« (Band III, Kap. »Düngung und Futterwert«) mitarbeitete und hierzu ebenfalls Forschungsergebnisse aus den Rostocker Instituten verwendete.8
Das im Jahre 1960 vom Parey-Verlag Hamburg herausgegebene Fachbuch »Agrikultur-chemische Untersuchungsmethoden für Dünge- und Futtermittel, Böden und Milch« wurde ausschließlich von Prof. Nehring bearbeitet.9
Vom 23. bis 27.7.1962 hielt sich der Leiter des Archivs für Futtermittel aus Stuttgart-Hohenheim, Dr. [Vorname Name 1], auf Einladung Prof. Nehrings im OKI Rostock auf. (Das Archiv für Futtermittel ist den Instituten für Tierernährungslehre an der landwirtschaftlichen Hochschule in Stuttgart-Hohenheim angeschlossen. Direktor ist Prof. Wohlbier,10 der früher selbst im ehemaligen Institut für landwirtschaftliches Versuchs- und Untersuchungswesen Rostock tätig war und mit Prof. N. befreundet ist. Nutznießer des Futtermittelarchivs sind in erster Linie die westdeutschen Futtermittelkonzerne.) Zweck der Reise des Dr. [Name 1] bestand darin, die Verdauungsversuche (einige hundert) des OKI Rostock auszuwerten bzw. abschriftlich mitzubringen. Auf Anweisung von Prof. Nehring mussten Diplomlandwirtin [Name 2] und Diplomlandwirt [Name 3] – beide sind eng vertraute Mitarbeiter von Prof. Nehring – Dr. [Name 1] bei der »Auswertung« unterstützen. (Andere leitende Mitarbeiter des Instituts hatten keine Kenntnisse vom Besuch des Dr. [Name 1].) Das Archiv für Futtermittel an der landwirtschaftlichen Hochschule Stuttgart-Hohenheim verwendet die Rostocker Forschungsergebnisse zur Ausarbeitung bzw. zur Vervollkommnung von Futtertabellen, die wir dann aus Westdeutschland für Devisen einführen müssen. Andererseits wurden bisher vom OKI Rostock für die DDR noch keine Futtermitteltabellen herausgegeben, die den Erfordernissen der sozialistischen Landwirtschaft Rechnung tragen.
Auch über einen zzt. im OKI Rostock bearbeiteten Forschungsauftrag der DAL über »Verbesserung und Vereinheitlichung der Untersuchungs- und Versuchsmethoden auf dem Gebiet der Tierernährung einschließlich Futterwirtschaft und Futtermittelkunde« sind einige Wissenschaftler in westdeutschen Instituten – insbesondere über den Verlauf der Forschungen – durch Prof. Nehring informiert (z. B. Max-Planck-Institut in Mariensee-Trenthorst,11 Institut für Humuswirtschaft der Forschungsanstalt für Landwirtschaft in Braunschweig-Völkenrode). Die bisher vorliegenden Ergebnisse dieses Auftrages sind dem bis jetzt auf diesem Gebiet vorliegenden Erkenntnissen überlegen, teilweise einmalig in der ganzen Welt. (Prof. Nehring ist bekannt, dass jeder Forschungsauftrag bis zum endgültigen Abschluss bzw. bis zur Veröffentlichung streng vertraulich behandelt werden muss.)
Allgemein wurde bisher bekannt, dass Prof. Nehring in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen westdeutschen Instituten bzw. solchen in NATO-Staaten sehr »großzügig« ist. Das OKI für Tierernährung Rostock erhielt in der Vergangenheit laufend Besuch von Wissenschaftlern aus Westdeutschland und anderen kapitalistischen Ländern. Diese inoffizielle Zusammenarbeit – die offiziellen Stellen der DDR wie z. B. die DAL wurden nicht eingeschaltet – führten dazu, dass den »Gästen« die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt wurden. Nachdem Prof. N. durch den Stellvertreter des wissenschaftlichen Direktors der DAL Dr. Feil am 24. bzw. 25.3.1964 aufmerksam gemacht wurde, dass er ohne Genehmigung der DAL keine ausländischen Besuche im OKI empfangen dürfe, äußerte Prof. N., dass er dann seine Privatwohnung für diese Zusammentreffen benutzen werde. In gewissen Zeitabständen werden Prof. Nehring und Prof. Schiemann,12 der ebenfalls Mitarbeiter des OKI und mit Prof. Nehring befreundet ist, von einer Frau Dr. [Name 4], Mitarbeiterin eines landwirtschaftlichen Instituts in Kopenhagen, besucht. Diese Frau [Name 4] studiert sehr eingehend die wissenschaftlichen Erkenntnisse des OKI und erhält von Prof. Nehring wissenschaftliche Unterlagen.
So wurde durch unsere Zollorgane bei üblichen Kontrollen im Sommer 1963 festgestellt, dass diese Frau wissenschaftliche Unterlagen aus dem OKI bei sich führte. Auch am 1.5.1964 – die [Name 4] hatte sich als »persönlicher Gast« von Prof. Nehring und Prof. Schiemann zwei Tage in Rostock aufgehalten – stellten unsere Zollorgane in Warnemünde fest, dass die [Name 4] umfangreiche wissenschaftliche Unterlagen des OKI Rostock besaß. Es handelte sich um bisher nicht veröffentlichtes Material über die energetische Bewertung der Nahrungs- und Futterstoffe von Prof. Nehring und Prof. Schiemann. Dieses Manuskript umfasste allein 161 Seiten einschließlich einer Tabelle über energetische Verwertung der Futterstoffe bei einzelnen Tierarten. Außerdem hatte sie Broschüren über Sitzungsberichte der »Internationalen Arbeitsgruppe RGW«, über »Beiträge zum Eiweißproblem« u. a. bei sich. Bei der Befragung durch die Zollorgane äußerte Frau Dr. [Name 4], dass ihr die Unterlagen von Prof. Nehring übergeben worden seien. Sie hätte dieses Material aber auf jeden Fall auch über den Postweg erhalten, weil sie diese Unterlagen im Auftrage von Prof. Nehring auf einer wissenschaftlichen Tagung in Norwegen bzw. Dänemark, an der Prof. Nehring nicht teilnehmen könne, auswerten solle.
Am 26.3.1964 fand im OKI Rostock eine Besprechung statt, an der Prof. Nehring, Prof. Schiemann, Dr. Laube13 als jetziger Institutsleiter sowie der Parteisekretär und die Kaderleiterin teilnahmen. Bei dieser Besprechung wurde Prof. N. gebeten – entsprechend der Vereinbarung anlässlich seiner Emeritierung – Prof. Schiemann in die Aufgaben der Eiweißforschung einzuarbeiten. Prof. N. lehnte dies mit der »Begründung« ab, dass beide zu wenig Zeit hätten und dass in dieser Hinsicht noch viele »Kleinkriege« zu führen seien, er deshalb Prof. Schiemann zzt. unmöglich einweisen könne. Bei dieser Meinung blieb Prof. N. bis zum Schluss der Besprechung. Dem MfS wurde bekannt, dass Prof. N. auch in einem persönlichen Gespräch mit Prof. Schiemann, zu dem er immer ein sehr gutes Verhältnis hatte, den gleichen Standpunkt vertrat.
Die gleiche ablehnende Haltung bezog Prof. Nehring gegenüber einem Vorschlag von Prof. Schiemann, ihn schon jetzt an allen Arbeiten, Tagungen und Beratungen, die sich mit der Eiweißforschung beschäftigen, zwecks schnellerer Einarbeitung teilhaben zu lassen.
Aufgrund der genannten Vorfälle wird vom MfS empfohlen den Wirkungsbereich Prof. Nehrings – insbesondere jedoch seine Monopolstellung auf dem Arbeitsgebiet »Eiweiß« im Rahmen des RGW sowie in der DDR – einzuschränken.
Unter Bezugnahme auf das Beispiel Nehrings sollte der DAL vorgeschlagen werden, ihre bestehenden Arbeitsrichtlinien hinsichtlich der Geheimhaltung vertraulicher Unterlagen zu überprüfen und in Anlehnung an die neue VS-Anordnung der Regierung der DDR entsprechend abzuändern.