Ungesunde Atmosphäre an der Universitätsklinik Rostock
18. März 1964
Einzelinformation Nr. 221/64 über eine ungesunde Atmosphäre an der Chirurgischen Universitätsklinik in Rostock
Dem MfS wurden in letzter Zeit eine Reihe Anzeichen bekannt, dass einige Ärzte die Chirurgische Universitätsklinik Rostock verlassen wollen, dass ein ungesundes Verhältnis zwischen dem Direktor der Klinik Prof. Dr. Schmitt1 und den Ärzten und [dem] mittleren medizinischen Personal herrsche und dass dadurch das wissenschaftliche und technische Niveau der Klinik gefährdet sei. Die deshalb vom MfS eingeleiteten Überprüfungen bestätigten diese Anzeichen. Es wurde festgestellt, dass an der Chirurgischen Universitätsklinik aufgrund der fachlichen Besetzung (mit 32 Ärzten ist nur eine Arztplanstelle unbesetzt) eine fachlich gute Arbeit geleistet werden könnte. Tatsächlich tragen sich aber zehn (!) Ärzte mit dem Gedanken, die Klinik zu verlassen bzw. haben einige sie schon verlassen. Das betrifft die Ärzte
- –
OA [Name 1]
- –
Dr. [Name 2]
- –
Dr. [Name 3]
- –
Dr. Proettel4
- –
Dr. [Name 4]
- –
Dr. [Name 5]
- –
Dr. [Name 6]
- –
Dr. [Name 7]
Die von ihnen angeführten bzw. bekannt gewordenen Begründungen wurden fast ausschließlich mit der Bitte verbunden, nicht offiziell damit zu argumentieren. Sie selbst würden sich öffentlich auch nie in dieser Form äußern, weil sie befürchten, ihre weitere Entwicklung könnte dann durch Prof. Dr. Schmitt – gegen den sich übereinstimmend die Meinungen richten – gestört werden. Allein diese Haltung zeigt schon, dass statt einer notwendigen Vertrauensbasis eine Atmosphäre des Misstrauens herrscht und offenen Auseinandersetzungen aus dem Wege gegangen wird.
Im Einzelnen führen die Ärzte an
Prof. Dr. Kuhlgatz (Dozent und 1. Oberarzt – Abt. Kardiologie –, hat sich in den letzten Jahren besonders um Herz- und Gefäßchirurgie verdient gemacht und ein gut arbeitendes kardiologisches Team gebildet): Er beabsichtigt, ab 1.4.1964 die Leitung der Chirurgischen Klinik des Bezirkskrankenhauses in Zwickau zu übernehmen. Sein Weggang erfolge aus mehreren Gründen; u. a. weil der Chirurgischen Universitätsklinik Rostock eine Herz-Lungen-Maschine durch das Ministerium für Gesundheitswesen und das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen abgelehnt worden sei und Prof. Dr. Schmitt in dieser Frage eine schwankende Haltung bezogen und ihn ungenügend unterstützt habe. Ferner habe ihm Prof. Dr. Schmitt keine klare Perspektive aufzeigen können. Ihm sei zwar ein Extra-Ordinariat für Herz- und Kreislaufchirurgie in der Dienststellung eines Abteilungsleiters angeboten worden, jedoch mit der gleichzeitigen Einschränkung, dass er dann nicht mehr 1. Oberarzt sein könne. Bezeichnend ist, dass zehn Ärzte der Chirurgischen Universitätsklinik Rostock bei Prof. Dr. Kuhlgatz vorsprachen, um von ihm mit nach Zwickau genommen zu werden. Prof. Dr. Kuhlgatz will nach eigenen Äußerungen aber nur den Anästhesist Dr. Proettel mitnehmen, weil dieser von Prof. Dr. Schmitt ebenfalls ungerecht behandelt worden sei. Prof. Dr. Schmitt hatte vor allen Ärzten der Klinik erklärt, Dr. Proettel als Oberarzt und Leiter der Anästhesie-Abteilung einzusetzen. Ohne jedoch mit Dr. Proettel vorher zu sprechen, setzte er Dr. Benad5 dafür ein. Von Prof. Dr. Kuhlgatz wurde diese Maßnahme als riesengroße Schweinerei bezeichnet. Prof. Dr. Kuhlgatz erklärte ferner, dass alle Ärzte (außer Dr. Unger)6, die seit der Leitung Prof. Dr. Schmitts die Klinik verlassen haben, dies wegen persönlicher Differenzen mit Prof. Dr. Schmitt taten.
Oberarzt Dr. Sinner nahm Verbindung nach Dresden auf, um dort als Facharzt für Urologie zu arbeiten. Er erklärte, er werde unter keinen Umständen mehr unter der Leitung von Prof. Dr. Schmitt arbeiten und sich als 50-jähriger Mann nicht wie ein dummer Junge behandeln lassen. Dr. Sinner bat Prof. Schmitt um einen Assistenten für die urologische Ambulanz seiner Abteilung, da in den letzten Jahren ein stetes Anwachsen der urologischen Fälle zu verzeichnen ist. Er wurde daraufhin von Prof. Dr. Schmitt aus dem Zimmer gewiesen.
Dr. Heinrich7 (Parteisekretär der Grundorganisation der Chirurgischen Universitätsklinik) erklärte, dass sämtliche Stationsärzte in der Chirurgischen Universitätsklinik (CUK) über die Arbeitsweise von Prof. Schmitt empört sind, weil seine Anweisungen oft widersprüchlich sind. Zum Beispiel legte er in Stationsärztebesprechungen Demonstrationen fest, die er dann aber nicht durchführte. Die Stationsärzte sehen in dieser Arbeitsweise eine Missachtung ihrer Person und ihrer Arbeit. Sie erwarten, dass sie bei Verhinderung Prof. Dr. Schmitts zumindest informiert werden. Ferner führte Dr. Heinrich an, dass Prof. Dr. Schmitt die Schuld für das Misslingen verschiedener Operationen in erster Linie bei seinen Assistenzärzten sucht, z. B. bei Frl. Dr. [Name 8], Frl. Dr. [Name 5] und Dr. [Name 3], obwohl pathologisch nachweisbar Prof. Dr. Schmitt die alleinige Schuld trage. Prof. Dr. Schmitt bezeichnete in diesem Zusammenhang Dr. [Name 3] als Vollidiot, woraufhin dieser die Klinik verließ und an der Universitätskinderklinik Arbeit aufnahm. Frl. Dr. [Name 8], die nach ihrer Meinung zu Unrecht von Prof. Dr. Schmitt am Tode eines Patienten beschuldigt wurde, erklärte im Ärztekasino der CUK wörtlich: »Ich habe auf unseren Chef solche Wut, um ihn mit Benzin zu übergießen.« Weitere dem MfS bekannt gewordene Äußerungen von Ärzten über Prof. Dr. Schmitt lauten: »Unser Chef ist menschlich ein Verbrecher.« »Unser Chef kann alles, vom Rausschmeißen bis zum Nichtanerkennen des Facharztes. Seine Macht ist bis Berlin unanfechtbar.« »Jeder Kollege in diesem Haus ist derart von Hass erfüllt, dass einem selbst der Beruf über werden kann.« »Warum duldet man in einem sozialistischen Staat die uneingeschränkte Macht eines Chefs, der selbst noch große menschliche Unreife besitzt.«
Dr. Heinrich selbst möchte die CUK ebenfalls verlassen. Er ist verheiratet und kam vor zwei Jahren aus Görlitz. Zzt. bewohnt er ein Zimmer in der CUK. Die ihm zugesagte 2½-Zimmer-Wohnung habe Prof. Dr. Schmitt jedoch an Dr. Müller8 vergeben, der der »Liebling« des Chefs sein soll.
Bezeichnend für die Situation sind auch die folgenden Beispiele
Das Missverhältnis zwischen Chef und Angestellten der Klinik wird nach Ansicht Dr. Heinrichs durch die Anweisung Prof. Schmitts begünstigt, die fordere, dass die Ärzte den Schwestern nicht die Hand zur Begrüßung geben dürften. Der Leiter der Abteilung Traumatologie Oberarzt Dr. Brückner9 nimmt die Weisungen von Prof. Dr. Schmitt zwar widerspruchslos entgegen, führt sie aber nicht aus, sondern erteilt eigene Weisungen, weil die von Prof. Schmitt nach seiner Meinung fachlich nicht zu vertreten seien.
Die aufgezeigte Situation an der CUK ist bereits an anderen Universitätskliniken und unter den Medizin-Studenten bekannt. Es gibt Anzeichen, dass die Arbeit der CUK, insbesondere die des Prof. Dr. Schmitt, boykottiert wird. Zum Beispiel beabsichtige die Universitäts-Kinderklinik, die komplizierten Fälle, die bislang in der CUK behandelt wurden, jetzt zur Operation nach Berlin-Buch zu überweisen. Auch aus der Medizinischen Universitätsklinik gibt es Hinweise, dass Patienten dieser Klinik, die bisher für eine Operation in der CUK vorbereitet wurden, geraten wird, diese nicht in der CUK durchführen zu lassen.
Auch unter den Medizin-Studenten ist seit einigen Wochen das gespannte Verhältnis zwischen dem Klinik-Direktor einerseits und der Ärzteschaft und des mittleren medizinischen Personals andererseits ein Hauptgesprächsthema. Schon seit über einem Jahr ist vielen Medizin-Studenten das ungesunde Betriebsklima an der CUK bekannt. Als jedoch offiziell bekannt wurde, dass auch Prof. Dr. Kuhlgatz die Klinik verlassen will, stand die CUK im Mittelpunkt der Gespräche. Die Studenten sprechen offen darüber, dass es nicht beim Fortgang von Prof. Kuhlgatz bleiben würde.
Von den Studenten wird Prof. Schmitt als der zzt. schlechteste Dozent eingeschätzt. Früher gehörten seine Vorlesungen mit zu den besten an der Medizinischen Fakultät. Hinzu kommt, dass Assistenzärzte und Schwestern der CUK während der Stationspraktika vor praktizierenden Studenten immer häufiger Bemerkungen fallen lassen über die immer schlechtere Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Schmitt. Junge Ärzte der CUK geben den Studenten indirekt zu verstehen, dass man an der Klinik nicht seine Meinung sagen dürfe, weil Prof. Schmitt »einen sehr langen Arm« habe.
In den Monaten Oktober und November 1963 diskutierte insbesondere das 5. Studienjahr die Fragen der Studienreform. Es ist den Studenten bekannt, dass Prof. Schmitt Mitglied des wissenschaftlichen Beirates ist. Erstaunt waren sie jedoch, als Prof. Schmitt in einer Vorlesung die Studienjahresleitung der FDJ aufforderte, ihn über den Stand der Studienreform zu berichten, da er über den bisherigen Verlauf nichts wisse und auch keine Vorstellung über eine Studienreform habe. Als man ihm in dieser Vorlesung einige Fragen zur Durchsetzung der Studienreform erklärte, schimpfte er los und sagte, »wenden Sie sich gefälligst an das Staatssekretariat, ich habe diese Studienreform nicht gewollt«. Da die Studenten nicht die erwartete Unterstützung durch Prof. Schmitt erhielten, wandten sie sich an die parteilosen Professoren Gülzow10 und Kyank,11 die auch entsprechende Hilfe gaben. Das hat bei den Studenten zu der Meinung geführt, dass die parteilosen Professoren geeigneter sind, eine ordnungsgemäße Studienreform durchzuführen und durchzusetzen.
Im November 1963 fand zwischen dem 5. Studienjahr und allen Angehörigen des Lehrkörpers eine Aussprache statt, um im Rahmen der Studienreform über die zukünftige Ausbildung der Studenten zu diskutieren. Die Studenten hatten hierzu eine schriftliche Konzeption erarbeitet, in der es ihnen hauptsächlich um eine grundlegende und allseitige Ausbildung als Arzt ging. In der Konzeption verlangten die Studenten entsprechend dem Berliner Plan in der Chirurgie noch praxisverbundener ausgebildet zu werden. Prof. Schmitt möchte bedenken, dass nicht alle Medizinstudenten Fachärzte für Chirurgie werden wollen. Prof. Schmitt entgegnete in unsachlicher Form, »ich denke nicht daran, Kurpfuscher auszubilden. Wenn Sie wollen, können Sie sich alle gegenseitig die Blinddärme herausnehmen. Ich stelle Ihnen dafür unter Ausschluss der Rechtshaftbarkeit meine Operationsräume zur Verfügung, aber an meine Patienten kommen Sie nicht heran.« Daraufhin traten die parteilosen Prof. Gülzow und Bienengräber12 auf und erklärten, dass die Sorgen der Studenten berechtigt wären. In den darauf folgenden Stationspraktika gaben Assistenzärzte den Studenten zu verstehen, dass Prof. Schmitt sie angewiesen habe, ihnen das Leben im Praktikum durch ständige Testate schwer zu machen, damit sie »die Schnauze von den Praktika voll bekämen«. Empört sind die Studenten darüber, dass Prof. Schmitt am Ende der angeführten Diskussion versuchte, die Studenten zu beeinflussen, ihre Pläne schriftlich auszuarbeiten. Er wollte einige Punkte eingearbeitet wissen, die dem Berliner Plan und den Vorstellungen des wissenschaftlichen Beirats zuwiderliefen. Dieses Schriftstück wollte er dann zur Tagung des wissenschaftlichen Beirats am 28.11.1963 als die Stellungnahme der Studenten zu den bisherigen in Berlin gefassten Beschlüssen zur Studienreform mitnehmen.
Auch in den Fakultätsratssitzungen ist ein Schwinden des Einflusses von Prof. Dr. Schmitt bemerkbar, da er auch hier unsachlich auftritt und diskutiert. So z. B. auf der Fakultätsratssitzung am 6.11.1963, wo es um Fragen der Ausarbeitung des Frauenförderungsplanes für die Medizinische Fakultät ging. Die Parteigruppe des Fakultätsrates hatte vorher diese Fragen diskutiert und Einstimmigkeit erzielt. Als der Dekan der Fakultät, Genosse Prof. Dr. Mehlan,13 das Ergebnis der Diskussion zusammenfasste und zum Beschluss erheben lassen wollte, stand Prof. Schmitt auf und erklärte, dass er die Frage der Frauenförderung als undiskutabel betrachtet. Nach seiner Meinung hätte die Frau genau so viel zu leisten wie der Mann. Man könne auf einige Fragen bei den Frauen keine Rücksicht mehr nehmen (Schwangerschaft, häusliche Pflichten usw.). Die Aufgaben der Frauenförderung sah Prof. Schmitt nur in der Schaffung von ausreichenden Kinderkrippen und -gärten und entsprechende verbesserte Einkaufsmöglichkeiten, wie er diese anlässlich von Kongressreisen in Schweden kennenlernte. Prof. Schmitt schlug vor, doch einmal eine Frauendelegation aus Schweden nach Rostock einzuladen, um einen Erfahrungsaustausch durchzuführen und von den schwedischen Frauen zu lernen, wie die Frauenförderung in der DDR verbessert werden könnte.
Durch den Parteisekretär der Medizinischen Fakultät, Genossen Hornung, wurde Prof. Schmitt zurechtgewiesen, da durch seinen Diskussionsbeitrag der erarbeitete Standpunkt des Fakultätsrates und der vorbereitete Beschluss untergraben wurden. Der Fakultätsrat stellte sich geschlossen hinter die Darlegungen des Parteisekretärs.
Die in vorliegender Information wiedergegebenen Hinweise und Äußerungen sind zum größten Teil auch dem Parteisekretär der Medizinischen Fakultät Rostock bekannt, da einige der angeführten Ärzte mit ihm über diese ganze Situation sprachen. In diesem Zusammenhang wurde von Genossen der Grundorganisation Chirurgie auch darauf hingewiesen, dass Prof. Dr. Schmitt, der Genosse ist, seit ca. zwei Jahren an keiner Parteiversammlung mehr teilgenommen habe. Er ließ sich in der Regel durch seine parteilose Sekretärin entschuldigen.
Ferner wird angenommen, dass Prof. Dr. Schmitt entsprechend den geltenden Richtlinien für die Entrichtung von Parteibeiträgen einen zu niedrigen Beitrag bezahlt. Sein Beitrag entspricht seinem Monatsgehalt von DM 3 600 DM. Sein Gesamtbruttoeinkommen dürfte sich aber auf ca. 9 000 bis 10 000 DM im Monat belaufen. In der Parteigruppe wird deshalb diskutiert: Wenn ein Pfleger seine Altersrente bekommt, wird sofort sein neuer Beitrag festgelegt. Aber an Prof. Dr. Schmitt wagt sich niemand heran. Demgegenüber verfahre er in der Bezahlung seiner Kirchensteuern sehr großzügig. Hinzu kommt, dass Prof. Dr. Schmitt seinen monatlichen Beitrag in der Regel ebenfalls von seiner parteilosen Sekretärin bezahlen lässt.
Die Angaben über die Situation in der CUK wurden der SED-Bezirksleitung Rostock mitgeteilt. Bei den einzelnen Hinweisen und Äußerungen besteht zwar die Möglichkeit einer gewissen subjektiven Färbung seitens der erwähnten Ärzte, aber die Grundtendenzen ihrer Ansichten sind übereinstimmend.