Ursachen des Eisenbahnunfalles Langhagen (2)
3. November 1964
Bericht Nr. 977b/64 über die Ursachen des Eisenbahnunfalles an der Ausfahrt des Bahnhofes Langhagen, [Kreis] Güstrow, [Bezirk] Schwerin, der Strecke Berlin – Rostock am 1. November 1964 [2. Fassung]
Die Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen für die Kollision des Schnellverkehrszuges D 1193 – Städteschnellverkehr Berlin – Rostock – mit dem Durchgangsgüterzug Nr. 7913 am 1.11.1964, gegen 20.21 Uhr, an der Ausfahrt des Bahnhofs Langhagen,1 Kreis Güstrow, [Bezirk] Schwerin, erbrachten folgendes Ergebnis:
Der Bahnhof Langhagen liegt an der eingleisigen Hauptbahn Waren – Lalendorf der neuerbauten Abfuhrstrecke Rostock – Berlin.
Zur Durchfahrt sind auf dem Bahnhof Langhagen drei Gleise vorhanden, die mit elektrischen Ein- und Ausfahrtsignalen versehen sind. Ein weiteres Gleis dient zur Durchführung von Rangierfahrten und zur Bedienung der Ladestraße.
Am 1.11.1964, gegen 19.50 Uhr, spannte die Lok 50323, besetzt mit dem Lokführer [Name 2, Vorname] und dem Lokheizer [Name 3, Vorname] (Bw Güstrow), im VEB Kies- und Betonwerk Langhagen einen für den Überseehafen Rostock bestimmten Güterzug an, der aus zwölf sechsachsigen, mit Kies beladenen Rungenwagen bestand.
Unmittelbar danach wurde vom Lok-Personal gemeinsam mit dem Zugfertigsteller [Name 4] eine volle Bremsprobe durchgeführt. Das einwandfreie Funktionieren der Bremsanlage wurde festgestellt und durch den Zugfertigsteller [Name 4] auf dem Bremszettel bestätigt.
Gegen 20.15 Uhr erhielt das Lok-Personal vom Fahrdienstleiter des Bahnhofs Langhagen über den Zugfertigsteller [Name 4] die Genehmigung, den fertig gestellten Kieszug aus dem Kies- und Betonwerk in den Bahnhof Langhagen einzufahren. Das Einfahrtsignal für den Güterzug auf dem Bahnhof Langhagen stand bei Eintreffen desselben auf »Gelb-Gelb«, gleichbedeutend mit »Fahrt frei mit beschränkter Geschwindigkeit bis zum nächsten Signal«.
Der Dg 7913 fuhr daraufhin in den Bahnhof Langhagen – Gleis 4 – mit einer Geschwindigkeit von ca. 10 bis 15 km/h ein. In Höhe des Fahrdienstleiterraumes sprang der Zugfertigsteller [Name 4], nachdem vom Lok-Personal die Geschwindigkeit des Zuges bis auf Schritttempo vermindert worden war, von der Lok ab. Der Lokheizer fragte den [Name 4], ob sie gleich weiterfahren könnten. [Name 4] erwiderte jedoch, erst den Fahrdienstleiter fragen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt sah das Lok-Personal, in ungefährer Höhe des Stellwerkes vom Bahnhof Langhagen, dass sich das für ihren Zug zutreffende Ausfahrtsignal auf »Halt« befand. Gleiche Wahrnehmungen machten sie von den beiden anderen links von ihrem Gleis befindlichen Ausfahrtsignalen.
Der Zugfertigsteller [Name 4] teilte dann mit, dass sie »Halt« hätten, da für den Dg 7913 eine Kreuzung bevorstände. Dem Lokführer war – unabhängig von dem Hinweis des [Name 4] – ebenfalls bekannt, dass es zu einer Kreuzung mit dem Schnellverkehrszug D 1193 kommen musste, da die planmäßige Abfahrzeit für den Dg 7913 erst für 20.36 Uhr, also nach Durchfahrt des D-Zuges vorgesehen war.
Nachdem die Lok des Güterzuges den Fahrdienstleiterraum passiert hatte, fuhr der Zug mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 15 km/h auf dem Gleis 4 des Bahnhofs Langhagen weiter. Der Lokführer beabsichtigte, den Zug in seiner vollen Länge auf das Gleis 4 des Bahnhofs Langhagen aufzufahren und dann erst zu halten und weitere Signale abzuwarten.
Die Lokomotive des Dg 7913 fuhr in Rückwärtsstellung mit Tender voraus, sodass der Lokführer nicht unmittelbar die Signalanlage des Gleises 4, die sich rechtsseitig befindet, beobachten konnte.
Über die weitere Fahrt gibt der Lokführer an, ungefähr 200 m vor dem Ausfahrtsignal von seinem Heizer verständigt worden zu sein, dass ihr Ausfahrtsignal auf »Freie Fahrt« gestellt worden sei. Der Lokführer will sich von dieser Feststellung seines Heizers überzeugt haben. Nach eigenen Angaben hat sich der Lokführer etwas höher gestellt und sich aus dem Fenster gebeugt, wobei er angeblich das für ihren Zug zutreffende Signal mit dem Signalbild »Grün-Gelb« – gleichbedeutend mit »Freie Ausfahrt mit beschränkter Geschwindigkeit im anschließenden Weichenbereich, dann Höchstgeschwindigkeit« – erkannt haben will.
Nach dem »Erkennen« des Signals »Freie Fahrt« durch den Lokführer erfolgte eine Beschleunigung des Zuges auf etwa 20–25 km/h.
Beim unmittelbaren Passieren des Ausfahrtsignals erkannte der Lokführer, auf seinem Posten links in der Lokomotive stehend, dass das Ausfahrtsignal für das Gleis 1 – der Hauptfahrtrasse, auf die er hätte fahren müssen – auf »Fahrt frei« gezogen war.
Unmittelbar nach dieser Feststellung, aufgrund der er zu der Einschätzung kam, dass die Signalgebung für den Dg 7913 nicht ordnungsgemäß erfolgt sei, will der Lokführer sofort die Bremsung eingeleitet haben. Der Lokheizer hat jedoch nach seinen Aussagen keine Bremsschaltung des Lokführers wahrgenommen. (Durch die Untersuchungen wurde festgestellt, dass lediglich die Zusatzbremse, die nur eine Bremsung der Lok bewirkt, bedient worden ist, jedoch keine Schnellbremsung erfolgte, durch die der gesamte Wagenzug gebremst wird. Eine Zugbremsung, wie sie in solchen Fällen anzuwenden ist, erfolgte vom Lokführer nicht. Die Zusatzbremse ist möglicherweise auch nur deshalb betätigt worden, weil die Überfahrt auf das Gleis 1 erfolgen sollte.)
Da auch die Weiche 4, die den Fahrweg vom Gleis 4 auf das Gleis überleitet, nicht umgelegt war, überfuhr der Dg 7913 die Weiche 4 und fuhr in das noch ca. 230 m lange Stumpfgleis auf. Der am Ende befindliche stählerne Bremsprellbock wurde umgefahren. Da am Prellbock das Gleis endete, drangen Tender und Lokomotive in das anschließende Erdreich ein. Die nachfolgenden Rungenwagen übten dabei einen so starken Druck aus, dass der Tender an der rechts befindlichen Böschung hochgeschoben wurde und die Lokomotive sich nach rechts drehend zur Seite neigte.
Die weiter nachdrückende Zuglast bewirkte in Verbindung mit der seitlichen Verschiebung der Lokomotive, dass der unmittelbar hinter der Lokomotive laufende Rungenwagen fast senkrecht aufkletterte. Dieser Wagen neigte sich dann auf die linke Seite, entlud den Kies und fiel mit dem Untergestell auf den zum gleichen Zeitpunkt auf dem Gleis 1 (Hauptfahrtrasse) mit etwa 100 km/h vorbeifahrenden Schnellzug D 1193. (Der Schnellverkehrszug D 1193, bestehend aus Lokomotive, Postwagen und sieben Reisezugwagen, verkehrt planmäßig von Berlin nach Rostock und passierte zu diesem Zeitpunkt, gegen 20.21 Uhr, den Bahnhof Langhagen. Das Ausfahrtsignal für den D 1193 zeigte ordnungsgemäß grünes Licht an – gleichbedeutend mit »Freie Fahrt«.) Infolge des Aufpralls des ersten Rungenwagens wurden der 3. und 4. Wagen des D 1193 leicht beschädigt, die nachfolgenden Wagen 5, 6 und 7 diagonal aufgerissen und vollkommen zertrümmert und der Wagen 8 abgerissen und stark zerstört. Der übrige Zugteil – Lokomotive, Postwagen und sechs Reisezugwagen, von denen die drei letztgenannten aufgerissen waren – erhielten dadurch Zwangsbremsung und kamen aber aufgrund der großen Geschwindigkeit erst 300 m hinter der Unfallstelle zum Halten.
Aufgrund des Bahnunfalles wurden insgesamt
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36 Personen sofort tödlich verletzt,
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fünf Personen sind an ihren Verletzungen im Krankenhaus bisher erlegen,
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74 Personen erlitten z. T. schwere Verletzungen und befinden sich in stationärer Behandlung in den Kreiskrankenhäusern Güstrow (48), Teterow (17), Rostock (5), Neustrelitz (2) und Greifswald (2). Von diesen 74 Personen schweben nach bisherigen Informationen noch sechs in Lebensgefahr.
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143 Fahrgäste konnten wegen leichterer Verletzungen nach ambulanter Behandlung in ihre Heimatorte entlassen werden.
Durch den Betriebsunfall wurden insgesamt vier Reisezugwagen total zerstört, eine Lokomotive stark beschädigt und ca. 300 m Oberbau beschädigt. Die Schadensumme beläuft sich nach vorläufigen Schätzungen der Experten auf ca. 1,2 Mio. MDN. Die Strecke Lalendorf – Waren musste bis zum 2.11.1964, 17.00 Uhr, in beiden Fahrtrichtungen gesperrt werden.
Aufgrund des festgestellten Tatbestandes erfolgte die Festnahme des Lokführers des Dg 7913 [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1920 in Kurtschow/Polen2, wohnhaft Güstrow, [Straße, Nr.], Beruf Maschinenschlosser und Meister der volkseigenen Industrie (Lok), Lokführer bei der DR, Bw Güstrow seit 1948 mit viermonatiger Unterbrechung 1960, 1960 wegen fahrlässiger Transportgefährdung vom Kreisgericht Sternberg zu acht Monaten Gefängnis bedingt mit zweijähriger Bewährungszeit verurteilt wegen eines fahrlässig verursachten frontalen Güterzugzusammenstoßes auf dem Bahnhof Sternberg. Nach eigenen Angaben war er an weiteren zwei unverschuldeten Bahnbetriebsunfällen beteiligt. (1956 auf dem Bahnhof Teterow: Flankenfahrt mit Lok; 1962 auf dem Bahnhof Adamsdorf: Auffahrt auf abgestellten Zementwagen) und des Lokheizers [Name 3], geboren [Tag, Monat] 1944 in Stettin/Polen, wohnhaft Güstrow, [Straße, Nr.], ohne erlernten Beruf (mehrwöchige Ausbildung als Lokheizer), tätig als Lokheizer bei der DR, Bw Güstrow.
In der bisherigen Untersuchung wurde festgestellt, dass die beiden genannten Personen am Morgen des 1.11.1964, gegen 7.30 Uhr, in guter geistiger und körperlicher Verfassung ihren Dienst begonnen haben. Sie hatten vorher ausreichende Ruhe und auch genügend Schlaf.
Nach Übernahme der Lok Nr. 50323 im Bw Güstrow erfolgte eine Fahrt nach Rostock Überseehafen, danach erfolgte mit einem anderen Güterwagenpark die Rückfahrt über Güstrow nach Langhagen.
Der Lokführer [Name 2] gibt in der bisherigen Untersuchung an, während seiner gesamten Tätigkeit als Lokführer alle Strecken der Reichsbahnämter Güstrow, Rostock und z. T. auch des Reichsbahnamtes Wittenberge befahren zu haben und besonders im Bereich des Reichsbahnamtes Güstrow gute Kenntnisse über die Strecken und über die Lage sowie die Besonderheiten der einzelnen Bahnhöfe zu besitzen.
Die bisherigen Aussagen des Lokführers und des Lokheizers, wonach das Ausfahrtsignal des von ihnen befahrenen Gleises 4 auf »Grün-Gelb« – »Freie Ausfahrt mit beschränkter Geschwindigkeit im anschließenden Weichenbereich, danach Höchstgeschwindigkeit« – gestanden haben soll, entsprechen nicht den Tatsachen.
Die Überprüfungen am Unfallort durch Experten, die technische Nachprüfung der Schaltstellungen im Weichen- und Signalsystem und vorliegende Zeugenaussagen ergaben einwandfrei, dass das Ausfahrtsignal des Gleises 4 rotes Licht – Haltestellung – anzeigte, während für den Schnellzug D 1193 auf dem Gleis 1 die Fahrstrecke gelegt war und das Ausfahrtsignal grünes Licht – »Fahrt-frei-Stellung« – anzeigte.
Weiter wurde nachgewiesen, dass der Lokführer [Name 2] – entgegen seinen bisherigen Aussagen – es bei Erkennen der Gefahr unterlassen hat, die Schnellbremse zu betätigen, durch die sämtliche Bremsen am gesamten Güterzug wirksam werden. Bei Betätigung der Schnellbremsung hätte möglicherweise der folgenschwere Unfall vermieden werden können.
Weitere Untersuchungen werden geführt.3