Verhalten Professor Havemanns und bekannter Personen
15. April 1964
Einzelinformation Nr. 315/64 über das Verhalten Prof. Havemanns und der mit ihm in enger Verbindung stehenden Personen sowie über Reaktionen aus anderen Kreisen
Wie bekannt wurde, hat Prof. Havemann1 in seinem Brief vom 3.4.1964 an Staatssekretär Prof. Dr. Gießmann2 (betr.: Antwort auf die fristlose Entlassung aus dem Hochschuldienst) eine im Entwurf vorgesehene Passage weggelassen. Es handelt sich dabei um die Erklärung, dass er nichts unternehmen werde, was »weiteren Schaden« stiften könnte. Der Zweck des Verzichts auf eine solche Erklärung wird u. a. durch die Bestrebungen deutlich, seine Vorlesungsreihen in Westdeutschland verlegen zu lassen. Dazu wurde im Einzelnen bekannt:
- –
Havemann hat den zuerst angebotenen Vertrag mit dem »Europa-Verlag« nicht realisiert, weil dieser Verlag zu unbedeutend und die finanzielle Abfindung offensichtlich zu gering sei.
- –
Am 24.3.1964 gab es vermutlich ein weiteres Angebot eines Dr. Arno Peters,3 Herausgeber der Zeitschrift »Periodica« (Erscheinungsort München),4 mit dem sich Prof. Havemann traf. Dieser Peters bezeichnet sich als »Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus« und als »Friedenskämpfer«. Tatsächlich bewegt er sich aber auf der Grundlage des Revisionismus und ist als Vertreter der neo-trotzkistischen Linie einzuschätzen, wie sie von Führern der KP Chinas propagiert wird. Dies geht u. a. deutlich aus einem Artikel hervor, den Peters unter der Überschrift »Was ist Entstalinisierung« geschrieben und veröffentlich hat. (Inwieweit ein Vertrag zwischen Peters und Havemann zustande kam, ist nicht bekannt.)
- –
Zuverlässigen Hinweisen zufolge habe Havemann aber mit dem Rowohlt-Verlag/Hamburg einen Vertrag abgeschlossen, der vorsehe, 50 000 Exemplar seiner Vorlesungsreihe in Buchform herauszubringen. Havemann soll dafür 5 000 DM erhalten. 10 000 Exemplare sollen davon in der DDR vertrieben werden. Die Bücher sollen bis Ende Juni 1964 herauskommen. Die Vermittlung an den Rowohlt-Verlag soll unter Mitwirkung des Germanisten Dr. Bierwisch5 von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) – Arbeitsstelle für strukturelle Grammatik – und dem ihm bekannten Hamburger Strukturalisten Richter,6 der Verbindung zum Rowohlt-Verlag habe, und der sich ständig mit Bierwisch trifft, erfolgt sein. In diesem Zusammenhang wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass Havemann am 8.4.1964 den Sprachwissenschaftler an der DAW Prof. Wolfgang Steinitz7 aufgesucht und eine längere Unterredung mit ihm hatte.
- –
Wie dem MfS noch bekannt wurde, soll H. auch die Absicht geäußert haben, in Anbetracht der »Entstellungen« seiner Vorlesungen, an Verlage in der DDR heranzutreten und ihnen die Veröffentlichung seiner Vorlesungen als von ihm autorisierte Bücher anzubieten.
Die initiative Haltung Havemanns wird ferner durch folgende Vorgänge charakterisiert: Havemann hat den westdeutschen Rechtsanwalt Rebensburg8 aus Düsseldorf (wirkte im KPD-Verbotsprozess und im Prozess gegen Agartz9 als Verteidiger) beauftragt, gegen den westdeutschen Journalisten Neß10 zu prozessieren, weil dieser aus einer »allgemeinen Unterhaltung« ein »Interview«11 gemacht habe. Havemann habe dem Rebensburg auch erklärt, dass seine kritisierte Vorlesung sowohl mit Prof. Hager12 als auch mit dem sowjetischen Professor Kedrow13 abgestimmt gewesen sei und beide ihrem Inhalt zugestimmt hätten. Weiter habe Havemann geäußert, ihm würde politisch manches unterstellt, was nicht zutreffe. Er sei und bleibe Kommunist und ebenfalls überzeugter Bürger der DDR. Rebensburg hat Havemann mindestens zweimal besucht. (Außerdem hat sich Rebensburg mit dem Minister für Post- und Fernmeldewesen Schulze14 und mit Prof. Mohrmann15 von der Humboldt-Universität getroffen.) Als ersten Schritt in dieser Angelegenheit forderte Rebensburg das Hamburger »Echo am Abend«16 auf, eine Berichtigung dahingehend zu bringen, dass Havemann kein Interview gegeben und Neß nicht im Auftrage des Hamburger »Echo am Abend« mit Havemann gesprochen habe. Im Falle einer Ablehnung durch den Hamburger »Echo am Abend« würde ein Gerichtsverfahren angestrengt werden. Rebensburg wandte sich auch an das Berliner Pressebüro und forderte eine Veröffentlichung dieser von ihm eingeleiteten Maßnahmen. Wie Rebensburg aber gesprächsweise durchblicken ließ, habe er nicht die Absicht, weitere Schritte in dieser Richtung zu unternehmen. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass Havemann inzwischen bei der DAW Existenzmöglichkeiten wie vorher erhalten habe und nicht unmittelbar geschädigt sei. (Auch Havemann selbst wäre nach dieser Regelung ihm gegenüber zufrieden gewesen, während er vorher um seine weitere Existenz besorgt gewesen sei.)
Prof. Havemann hat in der Frage Umwandlung vom korrespondierenden zum ordentlichen Mitglied der DAW einen amerikanischen Nobel-Preisträger (vermutlich Prof. Linus Pauling17) schriftlich um Unterstützung gebeten. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Anfrage der »Internationalen Vereinigung der Wissenschaftler« (Sitz Paris, Vizepräsident Prof. Bernal18)19 an die IG Wissenschaft verwiesen, in der um nähere Informationen gebeten wird, weshalb Prof. Havemann von seiner Funktion abgelöst wurde. Es gelte, darüber Klarheit zu schaffen, weil Havemann für diese Kreise eine anerkannte Kapazität sei.
Über Zusammenkünfte Havemanns mit anderen Personen, die im Zusammenhang mit seiner revisionistischen Haltung von Bedeutung sind, liegen dem MfS folgende neue Hinweise vor: Havemann steht in Verbindung mit Dr. Bunge,20 dem Verwalter des Brecht-Nachlasses21 bei der DAK, und hat sich in letzter Zeit mehrmals mit ihm getroffen. Dies geschah u. a. am 11.3.1964 in der Wohnung Dr. Bunges (zusammen mit dem bereits erwähnten Dr. Bierwisch, mit Dr. Ulrich Dietzel22 – DAK –, Biermann,23 der Frau24 von Fritz Cremer,25 Herward Pietsch26 – Physik, Chemisches Institut der Humboldt-Universität –) und am 15.3.1964 im Wochenendhaus Havemanns. Dr. Bunge hat enge Beziehungen zu Ernst Fischer27/Wien. Seine Frau ist als Stewardess bei der Deutschen Luftfahrt tätig und befliegt mehrere Auslandsrouten. Dr. Bunge hat außerdem zu Fritz Cremer und zu Dr. Bierwisch Verbindung.
Ferner hat sich Prof. Havemann mehrere Male mit dem ehemaligen 1. Sekretär der Universitäts-Parteileitung der Humboldt-Universität Dr. Tzschoppe28 nach dessen Ablösung getroffen, ohne dass über den konkreten Inhalt dieser Zusammenkünfte nähere Angaben vorliegen.
Gleichfalls versuchte Prof. Havemann eine erneute Zusammenkunft mit Prof. Fritz Cremer herbeizuführen. Cremer erklärte sich auch dazu bereit, wollte dies aber nicht vor der geplanten Diskussion in der DAK tun, offensichtlich, um nicht vielleicht durch diese Zusammenkunft mit Prof. Havemann einen gegen ihn auslegbaren Anknüpfungspunkt zu geben.
Für die Reaktion solcher Wissenschaftler und anderer Personen, die entweder durch arbeitsmäßige Kontakte oder durch persönliche Bekanntschaft mit Havemann in Verbindung stehen, ist bei aller Differenziertheit typisch, dass sie im Wesentlichen sein Vorgehen (Interview, Verbreitung seiner »Theorien« vor den Studenten) verurteilen, aber – mit Ausnahmen – nicht so sehr seine revisionistische Grundkonzeption. Diese Reaktion wurde z. B. bei den als »Havemann-Anhänger« zu bezeichnenden Wissenschaftlern der Humboldt-Universität Dr. Stehr29 (Grundstudium), Diplom-Chemiker Nieswand30 (I. Chemisches Institut), Wielgosch,31 Dr. Schiller32 festgestellt. Diese Differenziertheit zeigte sich besonders auch bei einer Reihe parteiloser Wissenschaftler. Während sich z. B. Prof. Thiessen,33 Prof. Steenbeck,34 Prof. Lehmann35 (Sekretar36 der Klasse für Chemie, Biologie und Geologie der DAW), Prof. Meyer37 (Veterinär-Medizinisches Institut der Humboldt-Universität) von Havemann deutlich distanzieren, ist dies bei der Mehrzahl der parteilosen Wissenschaftler beispielsweise der Forschungsgemeinschaft der DAW, der Humboldt-Universität und anderer Universitäten und Hochschulen nicht in diesem Maße der Fall. Ausdruck dafür ist auch die Aufrechterhaltung des Vorschlages gewesen, Havemann zum ordentlichen Mitglied der DAW zu machen. Erst auf der Sitzung der Klasse für Chemie, Biologie und Geologie am 3.4.1964 wurde der Vorschlag zurückgestellt. Konsequent traten dort in ihren Diskussionsbeiträgen hauptsächlich die Genossen Professoren auf, z. B. Prof. Rienäcker38 und Leibnitz,39 aber auch Prof. Klare,40 die Havemann vorwarfen, nichts zur Entschärfung der Lage getan zu haben. Besonders wandte sich Prof. Thiessen gegen Havemann und erklärte sinngemäß, sich in Havemann geirrt zu haben. Havemann müsse erst einmal beweisen, dass er ein großer Fotochemiker ist. Bisher habe er weniger mit fachlichen Leistungen, sondern mehr mit Philosophie überrascht. Bereits Ende Februar 1964 hatte sich Prof. Thiessen mit folgenden Äußerungen von Havemann distanziert. Havemann nenne sich Meister der Dialektik, werfe jedoch Fragen der Philosophie auf, zu deren Lösung man auch eine gründliche philosophische Ausbildung haben müsse. Außerdem brauche man zur Klärung dieser Fragen nicht ein Forum von 800 Studenten, sondern entsprechende Partner. Wenn Havemann so undialektisch vorgehe, dürfe er sich nicht wundern, dass er auf dem Scheiterhaufen lande. Es gäbe auch viele Leute vom Fach, die ihn nicht für voll nehmen, weil er von Dingen rede, die er nicht verstünde.
Prof. Heise41 vom Philosophischen Institut der Humboldt-Universität, der als einziger gegen den Ausschluss Havemanns gestimmt haben soll, musste sich nach seinen Äußerungen eines Besseren belehren lassen, was seine Meinung über Havemann anbelangt. Er halte Havemann für einen ganz verworrenen Menschen, der allgemeines demokratisches Gerede betreffs ideologischer Freizügigkeit von sich gibt. Trotzdem habe er nach seiner Meinung aber keine feindliche Konzeption gezielt verbreitet.
Auch die Haltung der sehr eng mit Havemann befreundeten Wolf Biermann und Ronald Paris42 ist sehr viel differenzierter geworden. Biermann, der in der Vergangenheit betonte, Havemann sei sein großes »Vorbild« und sein »Erzieher«, erklärte in letzter Zeit, er sei mit einigen Schritten Havemanns nicht ganz einverstanden. Das bezieht sich auf sein »Interview« und auf den beabsichtigten Prozess gegen Neß bzw. gegen das »Hamburger Echo am Abend«, der ein Ausdruck seiner Eitelkeit sei. Ferner verurteilte er auch noch andere negative Charakterzüge von Havemann und sprach in diesem Zusammenhang von Selbstherrlichkeit, Überheblichkeit und »stalinistischem Charakter«.
In gleicher Form reagierte Ronald Paris in letzter Zeit. Es liegen Hinweise vor, dass Paris in noch schärferer Form gegen diese Haltung Havemanns aufgetreten ist, was Biermann zu der sinngemäßen Feststellung veranlasste: Paris falle von einem Extrem ins andere. Sollen sie doch denn hingehen zum »ND« und schreiben »Haut den Hetzer Havemann«. Jetzt versuchen sie sich ins Gewissen zu reden, dass es richtig sei, ihn zu verraten. Sollen sie lieber als Freunde zu ihm halten und ihm seine (Havemanns) Fehler sagen. Beide pflegen jedoch noch die Verbindung mit Havemann und sind nach ihren Äußerungen überzeugt davon, dass Havemann (wie nach ihrer Ansicht übrigens Cremer auch) kein Feind der Partei sei.
Havemann steht nach wie vor mit Schriftsteller Heym43 in enger Verbindung und nach den uns bekannten Hinweisen unterstützt Heym vollinhaltlich die Haltung Havemanns.
Die bisher in dieser Information mitgeteilten Einzelheiten sind streng vertraulich und nur zur persönlichen Information bestimmt. Auch die in nachstehender Einschätzung der weiteren Reaktion anderer Personenkreise genannten Namen sind nur zur persönlichen Informierung gedacht und dürfen bei einer eventuellen Auswertung wegen der Gefährdung der Quellen nicht benutzt werden.
Hinweise auf die Reaktion zum Verhalten Prof. Havemanns
Seit der Veröffentlichung des Beschlusses des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen über die Suspendierung von Prof. Havemann sind besonders unter Studenten und Dozenten der Humboldt-Universität Berlin in verstärktem Maße Diskussionen zum Verhalten Prof. Havemanns aufgetreten. Aber auch unter Studenten, Dozenten und Wissenschaftlern in den Bezirken der DDR lösten die Vorkommnisse um Havemann teilweise Diskussionen aus, wenn sie im Allgemeinen auch weniger Resonanz fanden.
Unter einem größeren Teil der an diesen Diskussionen beteiligten Studenten, Dozenten und Wissenschaftlern verlaufen die Gespräche häufig in ungenügender Sachkenntnis oberflächlich und unkonkret. Völlige oder teilweise Identifizierung mit den revisionistischen Auffassungen Prof. Havemanns wurden nur in geringen Fällen bekannt.
Deutlich ist jedoch erkennbar, dass einige Studenten, Dozenten und Wissenschaftler mit ihren persönlichen Meinungen zurückhalten, angeblich, um eventuellen Kritiken aus dem Wege zu gehen.
Besonders unter Studenten einiger Fakultäten der Humboldt-Universität (Chemie, Physik, veterinärmed.) ist jedoch zu verzeichnen, dass sie die von der Partei getroffenen Maßnahmen offen ablehnen. Sie fordern, man hätte die Meinungen Havemanns veröffentlichen sollen, um mindestens den Studenten ein selbstständiges Urteil zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang wird wiederholt festgestellt, und teilweise auch offen zuzugeben, dass Studenten, Dozenten und Wissenschaftler bestrebt sind, nähere Informationen über die revisionistischen Ansichten Havemanns über westliche Rundfunkstationen zu erhalten. Aus diesen Quellen stammen die genauen Kenntnisse einiger Personen zum Inhalt des Interviews Havemanns mit dem westdeutschen Journalisten Neß.
Verhältnismäßig großes Interesse besteht vor allem unter Studenten in den Besitz der von Havemann verfassten Skripten zu kommen (u. a. Studentenwohnheim Biesdorf, Veterinärmedizinische Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig, Physikalisch-Chemisches Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, Universität Halle, Technische Hochschule Merseburg, Pädagogische Hochschule Potsdam).
Während einige Studenten die in ihrem Besitz befindlichen Skripten der Havemannschen Vorlesungsreihe an ihren Bekanntenkreis verborgen bzw. verbreiten, werden z. B. in wenigen anderen Fällen die Schriften Havemanns an Bekannte weiterverkauft (Veterinärmedizinische Fakultät Humboldt-Universität für ca. 70,00 DM je Skriptur). Von anderen Studenten der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität wurden bis zu 100 DM für die Skripten geboten (für eine Skriptur 5,00 DM).
Studenten aus den verschiedensten Fakultäten in Berlin und in den Bezirken der DDR schätzen selbst ein, ihr Interesse an den Skripten Prof. Havemanns sei mit der Veröffentlichung über seine Haltung erst geweckt worden. Hätten sie ihn früher als Wissenschaftler und fähigen Lehrstuhlleiter zwar geschützt, so sei jetzt starkes Interesse vorhanden, über alle seine Ansichten informiert zu sein.
Die Diskussionen vor allem unter Studenten beinhalten noch eine Reihe von Unklarheiten, und die Vorgänge um Havemann werden von ihnen häufig unrichtig eingeschätzt.
Ein großer Teil der Studenten (vor allem an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität) äußert Unverständnis, warum das Auftreten Havemanns vor der Westpresse als Verrat eingeschätzt wird. Ihre Argumente beinhalten den Grundtenor, in der Verfassung der DDR würde jedem DDR-Bürger »Freiheit« hinsichtlich seiner Weltanschauung und seines Glaubens zugesichert und garantiert, dass ihm daraus keine beruflichen und persönlichen Nachteile entstehen. Havemann seien jedoch aus seiner Einstellung persönliche und berufliche Nachteile erwachsen.
In Diskussionen unter Studenten besonders der Humboldt-Uni spielen weiterhin folgende Fragen in Diskussionen eine Rolle: Havemann habe zwar Probleme aufgeworfen, die jedoch im Grundstudium der Lehranstalten nicht generell aufgegriffen worden seien, angeblich also keine negativen Einflüsse unter den Studenten verbreiten konnten.
Für Teile der Studenten ist unverständlich, warum erst jetzt in solchem Umfang Auseinandersetzungen mit Havemann geführt werden. Jetzt sei Havemann die Möglichkeit einer »Verteidigung« genommen. Einige Studenten (Medizinische Fakultät, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät, Institut für allgemeine Biologie) sprechen sich für eine Diskussion mit Havemann vor seinen 600 Zuhörern aus, an der nach ihren Vorstellungen auch führende Parteifunktionäre beteiligt sein müssten. Erst nach einem solchen Disput sei eine »freie Meinungsbildung« möglich. Die Partei organisiere aber zurzeit die Diskussion so, dass die Beeinflussung nur durch eine Seite (die »Parteiseite«) erfolgen und die andere Seite bewusst ausgeschaltet werden solle. Es wäre ihrer Meinung nach notwendig, den »Drang« nach uneingeschränkter Information zu befriedigen. Einige Studenten und Dozenten (z. B. des Physikalisch-Chemischen Instituts, der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät, des Kunsthistorischen Instituts der Philosophischen Fakultät Leipzig u. a.) verlangen in individuellen Gesprächen eine allseitige Informierung über die Ansichten Havemanns, sein Hamburger Interview und seine Haltung nach den Auseinandersetzungen mit ihm. Auch müsse der Zeitpunkt des Beginns und der gesamte Verlauf der Auseinandersetzungen mit Havemann veröffentlicht werden. Es besteht unter einigen Studenten Unklarheit, warum die Meinungen Havemanns angeblich über eine verhältnismäßig große Zeitspanne zugelassen worden seien. Unter Havemanns Zuhörern werden Argumente verbreitet, wonach aus »Unvermögen« und »Feigheit« in Vorlesungen Havemanns niemals ein Parteifunktionär mit Gegenargumenten aufgetreten sei.
Philosophen und Funktionäre seien Havemanns Problemen angeblich nicht gewachsen gewesen. Anstelle einer sachlichen Diskussion würden jetzt Maßnahmen administrativ getroffen.44 (Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät)45
Unter Medizin-Studenten (Humboldt-Universität, Seminar II/11) sind Diskussionen über die Begriffe Revisionismus und Dogmatismus im Gange, wobei eine solche Auffassung in den Vordergrund tritt, der Begriff Revisionismus werde in den verschiedensten politischen Entwicklungsperioden relativ verschiedenartig ausgelegt. Was heute revisionistisch sei, könne morgen als aktuell und durchaus als politische Konzeption gelten.
Dass Havemann eventuell später rehabilitiert werden könne, da seine »als alter Kommunist« vorausgesagte Linie doch richtig sein könnte, erscheint einigen Studenten als durchaus möglich, wobei sie immer wieder auf den Umstand verweisen, bei Havemann handle es sich um ein »erfahrenes« und »geprüftes« SED-Mitglied, der bereits während der Nazizeit »seinen Kopf« hingehalten habe.
Bei diesen Diskussionen tritt unter den Medizinern vor allem der Student Rauhut46 (Seminar II/11) mit Argumenten in Erscheinung, wie – in der Partei ist die Hauptaufgabe der Kampf gegen den Dogmatismus, nicht der Kampf gegen den Revisionismus; – in der Überwindung des Personenkults steht die Partei erst am Anfang.
Ähnliche Argumente verbreitet die am Gerichtsmedizinischen Institut beschäftigte medizinisch-technische Assistentin [Name 1], die u. a. äußert – Havemann müsse man zustimmen, er zeige die gleiche Zivilcourage wie unter den Nazis; – wenn in der DDR jemand in seiner Meinung etwas riskiere, verschwinde er in der Versenkung.
Ein größerer Teil von Dozenten bzw. Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Mitarbeitern verurteilt das Verhalten Prof. Havemanns, insbesondere die Gewährung des Interviews. Sie halten das Interview für »unglücklich« und »unangebracht«. Einige Wissenschaftler, besonders aus dem Bekanntenkreis Havemanns, erklären aber auch, Havemann sei ein »Hitzkopf«, man dürfe sein Auftreten vor westdeutschen Journalisten »nicht so ernst« werten (z. B. Direktor des III. Physikalischen Instituts der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, Dr. Täubert47). Havemann habe sich die Folgen des Interviews »nicht überlegt« und es sei »als Fehltritt glücklicher Anlass« gewesen, »Havemann aus dem Sattel zu heben.«
Wiederholt wird von Dozenten hervorgehoben, man hätte vor allen Beschlüssen über Havemann bedenken sollen, dass er bei seinen Studenten außerordentlich beliebt gewesen sei. Er habe unter den Studenten Bewegung und Begeisterung ausgelöst, wäre bewundert worden und man habe ihn für unbedingt positiv gehalten. Er habe nie den Westen angebetet, habe aber bei den Studenten »Bewunderung« gefunden, da er unsere Verhältnisse »im positiven Sinne« ändern wollte. Havemann habe verstanden, schwierige politische und wissenschaftliche Fragen in leicht verständlicher Form zu behandeln, was seinen Kollegen nicht gelinge. Es sei daher unverständlich, dass die Jugend heftig gegen die Ablösung von Havemann opponiere. Es wird die Befürchtung ausgesprochen, es könne mit dem Ausscheiden Havemanns eine Stagnation des geistigen Lebens auf dem von Havemann gelehrten Gebiet auftreten.
In persönlichen Gesprächen bringen einzelne Wissenschaftler bestimmte Vorbehalte gegen die Vorkommnisse um Havemann hauptsächlich in der Richtung zum Ausdruck, dass die Grundhaltung Havemanns als »unschädliche politische Plattform« eingeschätzt wird (z. B. Prof. Eckardt,48 Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät Jena). Sein Verhalten sei lediglich als »taktischer Fehler« zu betrachten, indem er durch seine Veröffentlichung die »politischen Spielregeln« verletzt habe. Im Übrigen könne bisher niemand genau einschätzen, worin die revisionistischen Auffassungen Havemanns bestünden, da es an Informationsmaterial mangele. (Die Universitätsparteileitung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät Jena legte fest, sofort nach Kenntnis des Havemannschen Presseinterviews umfassende Aussprachen unter den Dozenten und Studenten zu organisieren.)
Ähnliche Ansichten hinsichtlich einer Unschädlichkeit der Theorie Havemanns vertrat Dr. [Name 2] aus der Richtung Mathematik/Physik der Humboldt-Universität, wobei er hervorhob, die Vorlesungen Havemanns hätten das große Plus gehabt, die Studenten zum politischen Denken zu veranlassen.
Einige andere Dozenten und Wissenschaftler vertreten neben einem Bagatellisieren der Theorien Havemanns offen oder in individuellen Gesprächen diese Linie und machen sie zu den eigenen Anschauungen, ohne jedoch dabei einen größeren Hörerkreis gewinnen oder in die Öffentlichkeit treten zu wollen. So äußerte z. B. Prof. Klein,49 Abt. systematische Pädagogik, in Anlehnung an die Theorien Havemanns, es sei das Verdienst Havemanns, die Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Er billige vollkommen die Meinung Havemanns über die absolute und uneingeschränkte Information. Wir könnten in Westdeutschland den Sozialismus nur zum Siege verhelfen, wenn man die Vorgänge dort genau kenne. Der Kreis der Menschen, der darüber informiert sei, wäre bei uns zu klein und vergrößere sich nur »mit der weiteren Entwicklung der Demokratie«. Er sei peinlich berührt, wie in der DDR mit Parteibeschlüssen gearbeitet würde; Havemann sei zuzustimmen, dass wissenschaftliche Probleme nicht durch demokratische Abstimmung oder Parteibeschlüsse gelöst werden könnten. Prof. Klein wird teilweise durch Dr. Garsky50 unterstützt, der u. a. der Ansicht ist, dass man die Idee von Havemann aufgreifen müsse, der die Formulierung von Marx interpretiert habe, »der Marxismus wäre der größte Zweifel«, »wir hätten doch häufig erleben müssen, wie die Partei ihre Beschlüsse revidierte«.
Im individuellen Gespräch verteidigte auch der Vizepräsident der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften und Direktor des Bodenkundlichen Instituts Eberswalde, Prof. Ehwald51 (sein Sohn hat als Student der Humboldt-Uni den Vorlesungen Havemanns beigewohnt) die Plattform Havemanns, hauptsächlich in der Richtung, Havemann habe sich zu Recht gegen den Dogmatismus gewandt, den auch er bekämpfen würde.
Der von Havemann dargelegte »Freiheitsbegriff« findet u. a. Zustimmung bei einigen Diplom-Ingenieuren vom Institut für Hochfrequenztechnik und Elektroakustik der Technischen Hochschule Ilmenau (Diplom-Ingenieur [Vorname Name 3], Diplom-Ingenieur [Vorname Name 4], Diplom-Ingenieur [Vorname Name 5]) sowie beim Diplom-Ingenieur [Vorname Name 6] vom Institut für Mikrowellentechnik der Technischen Hochschule. Unter dem »Freiheitsbegriff« stelle man sich nicht nur Freiheit auf wissenschaftlichem Gebiet, sondern auch auf politischem Gebiet vor. (Unter diesem Aspekt wird von ihnen die Staatsgrenze nach Westberlin abgelehnt.) Freiheit würde weiter bedeuten, dass jeder Interessierte in der DDR das von Prof. Havemann in Westdeutschland veröffentlichte Interview gedruckt erhalten könnte.
Ein kleiner Kreis bestimmter Dozenten der Franz-Liszt-Hochschule Weimar ist an den Auseinandersetzungen mit Havemann sehr interessiert. Besonders Prof. Böckmann äußert sich in der Richtung, er sei gespannt, wie man Prof. Havemann – der seiner Meinung nach den Mut zur Wahrheit hatte – weiter einsetzen wird. Man solle in der DDR mit dem »Zwang« und der »Knebelung« aufhören und den Menschen die »Freiheit« lassen. Der »Druck der Partei« werde von vielen denkenden Menschen verurteilt. Die Ansichten Prof. Böckmanns52 finden Zustimmung bei Prof. Draeger,53 Prof. Köhler,54 Dozent Kirmße55 und Dozentin [Name 7] (alle von der gleichen Musikhochschule).
Eine teilweise Identifizierung mit den revisionistischen Auffassungen Prof. Havemanns wurde ferner in einigen Einzelfällen aus der Karl-Marx-Uni Leipzig bekannt, wobei die Theorien Havemanns vor allem dazu benutzt werden, die eigenen Anschauungen von einer »Enge in der Kunst« zu untermauern. Insbesondere tritt dabei Dr. phil. Günter Meißner,56 wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der Philosophischen Fakultät, in Erscheinung, der z. B. im internen Gesprächen die Meinung vertritt, die gesamte Kunstauffassung in der DDR ziele auf eine Vulgarisierung hin, eine echte, freie Kunst wäre in der DDR aufgrund der politischen Bedingungen nicht möglich. Im Sinne der verfassungsmäßig garantierten Meinungsfreiheit habe sich Havemann eines Sprachrohrs bedient, das seine Ansichten nicht unterdrücke. Das »deutsche Gespräch« würde auf der einen Seite gefördert, auf der anderen aber ausgeschaltet.
In ähnlicher Richtung äußerten sich andere Einzelpersonen. (z. B. freischaffender Leipziger Grafiker Werner Hennig,57 Student [Vorname Name 8], Medizinische Fakultät der Karl-Marx-Universität, [Vorname Name 9] und [Vorname Name 10], beide wissenschaftliche Assistenten am Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Medizinischen Fakultät).
Eine Anlehnung an die Ansichten Havemanns und eine – wie sie erklären – »ehrliche Besorgnis über die falsche Behandlung Havemanns« wird ferner über die Gastdozenten an der Journalistischen Fakultät Leipzig, Karel Dlonky (ČSSR) und T. Nicolaou58 (Griechenland) bekannt. In ähnlicher Hinsicht äußern sich wenige Wissenschaftler am Institut für angewandte Radiotechnik Leipzig. Ihre Ansichten begründen sie u. a. mit der Feststellung, dass früher auch niemand gegen Offenställe etwas einwenden durfte, jetzt die Partei aber ihre Festlegungen stillschweigend revidiere.