Verhalten Professor Havemanns und seines engsten Umgangskreises
20. März 1964
Einzelinformation Nr. 233/64 über das Verhalten Prof. Havemanns und seines engsten Umgangskreises – einige Auswirkungen seines Verhaltens
Wie dem MfS bekannt wurde, versucht Prof. Havemann1 nach wie vor zu widerlegen, dass er dem Hamburger Journalisten Karl-Heinz Neß2 ein Interview gewährt habe.3 Zum Beispiel erklärte Prof. Havemann am 13.3.1964 in einem Gespräch mit den Professoren Bernhard4 (Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität) und Kolditz5 (I. Chemisches Institut der Humboldt-Universität), er habe nur ein wissenschaftliches Gespräch mit Neß geführt und die Veröffentlichung als Interview sei ohne seine Kenntnis und ohne sein Einverständnis erfolgt. So wurde dem MfS auch bekannt, dass Prof. Havemann beabsichtigen soll, rechtlich gegen das »Hamburger Echo am Abend«6 vorzugehen, um den Nachweis zu erbringen, niemals ein Interview gegeben zu haben. Es wird dabei von Neß – in offensichtlicher Übereinstimmung mit der westlichen Linie zur »Entlastung« Havemanns – unterstützt. So wurden Angaben Neß’ bekannt, wonach er (Neß) nicht im Auftrage des »Hamburger Echos am Abend« mit Havemann und niemals von einem »Interview« gesprochen haben will. Er sei jederzeit bereit, zur »Klärung« der »Weiterungen« nach Berlin zu kommen. (Neß ist dem MfS als Journalist jener Kategorie bekannt, die »geeignete« Materialien an interessierende westdeutsche Stellen leiten und die – verständigungsbereit getarnt – vielfältige Kontakte zu knüpfen und im gegnerischen Sinne auszunutzen versuchen.) Wie dem MfS weiter bekannt wurde, versuchte ferner ein angeblich für den »Spiegel« tätiger Journalist [Name 1] am 14.3.1964 von Westberlin aus ein Interview mit Prof. Havemann zu vereinbaren. Havemann lehnte dies ab mit dem Hinweis, dass er sich am Sonnabend/Sonntag nicht in Berlin aufhalte und auch später nicht an einem Interview interessiert sei. Meldungen über seine Entfernung von der Humboldt-Universität entsprächen nicht den Tatsachen. Alle Missverständnisse würden sich aufklären.
Um den Rechtfertigungsversuchen den nötigen Nachdruck zu verleihen, wurde von Prof. Havemann, Prof. Bernhard und Prof. Kolditz in dem bereits am Anfang erwähnten Gespräch die Abfassung eines gemeinsamen Protestschreibens vereinbart, dass an das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen geschickt und in dem gegen die Entlassung Prof. Havemanns protestiert werden sollte. Zu diesem Zweck wollten sich Prof. Havemann und Prof. Bernhard am Abend des 13.3.1964 in der Wohnung von Prof. Kolditz treffen, dessen Frau das Protestschreiben mit der Schreibmaschine schreiben sollte.
Aufgrund des vom Staatssekretär Gießmann7 an Prof. Havemann nachträglich gerichteten Schreibens (das erste Schreiben vom 12.3.1964 sei im Sinne einer Entbindung von den Dienstpflichten gemäß § 12 der Disziplinarordnung für Hochschullehrer aufzufassen und es werde deshalb ein Disziplinarverfahren gegen Prof. Havemann eingeleitet)8 und der Aussprache seitens der Universitätsparteileitung9 mit den Professoren Bernhard und Kolditz über ihr Vorhaben erklärten die letztgenannten Professoren, von diesem Protestschreiben Abstand zu nehmen. Sie wiesen jedoch darauf hin, dass sie sich trotzdem am Abend des 13.3.1964 bei Kolditz treffen werden, weil dies eine seit längerer Zeit festgelegte Einladung zum Abendessen sei. (Über den Verlauf dieser Zusammenkunft liegen keine Angaben vor.)
Anlässlich des Geburtstages Prof. Havemanns wurde er in seinem Wochenendhaus in Grünheide außer von Prof. Kolditz und Prof. Bernhard u. a. auch von Stefan Heym,10 Wolf Biermann,11 Ronald Paris12 (mit Ehefrau)13 und der Historikerin Welskopf14 (mit Ehemann)15 besucht. Wie Prof. Kolditz anschließend äußerte, sei er der Einladung nur gefolgt, weil er gegenwärtig die Dienstaufsicht über das Physikalisch-Chemische Institut ausübe und weil sich aus dieser Tätigkeit im Zusammenhang mit der Rolle Havemanns als Fachrichtungsleiter Chemie eine Reihe Probleme der Ausbildung ergaben. Havemann habe auf dieser Zusammenkunft noch einmal seine Auffassungen zur gegenwärtigen Situation dahingehend dargelegt, dass die Entwicklung sich nicht aufhalten lasse. Die notwendigen Änderungen in der wissenschaftlichen Weltanschauung würden kommen. Er sei und bleibe Kommunist, auch wenn er inhaftiert werde. Sein Pech sei, dass er als gegenwärtiger »Stein des Anstoßes« drangekommen sei.
Prof. Kolditz ließ am 16.3.1964 in Gesprächen in der Universität durchblicken, dass Prof. Bernhard und er sich zu einer abwartenden Haltung entschlossen hätten. Sie rechnen mit weiteren Konsequenzen gegen Havemann, z. B. dass er eventuell auch noch als Institutsdirektor16 abberufen werde und dass auch Parteiverfahren gegen Genossen im Kreis um Havemann kämen. Bei der am 14.3.1964 durch den Universitätspressereferent Wuttke und Justitiar im Rektorat Müller schriftlich und mündlich erfolgten Benachrichtigung Havemanns, dass am 21.3.1964 der Disziplinarausschuss der Humboldt-Universität und am 23.3.1964 der Disziplinarausschuss des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen zusammentreten werden, um über ihn zu beraten, hätte Havemann nach Angaben der beiden Genossen einen nervösen und nicht mehr so selbstsicheren Eindruck wie bisher gemacht.
Prof. Havemann erkundigte sich nach der Besetzung des Disziplinarausschusses (ihm wurden die Prof. Steiniger,17 Claassen18 und Kettler19 genannt)20 und wollte wissen, ob er einen Rechtsbeistand hinzuziehen könne, obwohl er als stellvertretender Vorsitzender des Disziplinarausschusses wissen muss, dass dies die Verfahrensregeln der Disziplinarkommission nicht zulassen.
An der Humboldt-Universität gibt es im Zusammenhang mit dem Disziplinarverfahren Diskussionen, dass Prof. Bernhard persönlich vor dem Disziplinarausschuss auftreten möchte und deshalb auch an Staatssekretär Gießmann herangetreten sei.21
Die Auseinandersetzungen mit Havemann nahm der wissenschaftliche Mitarbeiter vom Institut für Agrarraumforschung (Institut auf ausländische Landwirtschaft) [sic!] der Landwirtschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Dr. [Name 2] zum Anlass, um im Gespräch seine Meinung zu den Auswirkungen der Auseinandersetzungen mit Havemann zu äußern und mit seinen eigenen feindlichen Auffassungen zu verbinden. Bei Dr. [Name 2] handelt es sich um einen jungen Wissenschaftler, der schon während seines Oberschulbesuches und während seines Studiums in Halle seine DDR-feindliche Einstellung offen zum Ausdruck brachte. Er operiert meistens mit westlichen Argumenten und unterhält enge Verbindungen zu »republikflüchtigen« Wissenschaftlern und Studenten, zu Kräften mit reaktionären Auffassungen und verschiedenen Institutionen der DDR usw. Besonders hervorzuheben sind seine engen Kontakte zur Evangelischen Akademie in der Hauptstadt der DDR und in Westberlin, an deren Tagungen er häufig teilnahm und dort aus seiner reaktionären Einstellung keinen Hehl machte.
Dr. [Name 2] vertrete die Meinung, dass etwa 90 % der Assistenten und Studenten nach wie vor mit Havemanns Auffassungen übereinstimmen und sie auch unterstützen würden. Das Interview Havemanns mit der Hamburger Zeitung »Echo am Abend« sei ein »großer Fehler« Havemanns gewesen, da der damit den Boden der Legalität verlassen habe. Über diesen »Fehler« wären auch Havemanns Freunde im Ausland sehr enttäuscht. Er, Dr. [Name 2], habe von seinen Besuchen in Prag und Budapest im letzten Jahr und aus anderen Quellen davon Kenntnis, dass die sogenannten flexibleren Kräfte in anderen sozialistischen Ländern, insbesondere der ČSSR und Ungarns, sowohl »Basis als auch vorwärtsdrängende Gewalt« seien. Der Kampf dieser Kräfte richte sich gegen Sektierertum und Dogmatismus. Sie wären nicht gegen den Sozialismus, sondern gegen das System eingestellt, insbesondere gegen das in der DDR praktizierte System.
Seiner Meinung nach habe Havemann durch sein Auftreten in der Westpresse den Fehler Jewtuschenkos22 wiederholt. Er halte dies für völlig falsch. Man müsste vielmehr im Innern arbeiten, gegen das System auftreten und es verändern, dürfe dabei den Boden der Legalität jedoch nicht verlassen. Die Führung der DDR könne anstellen was sie wolle, die Massen würden ihr nicht glauben und alle Maßnahmen (z. B. das Passierscheinabkommen) nur als taktische Manöver der Parteiführung ansehen. Seiner Meinung nach müsse die Führung weg.
Dr. [Name 2] habe sich Gedanken gemacht, warum bisherige Versuche zur Veränderung der Führung nicht gelungen seien. Seiner Meinung nach habe die harte Ausbildung der heutigen mittleren Funktionärskader während der »Stalinzeit« dazu geführt, dass diese Kader der Führung bedingungslos gehorchen. Diese mittleren Kader betrachte er als eine Misere, da ihre Ausbildung einseitig gewesen sei, ihre Fachkenntnisse seien ungenügend und sie würden die Wissenschaftlichkeit »Absterben lassen«. In diesem Zusammenhang wies Dr. [Name 2] darauf hin, dass eine wissenschaftliche Arbeit nur noch an solchen Instituten möglich sei, wo die Partei keinen Einfluss habe. Unter den Kräften, die am Deutschen Wörterbuch mitarbeiten, gebe es keine SED-Mitglieder und selbst die FDGB-Mitgliedschaft werde von der Mehrheit der Mitarbeiter abgelehnt. Dort würde in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern Westdeutschlands, besonders aus Göttingen, eine ernste wissenschaftliche Arbeit geleistet. Die Abschirmung nach außen hin würde durch Prof. Steinitz23 erfolgen.
Weitere Äußerungen zu den Auseinandersetzungen mit Havemann und ihren Auswirkungen wurden auch aus dem Physikalisch-Chemischen Institut der Humboldt-Universität bekannt.
In einem Gespräch zwischen den Mitarbeitern dieses Institutes Dr. Haberditzl24 (Oberassistent), Dr. Pietsch25 und Reimer26 am 16.3.1964 bezeichnete Dr. Haberditzl die Handlungsweise Havemanns als politisches Abenteurertum und als Ausdruck einer anarchistischen Einstellung. Dr. Pietsch hatte seinen Gesprächspartner davon zu überzeugen versucht, dass die Handlungsweise Havemanns eine Dummheit und ein einmaliges Versagen gewesen sei. Insgesamt seien alle drei zu der Auffassung gelangt, dass der Fall Havemann äußerst verfahren sei und von dem Disziplinarverfahren am 21.3.1964 kein positiver Ausgang für Havemann zu erwarten sei.
Am Philosophischen Institut schätzte die Parteileitung in ihrem Bericht an die Mitgliederversammlung zwar ein, dass Havemann in politisch-ideologischer Hinsicht keinen Einbruch am Philosophischen Institut erzielt habe. Es wurden jedoch Äußerungen bekannt, die zeigen, dass Professoren der Philosophischen Fakultät sich in Zukunft in politischen Fragen zurückhalten wollen. Angeblich hätten sie gesehen, wohin es führe, wenn man offen seine Meinung sage. Unter den Lehrkräften des Instituts für Philosophie gibt es Befürchtungen dahingehend, dass der Kampf gegen Havemann dem Dogmatismus einen neuen Aufschwung gebe. In diesem Sinne habe sich auch Prof. Klaus27 geäußert.
In diesem Zusammenhang wird auch auf die unter Studenten (z. B. des 4. Studienjahres des Philosophischen Instituts) geführten Diskussionen hingewiesen, wonach überprüft würde, ob Havemann während der Nazi-Zeit bei der Gestapo zum Verräter wurde.28 Ein weiteres Gerücht besage, dass während der wissenschaftlichen Tätigkeit Havemanns bei Agfa/Wolfen die Qualität der Tonbänder schlechter geworden sei. Das Vorhandensein dieser Diskussionen wird auf entsprechende Äußerungen Prof. Leys29 gegenüber Studenten zurückgeführt. Inzwischen wurden diese Äußerungen Prof. Leys in einer öffentlichen Parteiversammlung des 4. Studienjahres des Philosophischen Instituts offensichtlich von Havemann-Anhängern hochgespielt und dazu benutzt, das Vorgehen gegen Havemann als »auf Intrigen basierend« darzustellen.