Verlauf der beiden Regionalsynoden der Landeskirche Berlin
2. Dezember 1964
Einzelinformation Nr. 1071/64 über Verlauf und Ergebnisse der beiden Regionalsynoden der Evangelischen »Landeskirche Berlin-Brandenburg«
Über die beiden Regionalsynoden, die vom 8. bzw. 9.11. bis 13.11.1964 in der Hauptstadt der DDR (Weißensee/Stephanus-Stift)1 und in Westberlin (Spandau/Johannisstift)2 stattfanden, berichteten zuverlässige Quellen.
Nach übereinstimmenden Berichten und Einschätzungen hat sich insbesondere auf der Regionalsynode in Weißensee gezeigt, dass die von einer realeren Einschätzung der Lage ausgehenden Kreise der Evangelischen Kirche an Einfluss gewonnen haben. Der Verlauf der Regionalsynode widerspiegelte in gewisser Weise die in kirchlichen Kreisen vorhandenen Differenzen und den Stand der Auseinandersetzungen zwischen Generalsuperintendent Jacob3 und seinen Anhängern, die bestrebt sind, sich auf ein »Leben im Staat« einzurichten und dabei Wege zur Erhöhung des Einflusses der Kirche zu finden und zu beschreiten, und den reaktionären Kreisen, die den sogenannten Kirchenkampf forcieren und vom Staat Zugeständnisse erzwingen wollen.
Die innerkirchliche Situation war schon zur Zeit der Vorbereitung der Synoden u. a. durch eine Reihe theologischer und kirchenpolitischer Differenzen gekennzeichnet. Sie bezogen sich auf Probleme der Konfirmations- und Taufpraxis und auf die Stellung der Kirche zum Staat. Generalsuperintendent Jacob und seine Anhänger verfolgten deshalb schon lange Zeit vor der Synode und auf der Synode selbst das Ziel, die strittigen Probleme im Interesse der Festigung der »Einheit« der Kirche weitgehend zu klären und Auseinandersetzungen mit dem Staat zu vermeiden.
Der in Weißensee gegebene Bericht der Kirchenleitung, der als eine kollektive Arbeit und unter maßgeblichem Einfluss Jacobs entstand, enthielt keine Angriffe gegen die DDR. Wenn im Bericht auch verschiedene Passagen den Einfluss reaktionärer Kräfte erkennen lassen, überwiegt doch die Linie, dass die Kirche sich den Verhältnissen in der DDR anpassen und ihre Tätigkeit danach einrichten müsse, da an eine Veränderung dieser Verhältnisse nicht zu denken sei. Der Regierung der DDR wurde für eine Reihe von Maßnahmen der Dank ausgesprochen.
Im Bericht wurde die Lage der Kirche dargelegt, wobei auf die sogenannten schwachen Stellen der kirchlichen Arbeit hingewiesen wurde. Der rote Faden des Berichtes war die Aufforderung an alle Geistlichen und Laien, unter Berücksichtigung der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, aber auch des derzeitigen Schrumpfungsprozesses der Kirche, die Arbeit der Kirche neu zu organisieren und ihren Aktionsradius zu erweitern. Der Bericht habe aufgrund seiner Sachlichkeit bei den Synodalen großen Widerhall gefunden.
Wie übereinstimmend berichtet wurde, habe die in Weißensee geführte Debatte zum Bericht der Kirchenleitung gezeigt, dass es zu einer gewissen Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der Weißenseer Synode gekommen ist. Für den gesamten Verlauf der Regionalsynode habe von vornherein der Gesichtspunkt eine wesentliche Rolle gespielt, inwieweit es dem Verwalter des Bischofsamtes Generalsuperintendent Jacob sowie dem Generalsuperintendenten Schönherr4 und ihren Anhängern gelingt, ihre Positionen zu festigen und gegen die Angriffe der reaktionären Kräfte zu verteidigen.
Dabei wurde erstmals festgestellt, dass die progressiven Sprecher in der Synode wie Pfarrer Kasner5 (Templin), Prof. Dr. Hanfried Müller6 und andere in ihren Diskussionsbeiträgen und Anträgen von Schönherr, Lahr7 und Jacob unterstützt wurden.
Die reaktionäre Gruppierung um Oberkonsistorialrat Ringhardt,8 Präses Figur,9 Dr. Pietz10 und anderen trat in den Auseinandersetzungen um innerkirchliche Probleme wie Taufe und Konfirmationspraxis scharfmacherisch auf und versuchte vor allem, die Frage des Wehrersatzdienstes11 hochzuspielen. Sie forderten, die Pfarrer zu verurteilen und disziplinarisch zu maßregeln, die sich in der Taufpraxis der bisherigen Linie der Kirchenleitung widersetzten, um die Jugendweihe12 zu verurteilen. Gegenüber der Regierung der DDR soll die Forderung nach Einrichtung eines Wehrersatzdienstes durchgesetzt werden, der nicht der NVA unterstellt ist.
Diese reaktionäre Gruppe wurde von dem Westberliner Generalsuperintendenten Helbich13 stark unterstützt. Helbich trat in Weißensee als Abgesandter der Westberliner Regionalsynode auf. In seinen Ausführungen unterstrich er besonders, dass es aufgrund der in der DDR vor sich gegangenen »Veränderungen« Möglichkeiten für die Durchsetzung weiterer kirchlicher Forderungen geben würde. Helbich erhob in diesem Zusammenhang auch die Forderung, die Rückkehr von Präses Scharf14 in die Hauptstadt der DDR durchzusetzen.
Als Sprecher der reaktionären Gruppe auf der Regionalsynode in Weißensee trat besonders der Leiter des sogenannten Berliner Predigerseminars »Paulinum« Pfarrer Dr. Pietz in Erscheinung. Unmittelbar nach Eröffnung der Debatte zum Bericht der Kirchenleitung habe er völlig unerwartet das Problem des Wehrersatzdienstes zur Diskussion gestellt. Dr. Pietz habe – in Übereinstimmung mit der Linie Helbichs – in aggressiver Form vom Staat weitere Zugeständnisse für Wehrdienstverweigerer gefordert. Er bezeichnete die Schaffung von Baubataillonen aus Wehrdienstverweigerern als ein »Manöver« der Regierung der DDR und forderte von der Synode, einem Schreiben an den Verteidigungsrat der DDR zuzustimmen, wonach der Beschluss über den Wehrersatzdienst nicht anerkannt werden könne. Der Beschluss solle dahingehend abgeändert werden, Wehrdienstverweigerer aus Gesinnungsgründen nicht beim Bau militärischer Anlagen einzusetzen, sondern z. B. bei Katastropheneinsätzen, in Anstalten für Schwachsinnige usw., um dadurch eine NVA-Unterstellung zu vermeiden.
In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass Präses Scharf auf der Westberliner Regionalsynode die gleichen Forderungen wie Dr. Pietz erhob. Präses Scharf hatte den Bericht von Generalsuperintendent Jacob in der Frage der Behandlung des Wehrersatzdienstes kritisiert, wobei er betonte, dass dieses Problem zu knapp behandelt worden sei. Präses Scharf führte aus, dass die Einrichtung von Baubataillonen noch unzureichend sei, da die Wehrdienstverweigerer immer noch als Soldaten der NVA anzusehen und an das Gelöbnis gebunden seien.
Auf der Regionalsynode in Weißensee stießen die provokatorischen Forderungen der reaktionären Gruppe bei der Mehrheit der Synodalen auf Ablehnung. Erst nach langen Diskussionen sei ein Beschluss gefasst worden, der u. a. den folgenden Abschnitt enthält: »Die Regionalsynode Berlin-Brandenburg beauftragt die Kirchenleitung, in Koordinierung mit den anderen evangelischen Kirchenleitungen in der DDR auf eine ihr geeignet erscheinende Weise in ein Gespräch mit der Regierung der DDR über den hier angeschnittenen Fragenkreis einzutreten. Darin sollten den staatlichen Stellen der Dank für die geschaffene Erleichterung ausgesprochen und die noch vorhandenen Gewissensbedenken geschildert werden. Zugleich sollten dabei Vorschläge unterbreitet werden, wie ein nichtmilitärischer Wehrersatzdienst aussehen könnte. Innerhalb der Synode wurde dazu an den Einsatz bei Katastrophen, bei land- und forstwirtschaftlichen Notständen, im Straßen- oder Bergbau, in der Feuerwehr oder auch in Anstalten für Schwachsinnige erinnert, die zum Ersatzdienst Herangezogenen sollten finanziell nicht besser gestellt werden als Soldaten und mindestens für die gleiche Dienstzeit verpflichtet werden.«
Zu Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen kam es auf der Regionalsynode in Weißensee auch bei der Behandlung der sogenannten Lehrbeanstandungsordnung.15 Diese »Lehrbeanstandungsordnung« – in der Diskussion auf der Westberliner Regionalsynode auch als »Lehrzuchtordnung«16 bezeichnet – sieht sogenannten theologische Lehrgespräche und in ihrem zweiten Teil »Spruchkammerverfahren« gegen eine Art geistliche Delinquenten vor. Während die Kreise um Jacob darin eine Möglichkeit sehen, ein »besseres einheitliches« Auftreten der Geistlichen sichern zu helfen, betrachten reaktionäre Kreise diese »Lehrbeanstandungsordnung« als Handhabe, gegen fortschrittliche Theologen vorzugehen. Die »Lehrbeanstandungsordnung« wurde in Weißensee mit einem Zusatz angenommen, in welchem (sinngemäß) betont wird, dass sich diese Ordnung nicht gegen kirchliche Amtsträger richtet, die eine andere politische Meinung haben. Allerdings müsse die Kirche auch, »wenn sich ein Bruder oder eine Schwester der dargebotenen Hilfe beharrlich entziehen, im äußersten Fall einen Schnitt vollziehen«.
Auch hier wird darauf hingewiesen, dass es über die »Lehrbeanstandungsordnung« auf der Regionalsynode in Westberlin zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen kam. Von den dort 84 Anwesenden stimmten 65 dafür, sieben dagegen und zwölf enthielten sich der Stimme. Zu denen, die dagegen stimmten, gehören Pfarrer Gerlach, Propst Grüber,17 Pfarrer Kanitz18 und der Direktor der Stadtmission Gießen. Es ist erwähnenswert, dass Präses Altmann19 u. a. ausgeführt hatte, die Westberliner Synodalen möchten ihre Bedenken zurückstellen, da das sogenannten Lehrzuchtgesetz weniger für den Westen, sondern vielmehr für das Gebiet der DDR gedacht sei.
Im Verlauf und in den Ergebnissen der Regionalsynode in Westberlin hat sich gezeigt, dass die in Weißensee stattgefundene Synode einen gewissen Einfluss auf die Westberliner Synode ausgeübt hat. Bezeichnend ist dafür u. a. die Tatsache, dass der Westberliner Regionalsynode zwar ein Bericht der dortigen Kirchenleitung sowie ein Bericht von Bischof Dibelius20 vorlagen, der Inhalt des von Generalsuperintendent Jacob Weißensee gegebenen Berichts jedoch den eigentlichen Gegenstand der Debatte bildete. Der Bericht Jacobs fand verhältnismäßig große Zustimmung und soll in Westberlin auch weiter popularisiert werden. Sowohl Bischof Dibelius als auch Präses Scharf haben es vermieden, Angriffe gegen Jacob und seine Anhänger zu führen.
Wie von den Quellen berichtet wurde, bleiben politische Angriffe gegen die DDR im Wesentlichen auf wenige Äußerungen im Bericht von Bischof Dibelius beschränkt. Dibelius hatte versucht, seine sogenannten Obrigkeitsthesen21 wieder ins Spiel zu bringen und zu erweitern, sei dabei jedoch auf den Widerstand der Westberliner Synodalen gestoßen. Die Thesen von Dibelius, die wiederum als eine Art theologische Plattform gegen die Politik und Anerkennung der DDR gedacht waren, seien im Ergebnis der Auseinandersetzungen auf innere Probleme der evangelischen Kirche in Westberlin reduziert worden. An den Auffassungen von Bischof Dibelius sei selbst von Vertretern seiner eigenen Anhängerschaft Kritik geübt worden, u. a. von Pfarrer Gerlach, Pfarrer Rieger22, dem Synodalen Thiel, Propst Schutzka23 und Generalsuperintendent Helbich.
Es wird weiter übereinstimmend berichtet, dass auch in den Fragen der Herabsetzung des Wahlalters, der Lehrbeanstandungsordnung und in Konfirmations- und Tauffragen es den reaktionären Kräften in Westberlin nicht gelang, die Westberliner Synodalen auf ihre Standpunkte festzulegen. Die Ergebnisse der Regionalsynode in Weißensee in den Verhandlungen zu diesen Fragen hätten die Regionalsynoden in Westberlin beeinflusst. In der Frage der Herabsetzung des kirchlichen Wahlalters hatte der Vorsitzende des entsprechenden Ausschusses der Westberliner Synode u. a. damit operiert, dass die Regionalsynode in Weißensee dieses Gesetz schon in 2. Lesung angenommen habe. Er habe deshalb trotz der heftigen in Westberlin geführten Debatten die Annahme empfohlen. Das Wesentlichste in der Argumentation habe darin bestanden, dass die Kirche den jungen Menschen Verantwortung übertragen müsse.
Von Bedeutung ist ferner, dass sich die Regionalsynode in Westberlin erstmals im Wesentlichen mit der Situation in ihrem eigenen Bereich befassen musste. Die dort gefassten Beschlüsse waren auf die Situation in Westberlin zugeschnitten.
Völlig unabhängig voneinander beschlossen außerdem die Regionalsynode in Weißensee das sogenannten Raumordnungsgesetz über die Neuaufteilung der Kirchenkreise und die Westberliner Synode eine Vorlage, die sich mit der kirchlichen Arbeit auf schulpolitischem Gebiet befasst.
Beachtung verdient auch der von Generalsuperintendent Helbich von der Westberliner Synode gegebene Bericht über seinen Besuch in Weißensee, wobei er besonders hervorhob, dass die DDR-Synodalen sein Erscheinen und die Grüße der Regionalsynode West »freudig« aufgenommen hätten. Neben Einzelheiten über den Verlauf der Synode in Weißensee habe Helbich auch über ein Gespräch mit dem Referenten für Kirchenfragen beim Magistrat von Groß-Berlin, Lahl, berichtet. Lahl habe ihm gegenüber u. a. erklärt, er schätze es, persönlich an der Synode teilzunehmen, weil man nur so objektiv berichten könne. Er, Helbich, habe mit Lahl auch über die Rückkehr von Präses Scharf gesprochen. Er möchte jedoch im Plenum nicht darüber berichten, da die Äußerungen Lahls nur für Präses Scharf persönlich bestimmt seien.
Insgesamt wird im Ergebnis der beiden Regionalsynoden festgestellt, dass der Verwalter im Bischofsamt Generalsuperintendent Jacob erstmals mit einer klaren Haltung auch in politischen Fragen auftrat und seine Stellung in der Landeskirche festigen könnte. Es wird eingeschätzt, dass die Position von Bischof Dibelius geschwächt wurde. Die Rückkehr von Präses Scharf wurde in der Diskussion zwar von einigen Synodalen gefordert, ist jedoch zum ersten Mal in keinem Dokument erwähnt. Obwohl in verschiedenen Ausführungen die Einheit der Evangelischen Kirche hervorgehoben wurde, ist die Abgrenzung zwischen den Bereichen Westberlin und DDR deutlicher zutage getreten. Die Kirchenleitung in der DDR hat gegenüber der Westberliner Leitung an Selbstständigkeit gewonnen.
Die Differenzen in Fragen der Konfirmation und Jugendweihe bestehen weiter. Aus diesem Grunde wird auf Beschluss der Leitung der »Landeskirche Berlin-Brandenburg/DDR-Teil« zu diesem Thema im März 1965 eine Sondersynode stattfinden.24
Die Information kann publizistisch nicht ausgewertet werden.