Verlauf der Leipziger Frühjahrsmesse (1)
2. März 1964
Einzelinformation Nr. 171/64 über den Verlauf der Leipziger Frühjahrsmesse 1964 (1. Bericht)
Gegenüber dem Vorjahr hat sich die Zahl der Messebesucher1 aus dem Ausland, aus Westdeutschland und aus Westberlin erheblich erhöht. Am 2.3.1964, 5.00 Uhr, waren folgende Messebesucher gemeldet (in Klammern wird die Vergleichszahl des entsprechenden Tages der Leipziger Frühjahrsmesse 1963 angegeben):
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sozialistische Staaten: 1 079 (1 042) + 37,
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kapitalistische Staaten: 2 857 (2 327) + 530,
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Westdeutschland: 4 732 (2 378) + 2 354,
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Westberlin: 1 980 (936) + 1 044.
Zum gleichen Zeitpunkt wurden im Rahmen des Touristenverkehrs 3 002 (1 897) Personen erfasst. Mit einem weiteren starken Anwachsen der Zahl der Westberliner und westdeutschen Messebesucher ist zu rechnen. Darauf deutet hin, dass bis zum 28.2.1964 von den westdeutschen Reisebüros bereits 5 500 Ausweise verkauft wurden. Bis zum 28.2.1964 lagen bereits 7 000 Anträge von Westberlinern zum Besuch der Leipziger Messe vor. Bemerkenswert dabei ist, dass die Frühjahrsmesse 1963 nur von 3 671 Westberlinern besucht wurde. Selbst auf der letzten Frühjahrsmesse vor der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls wurden nur 4 413 Westberliner Besucher gezählt. Bis zum 2.3.1964, 7.00 Uhr, trafen 762 westdeutsche Delegierte zur Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz2 ein. Den größten Anteil davon stellten mit 520 parteilose Arbeiter. Ihnen folgen Mitglieder der KPD (132) und der DFU (55). 40 Mitglieder der SPD trafen inzwischen ein. Mit 300 Teilnehmern an der Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz stellt Nordrhein-Westfalen das größte Kontingent.
Über die Handelstätigkeit auf der Messe liegen noch keine Informationen vor. Es ist jedoch mit einer starken Aktivität der westdeutschen und Westberliner Firmen zu rechnen. Die Standflächen, die von westdeutschen Firmen besetzt wurden, umfassen 20 574 m2. Sie haben sich damit gegenüber der Frühjahrsmesse 1963 um 37 % erhöht. Westberliner Unternehmen besetzen eine Fläche von 3 502 m2, d. h. 28 % mehr als 1963.
Hinzu kommt, dass die großen Konzerne – obwohl sie selbst nicht offiziell in Leipzig ausstellen – zum Teil repräsentative Messedelegationen entsandt haben. So hat die Bochumer Chemie Imhausen-Company 20 Mitarbeiter unter Leitung des Firmen-Inhabers Dr. Imhausen3entsandt. Von Siemens werden 16 mittlere und leitende Mitarbeiter zur Messe erscheinen. Die Firma hat ihre Erzeugnisse über einige Vertreter-Firmen ausgestellt. Direktor Feldkamp von der Phönix-Rheinrohr AG ist ebenfalls in Leipzig anwesend und beabsichtigt Verträge mit der DDR abzuschließen. Im Auftrag der IG-Farben-Nachfolge-Gesellschaften ist die Firma Riedel de Haën erschienen. Das Versandhaus »Quelle« ist gleichfalls mit einer repräsentativen Einkäuferdelegation angereist.
Vereinzelt gibt es jedoch auch Anzeichen, dass westdeutsche Aussteller aufgrund einer schlechten Verkaufstätigkeit von Außenhandelsunternehmen nicht zur Messe erschienen sind, so die Firma Karl Schnick, Frankfurt/M. Westdeutsche Industrieverbände – so die Edelstahl-Vereinigung – haben sich vor der Messe in die Geschäftstätigkeit der einzelnen Firmen eingeschaltet, um zu verhindern, dass die Firmen der DDR günstige Rabattkonditionen einräumen. Die genannte Vereinigung hat durch ein Rundschreiben auf die westdeutschen Edelstahlerzeuger einzuwirken versucht, um zu verhindern, dass sie der DSM Sonderrabatte einräumen.
Bei der Anreise der westdeutschen Messebesucher und der Delegierten zur Arbeiterkonferenz sind in verstärktem Maße Kontrollen an den westdeutschen Grenzübergängen festgestellt worden. Bei allen Messebesuchern wurden die Personalien, das Ziel und der Zweck der Reise registriert. Es wurden scharfe Kontrollen des Gepäcks und der Pkw, teilweise auch Leibesvisitationen durchgeführt. Am Kontrollpunkt Wolfsburg wurden am 1.3.1964 fünf Jugendliche, die in die DDR reisen wollten, festgenommen. Am Kontrollpunkt Juchhöh wurde westdeutschen Reisenden mitgeteilt, dass der Auftrag vorläge, Messebesucher nach Bonn zu melden. Grenzbeamte versuchten, Reisende durch diffamierende Bemerkungen vom Besuch der Messe abzuhalten.
Bemerkenswert ist das starke Interesse ausländischer Besucher an der Messe. Obwohl die Standbelegung durch die wichtigsten kapitalistischen Länder Westeuropas etwas zurückgegangen ist, stieg die Anzahl der Besucher aus den westeuropäischen Ländern durchweg erheblich, teilweise um das Doppelte, so aus Frankreich, Schweden, den Niederlanden und der Schweiz.
Interessant ist die Reaktion der Handels- bzw. Industrieminister Großbritanniens, Frankreichs und Belgiens auf die Einladung des Genossen Balkow4 zum Besuch der Leipziger Frühjahrsmesse. Während der britische Handelsminister die Annahme der Einladung ablehnte und dabei darauf verwies, dass die DDR für Großbritannien offiziell nicht existiere, wurde das Einladungsschreiben vom Chef des Protokolls des belgischen Außenhandelsunternehmens entgegengenommen und der Eingang bestätigt. Der französische Industrieminister Bokanowski5 antwortete mit einem offiziellen Schreiben an »den Leiter der Vertretung der Kammer für Außenhandel der Deutschen Demokratischen Republik« und motivierte seine Absage lediglich mit Termingründen.
Starkes Interesse zeigen auch österreichische Stellen an der Leipziger Messe. Der Leiter der österreichischen Delegation für die Verhandlung mit Polen, Ministerialrat Dr. Gatscha,6 Chef der Sektion IV im Bundeskanzleramt – verstaatlichte Industrie –, wird in der Zeit vom 4. bis 7.3.1964 als offizieller Vertreter des österreichischen Vizekanzlers Pittermann7 die Leipziger Messe besuchen, um Gespräche über die Durchführung von Kooperationsgeschäften mit der DDR nach Dritten Ländern zu führen. Auch der Präsident der Wiener Messen, Präsident des Landtags Niederösterreichs und stellvertretender Bürgermeister von Wien, Marek,8 weilt in Leipzig. Andererseits ist aber festzustellen, dass gemeldete Delegationen aus dem kapitalistischen Ausland kurzfristig absagen oder stark reduziert eintreffen. So ist von der englischen Labour-Delegation anstelle von acht nur eine Person eingetroffen. Von der belgischen Parlamentarier-Delegation mit 19 Personen haben bereits sechs abgesagt. Bemerkenswert ist auch das starke Interesse des amerikanischen Geheimdienstes an den Verhandlungen zwischen der DDR und britischen und französischen Firmen. Insbesondere interessiert er sich für eventuelle Kreditangebote dieser Firmen an die DDR.
Die Republik Jemen und die VAR wollen die Leipziger Frühjahrsmesse dazu benutzen, um Kredite bei der DDR zu beantragen. Der jemenitische Außenminister Makki9 hat geäußert, dass das Land von der DDR einen Kredit in Höhe von 5 Mio. Dollar für zwölf bis 13 Objekte im Jemen beantragen will.
Die Regierungsdelegation der VAR beabsichtigt, in Leipzig Verhandlungen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und den Erhalt eines Kredits zu führen. Die Delegation hat dazu eine Liste von 38 Objekten des Maschinenbaus, der Textilindustrie, der Nahrungsmittelindustrie, der Elektroindustrie, der Metallurgie und der chemischen Industrie übergeben. Die in Leipzig anwesenden westlichen Journalisten haben nach bisher vorliegenden Angaben im Allgemeinen eine relativ sachliche Berichterstattung gezeigt. Das betrifft auch den anwesenden Vertreter der »Welt«, [Name 1]. Lediglich der DPA-Korrespondent [Name 2] fiel durch seine Berichterstattung auf. ([Name 2] wurde nach seinem letzten Aufenthalt in Leipzig anlässlich der Herbstmesse 196310 von seiner Redaktion wegen zu positiver Berichterstattung kritisiert.) Die Journalisten hoben im Allgemeinen die sachliche Atmosphäre der Messe, die hohe ausländische Beteiligung und die weitere Verbesserung der Qualität der DDR-Erzeugnisse hervor.
Besondere Aufmerksamkeit fand die Rede des Genossen Apel11 anlässlich der Eröffnung der Leipziger Frühjahrsmesse, aus der insbesondere die Passagen über die Entwicklung der chemischen Industrie und die Aufforderungen der DDR an die NATO-Länder zur gegenseitigen Einrichtung von Handelsmissionen hervorgehoben werden.
Die britische Fernsehfirma BBC hatte die Absicht, während der Messe in Leipzig und vier anderen Städten der DDR einen Film für die in England beliebte Sendung »Panorama«12 zu drehen. Sie strebte ein Interview mit Genossen Walter Ulbricht und Genossen Balkow an. Das MAI hatte darauf in seinem Bericht an das Politbüro vom 25.2. hingewiesen. Der Aufnahmestab von BBC traf am 24.2. in Berlin-Schönefeld ein, wurde vom Flugplatz nicht abgeholt und reiste deshalb sofort nach Westberlin weiter. Am nächsten Tag erklärte Genosse [Name 3] vom Deutschen Fernsehfunk, dass die vorgesehenen Aufnahmen nicht möglich seien. (Der sowjetische Botschafter in London erklärte gegenüber dem Leiter unserer Handelsvertretung, Genossen Prescher, dass die Entsendung eines Panorama-Teams in die DDR sehr bedeutsam wäre und eine ausgezeichnete Gelegenheit darstelle, die wirkliche Situation in der DDR zu zeigen.) Der Leiter des Aufnahmestabes [Name 4] zeigte sich unangenehm berührt, dass er seinen Auftrag nicht ausführen könne. Der Charakter der Panorama-Sendung verbiete jede Diskriminierung eines anderen Staates. Man wollte eine ehrliche Reportage über die DDR senden. Der Aufnahmestab ist aufgrund der Sachlage nach Mailand weitergereist. (Das MAI hat zu diesem Vorfall selbst noch keine Einschätzung gegeben.)