Verlauf der Leipziger Frühjahrsmesse (4)
8. März 1964
Einzelinformation Nr. 178/64 über die Leipziger Frühjahrsmesse 1964 (4. Bericht)
Mit dem Stand vom 8.3.1964, 5.00 Uhr, sind folgende Personen nach Leipzig1 eingereist:
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sozialistische Staaten: 3 515 (2 692) + 823,
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kapitalistische Staaten: 7 212 (6 255) + 957,
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Westberlin: 5 196 (2 749) + 2 447,
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Westdeutschland: 15 465 (7 731) + 7 734,
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Gruppenreisen aus dem sozialistischen Ausland 13 983 (14 093) – 110.
Bis einschließlich 6. Messetag wurden Abschlüsse in Höhe von 421 Mio. DM getätigt. Davon entfallen 149 Mio. DM auf das kapitalistische Ausland und 67,5 Mio. DM auf Westdeutschland und Westberlin. Bei einigen kapitalistischen Ländern bestehen besondere Schwerpunkte, da die bisher abgeschlossenen Verträge völlig ungenügend sind. Dazu gehören Brasilien, Ghana, der Sudan, Marokko, Finnland, Dänemark, Österreich, Spanien, Griechenland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien und Indonesien.
Die starke Nachfrage nach DDR-Erzeugnissen, insbesondere aus kapitalistischen Ländern, hält an. In diesem Zusammenhang hat jedes Außenhandelsunternehmen das Recht erhalten, Waren aus den freien Exportfonds sowie aus den nicht vertraglich gebundenen Abkommenskontingenten des Planteiles Sozialistischer Weltmarkt in das kapitalistische Ausland zu verkaufen. Vereinzelt gibt es aufgrund dieser Weisung unter auf der Messe anwesenden Journalisten aus sozialistischen Ländern sowie auch unter den Handelspartnern Diskussionen, dass die DDR Qualitätswaren nur noch gegen harte Devisen verkaufe. Diesen Diskussionen wurde von den Handelsorganen der DDR mit richtigen Argumenten entgegengetreten. Bedeutende Abschlüsse wurden mit den sozialistischen Ländern für Kabel, Rohrleitungen, Gleichrichteraggregate, galvanische Apparate, dieselelektrische Stationen und anderes getätigt. Mit kapitalistischen Ländern wurden Verträge über Kalidüngesalz für 6,5 Mio. DM nach Indien, Schleifmaschinen für 620 000 DM nach Westdeutschland, Zellwollstoffe für 300 000 DM nach Hongkong, Haushaltsporzellan für 2,1 Mio. DM nach Italien, Holland und der Schweiz u. a. getätigt.
Auch Betriebe der örtlichen Industrie tätigen rege Verkaufsabschlüsse. Verhandlungen für den Export von Anlagen werden weitergeführt, so über die Lieferung einer Glasfabrik im Werte von 4,5 Mio. DM nach Finnland. Genosse Minister Balkow2 führte Gespräche mit britischen Kaufleuten über die Lieferung von Chemie-Anlagen im Werte von 15 Mio. englischen Pfund. Die britischen Kaufleute erklärten, dass sie vom Handelsministerium die offizielle Auskunft über die Bereitschaft der britischen Regierung erhalten haben, langfristige Kredite mit einer Laufzeit von zwölf Jahren an die DDR zu garantieren. Die Anzahlung für zu liefernde Anlagen betrage 20 %. Damit sei die DDR der Sowjetunion gleichgestellt. Es wurde vereinbart, dass für den Ausbau der Düngemittelindustrie sofort Verhandlungen über die Lieferung eines Stickstoffwerkes aufgenommen werden.
Andere britische Firmen erklärten dem Genossen Balkow gegenüber ihre Bereitschaft, sich am Ausbau unserer Fahrzeugindustrie zu beteiligen. Das Aufsichtsratsmitglied des GKN-Konzerns lud Genossen Balkow offiziell zu einem Besuch nach Großbritannien ein, wobei er versprach, alles zu tun, um für die Einreise eine Sonderregelung zu ermöglichen. Brasilianische Vertreter äußerten in einer Beratung ihr Interesse am Kauf von ca. 300 dieselelektrischen Lokomotiven und 20 kompletten dieselelektrischen Zügen (Gesamtwert 60 bis 70 Mio. US-Dollars). Die brasilianische Seite wünscht diese Lieferungen bis Ende 1966. Der Kauf soll deshalb mit der DDR durchgeführt werden, da der gegenwärtige Devisenmangel des Landes keinen Einkauf in Frankreich und den USA zulässt. Das brasilianische Kaffee-Institut sei bereit, für den vollen Wert des Auftrages Kaffee nach der DDR zu liefern. Vonseiten der arabischen Liga wurde an uns herangetreten mit der Bitte um Finanzierung des Aufbaus einer Pumpspeicherstation zur Ableitung des Jordanwassers (Wert des Projektes 200 Mio. DM).
Ein Vertreter des Tata-Konzerns (Indien)3 prüft in Leipzig die Möglichkeiten des Bezugs von Werkzeugmaschinen aus der DDR, die für den Aufbau eines neuen Automobilwerkes bestimmt sind. Er stellt jedoch Gegenlieferungen der von der Firma in Lizenz produzierten Mercedes-Lkw als Bedingung. Die Vertreter der afroasiatischen Länder bringen durchweg zum Ausdruck, dass das Angebot der DDR ausgezeichnete Voraussetzungen für eine rasche Entwicklung des Handels biete. So wurde von der burmesischen Regierungsdelegation eingeschätzt, dass die Leipziger Messe mit keiner anderen Messe, die von ihr bisher besucht wurde, vergleichbar ist. Charakteristisch für den erreichten Stand der Industrie der DDR ist die Tatsache, dass sich kanadische Firmen stark für den Import von Radio-Geräten aus der DDR interessieren, die nach den USA weiterverkauft werden sollen. Bisher wurden 2 000 Rundfunkgeräte aus der DDR-Produktion nach den USA verkauft.
Eine große Rolle spielen auf der Messe politische Diskussionen, insbesondere im Zusammenhang mit der Diskriminierung der DDR durch das Travel Board4 und der Forderung der DDR nach Errichtung von Handelsmissionen in den NATO-Staaten. Die überwiegende Mehrzahl der sich dazu äußernden Kaufleute erkennt die Berechtigung der Forderungen der DDR an und ist in verhältnismäßig großem Maße bereit, sie durch Ausnutzung ihrer politischen Möglichkeiten zu unterstützen. In den Diskussionen zeigt es sich, dass in einer Reihe von Ländern, insbesondere in Belgien, Holland und Dänemark, aber auch in Frankreich ernsthafte Überlegungen angestellt werden, auf welche Art und Weise das Travel Board bei der Einreise von DDR-Bürgern in diese Länder umgangen werden kann. Diese Überlegungen werden nicht nur in Kreisen von Kaufleuten, sondern auch – soweit Übersicht besteht – in Regierungskreisen angestellt. Ernsthafte Diskussionen gibt es insbesondere in Österreich über die Errichtung einer österreichischen Vertretung in Berlin. Die Bundeswirtschaftskammer und ein bestimmter Kreis von Politikern der Österreichischen Volkspartei setzten dem keinen Widerstand entgegen. Dagegen wenden sich in erster Linie die SPÖ und insbesondere Außenminister Kreisky.5
Auch von westdeutscher Seite werden Anstrengungen für eine Erhöhung des Einkaufes aus der DDR gemacht. Dabei spielen nach wie vor die in Leipzig anwesenden Vertreter der Großversandhäuser und der Raiffeisen-Genossenschaften eine besondere Rolle. Vonseiten der westdeutschen Stahlkonzerne wurde eine Kampagne gegen die Firma Ferrostaal und Direktor Kuhlmann6 von dieser Firma eingeleitet. Diese Kampagne wird hauptsächlich von der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl, vom Klöckner-Konzern und von Wolff von Amerongen7 geleitet. Anlass zu dieser Kampagne ist offensichtlich das Gespräch von Kuhlmann mit Genossen Walter Ulbricht, obwohl dieses Gespräch nicht genannt wird. Kuhlmann hatte zusätzliche Schwierigkeiten dadurch, dass die DSM bisher noch keine Abschlüsse mit Ferrostaal getätigt hat. Daraufhin ist eine Weisung an die DSM ergangen, keinerlei Abschlüsse mit den in Leipzig anwesenden nichtausstellenden Firmen der Stahlindustrie zu tätigen und Ferrostaal zur Stärkung der eigenen Position mit Aufträgen zu bedenken.
In Leipzig ist als Ehrengast des Genossen Balkow der Inhaber der Firma Gottwald, Kranbau, Düsseldorf, Generalkonsul Leo Gottwald,8 eingetroffen. Gottwald wurde vom Genossen Balkow empfangen. Das Gespräch zwischen Gottwald und Genossen Balkow verlief in einer sehr aufgeschlossenen und herzlichen Atmosphäre. Gottwald ist beinahe 80 Jahre und hat persönliche Verbindungen zu Adenauer,9 Schröder,10 Schacht11 und anderen Persönlichkeiten. Die Anreise Gottwalds nach Leipzig wurde durch Maßnahmen des Einsatzstabes erleichtert. Vertreter der amerikanischen Militärmission entfalten in Leipzig eine lebhafte Aktivität bei der Besichtigung der Messe. Sie interessieren sich vor allem für in Leipzig ausgestellte Neuheiten der DDR-Industrie, so für die Laserforschung und die Produktion von granuliertem Kali. Auskünfte wurden ihnen nicht erteilt.