Verlauf des 2. Passierscheinabkommens (5)
8. Oktober 1964
5. Bericht Nr. 858/64 über den Verlauf des 2. Passierscheinabkommens
Am 6.10.1964 [8.10.] wurden in den 16 Passierscheinstellen in Westberlin 75 650 [84 300] Antragsformulare (insgesamt 822 075 [906 375]) ausgegeben, davon 37 725 [41 900] (insgesamt 410 700 [452 600]) für den 1. und 37 925 [42 400] (insgesamt 411 375 [453 775]) für den 2. Besuchszeitraum.1
Am 6.[8.]10.1964 wurden 94 228 [92 233] Anträge (damit insgesamt 370 582 [462 815]) gestellt, und zwar für den 1. Besuchszeitraum 47 594 [46 287] (damit insgesamt 185 742 [232 029]) und für den 2. Besuchszeitraum 46 634 [45 946] (damit insgesamt 184 840 [230 786]) Anträge.
Auf den am 6.[8.]10. gestellten Anträgen sind
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89 482 [81 328] Personen (mit 9 916 [7 064] Kfz) für den 1. Besuchszeitraum,
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154 692 [145 563] Personen (mit 16 288 [14 882] Kfz) für den 2. Besuchszeitraum,
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also insgesamt 244 174 [226 891] Personen (mit 26 204 [21 946] Kfz)
erfasst.
Damit sind auf den vom 1. bis 6.[8.]10.1964 gestellten Anträgen
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337 704 [419 032] Personen (mit 39 580 [46 644] Kfz) für den 1. Besuchszeitraum,
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603 224 [748 787] Personen (mit 67 921 [82 803] Kfz) für den 2. Besuchszeitraum,
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also insgesamt 940 928 [1 167 819] Personen (mit 107 501 [129 447] Kfz)
erfasst.
In den einzelnen Passierscheinstellen wurden am 6.10.1964 durchschnittlich wieder zwischen 4 000 und 7 000 Anträge entgegengenommen.
Eine immer deutlichere Konzentrierung gibt es auf die bereits in den Vorberichten genannten Schwerpunkte – Besuchstage vor allem im 1. Besuchszeitraum (31.10., 1., 7. und 8.11.1964), wo bisher bereits 83,5 %2 aller Antragsteller in die Hauptstadt der DDR einreisen wollen.
Bei der Überprüfung der in der Zeit vom 1. bis 3.10.1964 gestellten Anträge wurde festgestellt, dass für den 1. Besuchszeitraum 271 Antragsteller mehr als den einen zulässigen Antrag stellten. 243 Antragsteller beantragten einen zweiten Besuch, 20 Mal wurden drei, sechsmal vier und je einmal sechs und sieben Besuche beantragt. Für den 2. Besuchszeitraum wurde 245 Mal mehr als die zulässigen zwei Besuche beantragt, und zwar
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18 Mal drei Besuche,
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201 Mal vier Besuche,
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17 Mal sechs Besuche,
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neunmal acht Besuche,
sodass insgesamt 516 Anträge dieser Art gestellt wurden, auf denen 1 781 Personen erfasst sind.3
Am 6.10.1964 lag der Hauptansturm in den Passierscheinstellen in den Vormittagsstunden, wobei die Wartezeiten in den einzelnen Passierscheinstellen unterschiedlich waren, jedoch 1½ Stunden nicht überschritten.
Von mehreren Betrieben, Verwaltungen und Institutionen – u. a. vom Landeskriminalamt4– wurden entsprechend der bei der Abholung der Anträge getroffenen Vereinbarungen wiederum große Personenkreise geschlossen abgefertigt. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass der Westberliner Innensenator Albertz5 angewiesen hat, dass Senatsangestellte nicht geschlossen ihre Anträge abgeben dürfen. Wie ferner bekannt wurde, erfolgte seitens der Senatskanzlei eine Anweisung an Angestellte und Beamte von Senatsdienststellen, dass sie bei eventueller Antragstellung in die Berufsspalte »öffentlicher Dienst« einzutragen haben. Bei »unverfänglichen« Berufen (Stenotypistin, Heizer usw.) seien diese jedoch vorzuziehen.
Verstärkt wurde festgestellt, dass auf dem Rand der Anträge Wünsche nach bestimmten KPP vermerkt wurden, die auf eine falsche Informierung durch westliche Publikationsorgane zurückzuführen sind.
Unterschiedlich war die Reaktion der Antragsteller auf die Limit-Festsetzung für bestimmte Einreisetage. Während der überwiegende Teil der Antragsteller dieser Maßnahme Verständnis entgegenbrachte, gab es in einigen Passierscheinstellen Verärgerung und Diskussionen darüber, dass im Protokoll keine derartigen Festlegungen getroffen wären.
Bei der Orientierung auf bestimmte Einreisetage brachten mehrere Antragsteller zum Ausdruck, dass sie sich durch das Buchstabensystem benachteiligt fühlen, da erst jetzt ihr Buchstabe an der Reihe sei und sie sich den gewünschten Einreisetag nicht mehr auswählen könnten. Oftmals waren längere sachliche Auseinandersetzungen mit den Antragstellern notwendig. Das hatte teilweise (z. B. in der Passierscheinstelle Zehlendorf) eine gewisse Verzögerung der Abfertigung zur Folge.
In der Passierscheinstelle Charlottenburg versuchten der vom Senat eingesetzte Leiter der Westberliner Kräfte [Name 1] und sein Stellvertreter [Name 2] offensichtlich sich in den Arbeitsablauf einzuschalten. Die Genannten befanden sich des Öfteren hinter der Tischreihe unserer Postangestellten und versuchten, sich Einblick in die Unterlagen zu verschaffen. [Name 1] griff wiederholt in die Ablagekästen, um die Nummern der abgelegten Anträge festzustellen. Weiter versuchte er einen Westangestellten angeblich zur Unterstützung zu unseren Einsatzkräften mit hinzuzusetzen.*)
[Original-Fußnote] *) Diese Versuche wurden von den DDR-Postangestellten zurückgewiesen, wobei eindeutig zu verstehen gegeben wurde, dass bei Fortsetzung derartiger Provokationen diese Passierscheinstelle vonseiten der DDR nicht mehr besetzt wird.6
Weiter gibt es Hinweise, dass Antragsteller, die keine Verwandten entsprechend den im Protokoll getroffenen Abmachungen im demokratischen Berlin haben und trotzdem bestrebt sind, einen Passierschein zu erhalten, von den Westangestellten bei ihrem Vorhaben unterstützt werden. Z. B. wurden in der Passierscheinstelle Charlottenburg diese Antragsteller von einzelnen Westangestellten zur Seite genommen, kurze Aussprachen mit ihnen geführt und sie an einen andern Schalter verwiesen.
Wiederholt wurden von den eingesetzten Westkräften auf den Anträgen Streichungen vorgenommen und Angaben über Verwandtschaftsgrad verändert (z. B. Cousine in Nichte).
In der Passierscheinstelle Wilmersdorf/Eisnerstraße traten Anträge mit anderen Buchstabenkennzeichen auf. Nach Angaben der Antragsteller haben sie diese Anträge von Bekannten oder von anderen Passierscheinstellen. Die Anträge wurden zurückgewiesen.
Circa 15 verantwortliche Mitarbeiter des Westberliner Senats besichtigten am 6.10.1964 die Passierscheinstelle Charlottenburg/Joachimsthaler Straße. Sie hielten sich nur kurze Zeit in der Passierscheinstelle auf, ohne mit den DDR-Postangestellten zu sprechen.
Die in den Passierscheinstellen eingesetzten Kollektive der DDR-Postangestellten haben sich weiter gefestigt. Die Einsatzbereitschaft und Disziplin sind unverändert gut. Das Verhalten aller Einsatzkräfte ist vorbildlich und findet vielfach die Anerkennung der Antragsteller.
In der Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten in Wilmersdorf ist die Zahl der Anträge weiter angestiegen. Am 6.10.1964 wurden 132 Anträge (davon 26 für Einreise mit Pkw) für 221 Personen (78 Männer, 102 Frauen und 41 Kinder) angenommen. Nach Gründen untergliedert waren es
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56 wegen Todesfällen,
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29 wegen lebensgefährlicher Erkrankungen,
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27 wegen Geburten und
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je zehn wegen Eheschließungen und Familienzusammenführungen.
Insgesamt sind damit 962 Anträge für 1 635 Personen entgegengenommen worden.
Am 6.10. wurden ferner 92 Passierscheine, davon vier, die erst am 6.10. beantragt worden waren, ausgegeben. Sieben Anträge für 14 Personen wurden verlängert und zwei Passierscheine haben bisher ihre Gültigkeit verloren.
Am 6.10. mussten 148 Antragsteller wegen bereits bekannter, nicht den Bedingungen des Protokolls entsprechender Begründungen zurückgewiesen werden. In diesem Zusammenhang muss auf das Verhalten des Leiters der Westberliner Postkräfte [Name 3] hingewiesen werden, der mit »menschlichen Argumenten« unsere Kräfte zu beeinflussen versuchte, Anträge auch bei weitläufigerem Verwandtschaftsverhältnis entgegenzunehmen (Onkel, Tante usw.). Gleichzeitig versuchte er auch dieses bei der Genehmigung für Begleitpersonen zu erreichen, ohne dass ärztliche Begründungen, Atteste oder Schwerbeschädigtenausweise vorgelegt werden konnten.7
Zur Reaktion auf die Durchführung des 2. Passierscheinabkommens wurde aus Westberliner und Bonner Kreisen Folgendes bekannt: Nach einer vorliegenden internen Information hätten zwei leitende Angestellte des Senats die Erwartung ausgesprochen, dass die Dauerpassierscheinstelle in dringenden Fällen bald auch Passierscheine zur Einreise in die Bezirke der DDR ausgeben könne.
Wie eine andere zuverlässige Quelle berichtete, sei zu erwarten, dass die CDU-Presse zur Tätigkeit der Dauerpassierscheinstelle Stellung nimmt. Sie wolle die Zurückweisung bestimmter Anträge für die Hetze ausnutzen.
Aus Kreisen um Vizekanzler Mende8 wurde bekannt, dass die Bonner Regierung sich jetzt nicht mehr so sehr zum Passierscheinabkommen insgesamt äußern werde, sondern sich mehr auf den technischen Ablauf orientiere. Sie wolle dabei besonders auf auftretende Mängel und Pannen achten.
Gleiche Kreise weisen darauf hin, dass Erhard9 plane, auf den Geldumtausch (5,00 Westmark bei Westdeutschen und 3,00 Westmark bei Westberliner Bürgern) mit einem Stopp der Passierscheinaktion und entsprechenden politischen Angriffen zu reagieren, falls den Westdeutschen und Westberliner Bürgern ein Rücktausch von nichtverbrauchten Geldern verwehrt würde. (Diese Hinweise dürfen wegen der Quellengefährdung nicht publizistisch ausgewertet werden.)
In Westberliner SPD-Kreisen werde, einer weiteren Information zufolge, die Meinung vertreten, dass – entsprechend der Linie des Senats – während der Besuche der Westberliner in der Hauptstadt der DDR nicht mit Provokationen zu rechnen sei.
Ferner wurde berichtet, dass eine Anweisung der Senatsverwaltung für Innere Sicherheit und Ordnung bestehe, wonach in den Passierscheinstellen in Erscheinung tretende Journalisten, Fotoreporter und Kameraleute aus der DDR sofort zu melden seien. Eine Behinderung ihrer Tätigkeit sei nicht vorgesehen. Man wolle aber das Westfernsehen und westliche Fotoreporter »auf ihre Spur setzen«.
Aus den Bevölkerungskreisen Westberlins sind neben der Mehrheit freudiger und zustimmender Erklärungen folgende Argumente und Hinweise bekannt geworden: Aus einer Reihe Stimmen ist zu ersehen, dass Bürger Westberlins das Zustandekommen des Passierscheinabkommens stärker auf die Initiative des Westberliner Senats zurückführen und die ausschlaggebende Rolle der Regierung der DDR in diesem Zusammenhang verkennen. So stellen sie auch heraus, dass die organisatorischen Fragen der Ausgabe der Passierscheine mit dem Eingreifen Westberliner Postangestellter im Auftrage des Senats schneller und besser geregelt wären.
In einer Reihe Stellungnahmen verstärkten sich auch solche Argumente, dass der Besuch der Verwandten aus dem demokratischen Berlin in Westberlin ermöglicht werden müsste. Es sei Aufgabe des Senats, diese Forderung in weiteren Verhandlungen durchzusetzen.
Vereinzelt wird es von Westberliner Bürgern als »Benachteiligung« empfunden, dass Westdeutsche Bürger täglich, Westberliner jedoch lediglich nach besonderer Übereinkunft an vorher bestimmten Tagen in die Hauptstadt der DDR einreisen können.
Einzelberichte weisen darauf hin, dass in den Westberliner Geschäften in den letzten Tagen die Kreditaufnahme angestiegen sei. Geschäftsleute führen diese Tendenz auf den Kauf von Geschenken für die Verwandten in der Hauptstadt der DDR zurück.
Westberliner Reisebüros weisen auf die Nichtauslastung von Wochenendreisen für die nächsten Wochen hin und führen die Nichtinanspruchnahme auf die bevorstehenden Besuche in das demokratische Berlin zurück.
Von der Bevölkerung der Hauptstadt der DDR wird die Übereinkunft in der Regel als Verdienst der DDR-Regierung und als weiterer Schritt zur Verständigung und zur Erhaltung des Friedens gewertet. Besonders wird die Ruhe und Geduld, mit der seitens der DDR-Vertreter die Verhandlungen geführt wurden, anerkannt. Die Verzögerung des Passierscheinabkommens wird wiederholt auf die Einmischung durch die Bonner Regierung zurückgeführt, wobei dem Regierenden Bürgermeister von Westberlin Brandt10 vorgeworfen wird, nicht in eigener Verantwortung und nicht im Interesse der Westberliner Bevölkerung gehandelt zu haben.
Neben den überwiegend zustimmenden und anerkennenden Äußerungen zum Passierscheinabkommen wurde jedoch auch eine Reihe skeptischer und zum Teil ablehnender und feindlicher Äußerungen bekannt. Nach den bisher vorliegenden Hinweisen lassen diese Äußerungen mehrfach eine Orientierung nach den westdeutschen und Westberliner Rundfunk- und Fernsehstationen und dabei folgende Tendenzen erkennen:
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Es sei anzuzweifeln, dass das 2. Passierscheinabkommen ein neuer Erfolg der DDR-Regierung sei. In politischer Hinsicht seien keine Fortschritte zu erkennen; auch eine Anerkennung der DDR sei mit dem Abkommen nicht erfolgt. Es sei nicht einmal gewährleistet worden, dass die Passierscheinstellen in Westberlin die Bezeichnung »DDR« tragen.
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Das Passierscheinabkommen sei eine Übereinkunft voller Zugeständnisse seitens der DDR und in erster Linie auf die Initiative des Westberliner Senats zurückzuführen.
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Das Abkommen sei nicht aus »menschlichen Erwägungen«, sondern infolge des »Drucks« der Bevölkerung der DDR zustande gekommen.
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Gegenüber dem Weihnachtsabkommen sei eine Verschlechterung insofern eingetreten, dass die Westberliner Verwandten lediglich an einem Tag, im Dezember an zwei Tagen, zu Besuch kommen könnten. Beim ersten Abkommen hätte jeden Tag diese Möglichkeit bestanden.
Den größten Umfang unter den negativen Argumenten nehmen zzt. solche Stellungnahmen ein, wonach nicht die Möglichkeit des Besuchs von Bürgern der Hauptstadt der DDR bei Westberliner Verwandten besteht. Wiederholt wird in diesen Diskussionen die Besuchserlaubnis für Rentner herangezogen und bemerkt, dass die DDR-Regierung lediglich »unproduktiven Bürgern« der DDR die Einreise nach Westberlin oder Westdeutschland erlaube, bei jüngeren Bürgern jedoch infolge eventuell verstärkter Republikfluchten mit dem Ausfall zahlreicher Arbeitskräfte rechnen müsse. (In diesem Zusammenhang werden auch die westlichen Hetzargumente – Gefängnis, Mauer – übernommen und vereinzelt eine Öffnung der Grenzen und Beseitigung der »Mauer« gefordert.)
Im Zusammenhang mit der Nichtgenehmigung von Besuchsanträgen nach Westberlin wird argumentiert, dass die wiederholten Besuche der Westberliner Verwandtschaft für die Besuchten größere finanzielle Auslagen mit sich bringen würden, die auch durch kleine Geschenke der Verwandtschaft nicht ausgeglichen werden. Richtiger sei es, wenn auch die Westberliner Verwandtschaft Besuche aus dem demokratischen Berlin finanzieren könnte. Jetzt sei die Belastung einseitig und ungerechtfertigt. Einige Bürger der Hauptstadt weisen darauf hin, dass seit dem 1. Passierscheinabkommen Pakete der Westberliner Verwandtschaft ausblieben, weil diese sich vom angemessenen Lebensstandard im demokratischen Berlin überzeugt hätten.
Unzufriedenheit besteht bei im Grenzgebiet wohnhaften Bürgern der Hauptstadt darüber, dass sie auch während des 2. Passierscheinabkommens ihre Westberliner Verwandten nicht in der eigenen Wohnung empfangen könnten. Sie hatten mit einer günstigeren Regelung gerechnet und wollen jetzt teilweise versuchen, ihre Verwandten trotzdem im Grenzgebiet zu empfangen.
Unter der Bevölkerung in den Bezirken der DDR wird im Gegensatz zu den Bürgern der Hauptstadt Berlin weniger über das Passierscheinabkommen diskutiert. Die bekannt gewordenen Diskussionen haben dabei gleiche Tendenzen. Von zahlreichen im Randgebiet Berlins wohnhaften Bürgern wird erklärt, dass das jetzige Abkommen eine klare Benachteiligung der Bevölkerung in den Randgebieten sei, zumal westdeutschen Bürgern die Einreise erlaubt sei. Diese Bewohner der Randgebiete Berlins versuchen deshalb, sich bei Verwandten und Bekannten im demokratischen Berlin mit den Westberliner Verwandten zu treffen.