Versuche, die Kirchen in Passierscheinverhandlungen einzubinden
16. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 488/64 über Versuche Bonns, die Evangelische und Katholische Kirche in Fragen Passierscheinverhandlungen einzuschalten
Im Zusammenhang mit dem bekannten Schreiben, das mit Datum vom 27.5.1964 der Verwalter im Bischofsamt der Evangelischen Kirchenleitung Berlin-Brandenburg Jacob1 an den 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates Genossen Stoph2 gerichtet und darin angeboten hat, kirchliche Gemeindehäuser in Westberlin als Ausgabestellen für Passierscheine3 zu benutzen, teilen wir mit:
Wie dem MfS bereits bekannt war, gab es schon in der Vergangenheit Bestrebungen der Katholischen Kirche, Einfluss auf eine Passierscheinregelung in Berlin zu nehmen. So lagen entsprechende Informationen über eine stattgefundene Zusammenkunft zwischen dem Chefdelegierten des Internationalen Roten Kreuzes für Osteuropa Beckh4 und Erzbischof Bengsch5 vor, auf der festgelegt wurde, an den Westberliner Senat und auch an Bonner Stellen heranzutreten und »deren starre Haltung« mit dem Argument der humanitären Seite einer Passierscheinregelung »aufzuweichen versuchen«. (Einzelinformation 332/64 v. 18.4.1964)
Wie die uns jetzt vorliegenden internen Informationen dazu nachweisen, besteht zwischen diesem ersten Versuch und dem jüngsten Angebot Jacobs nicht nur ein direkter Zusammenhang, sondern sind als Hintermänner auch eindeutig Bonner Kreise zu sehen.
Der bereits genannte Beckh hatte eine Reihe Gespräche über dieses Thema mit verschiedenen Bonner Regierungs- und Westberliner Senatsbeamten, über die er am 16.5.1964 in einer persönlichen Audienz Papst Paul VI.6 im Vatikan unterrichtete. Alleiniger Gegenstand dieser Audienz waren Fragen der Passierscheinverhandlungen zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat. Angeblich sei Beckh nach wie vor bei den westlichen Stellen auf verhärtete Standpunkte gestoßen und wolle deshalb die höchste Stelle der Katholischen Kirche zu unmittelbarer oder mittelbarer Hilfe anregen. Er fand dabei die Unterstützung des Prälaten Wüstenberg7 vom Staatssekretariat des Vatikans, mit dem er gemeinsam ein Memorandum folgenden sinngemäßen Inhalts ausarbeitete: Zusammenführung getrennt lebender Eheleute und Familien in beiden deutschen Staaten; Einflussnahme auf die Passierscheinverhandlungen, weil ein Passierscheinabkommen ein dringendes humanitäres Anliegen darstelle. Beckh verwies in diesem Zusammenhang auf die positive Wirkung des Passierscheinabkommens Weihnachten 1963.
Papst Paul VI. erklärte, dass von seiner Person aus alles getan werde, was die Verbindung der Kirche zu den sozialistischen Staaten stärke. Er wolle deshalb diese Fragen wohlwollend prüfen lassen. Bei praktischen Schritten des Vatikans solle nach Mitteilung Prälat Wüstenbergs mit Erzbischof Bengsch in Verbindung getreten werden. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurde Erzbischof Bengsch vom Vatikan jedoch noch nicht angesprochen. Stattdessen unterbreitete der Chefjurist der Westberliner Evangelischen Kirchenleitung von Wedel8 dem Erzbischof Bengsch, dass die Evangelische Kirchenleitung in Berlin-Brandenburg eine Initiative in der Passierscheinfrage plant (was durch das Angebot Jacobs im Namen der Evangelischen Kirche bestätigt wird). Erzbischof Bengsch erklärte sich Wedel gegenüber auch bereit, diesen Schritt sachlich zu unterstützen, ohne vorerst praktische Schritte zu unternehmen.
Die Tatsache, dass die ursprünglich vorgesehene Initiative der Kirche, zumindest nach außen hin die starre Haltung Bonns zu beeinflussen versucht, und die jetzt im Angebot Jacobs ersichtliche völlig entgegengesetzte Linie offensichtlich auf Bonner Einfluss zurückzuführen ist, wird durch nachstehende interne Information deutlich.
So hat es zwischen kirchlichen Persönlichkeiten und Bundeskanzler Erhard9 Verhandlungen zur Passierscheinfrage gegeben. Von Bonn sei geplant, neue Initiativen zu ergreifen, aber zu Verhandlungen mit Regierungsstellen der DDR kirchliche Stellen unter Ausmanövrierung des Westberliner Senats und unter Einbeziehung der Treuhandstelle Leopold vorzuschieben. Erhard plane dieses Manöver in seinem Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Johnson10 als Ausdruck der Aktivität der Bonner Ostpolitik vorzutragen. Dem Westberliner Senat – insbesondere Brandt,11 Bahr12 und Albertz13 – war bis vor wenigen Tagen diese Tatsache weder offiziell noch inoffiziell bekannt. Sie wurden lediglich durch eine inoffizielle Quelle von diesen Bestrebungen unterrichtet, was die Absicht Bonns, den Westberliner Senat auszuschalten, unterstreicht. Intern erklärte daraufhin Senatspressechef Bahr, dass es sich bei dieser Absicht Bonns zweifellos um die geheime Wahlkampfbombe der CDU handele. Es sei ferner nicht ausgeschlossen, dass sich hohe kirchliche Würdenträger sachlich ungenügend über die Einzelheiten (weitere Verhandlungen nur zwischen Senat und Regierung der DDR möglich) informiert hätten und für Bonner Manöver ausgenutzt würden. Bahr erklärte weiter, dass diese Absicht Bonns auch im Zusammenhang damit beachtet werden müsse, dass es dem Senat gelungen sei, Bonn in einer Serie von Gesprächen von der bisher extremen Position etwas abzubringen und ihre Haltung aufzulockern. Wie Bahr ferner erklärte, sei Brandt zwar von der vor wenigen Tagen in Bonn stattgefundenen Tagung des Staatssekretärausschusses (an der auch die Bonner Staatssekretäre in Westberlin z. B. Westrick14 und Hase15 teilgenommen haben) informiert worden, nicht aber von der geplanten Initiative in der Passierscheinfrage. Entweder sei dies auf dieser Tagung nicht behandelt worden oder Brandt wurde bewusst nicht informiert. Vom Westberliner Senat wird die ihnen bekannt gewordene Bonner Absicht streng vertraulich behandelt. Auch Senatsrat Korber16 soll vorläufig noch nicht eingeweiht werden.
Am 12.6.1964 informierte der Rechtsanwalt der Westberliner Evangelischen Kirchenleitung von Wedel im Ordinariat der Katholischen Kirche im demokratischen Berlin den Prälaten Drews17 darüber, dass Staatssekretär Wendt18 bei den Verhandlungen mit Senatsrat Korber am 10.4.1964 diesen von dem Angebot der Kirche in Kenntnis gesetzt hat. Von Wedel betonte, dass die »staatlichen Stellen der DDR ihr Wort gebrochen« hätten, da ausdrücklich vereinbart worden sei, die Vorschläge der Kirchen vorerst in Verhandlungen nicht zur Sprache zu bringen.
Wie dem MfS bekannt wurde, herrscht in den leitenden Stellen der Evangelischen und Katholischen Kirche in Berlin Bestürzung über diese Angelegenheit und bekanntlich wandte sich am 15.6.1964 auch Generalsuperintendent Jacob an den Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR, um seiner Enttäuschung Ausdruck zu geben.
Entsprechende Maßnahmen zur Aufklärung weiterer Einzelheiten wurden eingeleitet.