Versuchte Fahnenflucht an der Berliner Späthbrücke
20. Januar 1964
Einzelinformation Nr. 53/64 über die versuchte Fahnenflucht mit Anwendung von Gewalt durch den Soldaten [Name 1] am 19. Januar 1964 an der Späthbrücke/Staatsgrenze Westberlin
Am 19.1.1964, gegen 9.10 Uhr, kam es an der Späthbrücke1 (Teltowkanal) zu einer versuchten Fahnenflucht mit Anwendung von Gewalt durch den Soldaten [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1943 in Bröthen, wohnhaft [Ort, Nr.], Kreis Hoyerswerda, Beruf: Kfz-Schlosser, organisiert in der FDJ, NVA seit 1.11.1963.
Soldat [Name 1] war zusammen mit dem Postenführer, Uffz. [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1944 in Leipzig, wohnhaft Leipzig N 22, [Straße, Nr.], NVA seit 3.5.1963, zur Sicherung der Staatsgrenze im Abschnitt der 4. Kompanie, 37 Regiment, 11. Brigade an der Staatsgrenze eingesetzt (Bereich Sonnenallee bis Wredebrücke).
Der Wechsel auf dem Beobachtungsstand erfolgte zwischen den beiden Posten stündlich.
Gegen 9.10 Uhr beabsichtigte der Uffz. [Name 2] den Soldaten [Name 1] abzulösen und kletterte die Leiter zum Postenstand herauf. Kurz vor Betreten des Postenstandes erhielt er von [Name 1] mit dessen MPi einen Schlag auf den Kopf, sodass er aus ca. der Metern Höhe die Leiter herunterstürzte. Daraufhin sprang [Name 1] den Postenturm herunter. Als er bemerkte, dass Uffz. [Name 2] noch reagierte und nicht voll betäubt war, lud er im gleichen Augenblick seine Waffe durch, richtete diese auf den am Boden liegenden [Name 2] und forderte diesen auf, die Leiter vom Postenturm zu nehmen und mit ihm gemeinsam über die Mauer nach Westberlin fahnenflüchtig zu werden. Uffz. [Name 2] weigerte sich, ebenfalls fahnenflüchtig zu werden und versuchte, den [Name 1] durch Überreden von seinem Vorhaben abzubringen. [Name 1] forderte Uffz. [Name 2] auf, seine Waffe abzulegen und sich von der Grenze in Richtung Hinterland zu entfernen. Uffz. [Name 2] kam dieser Aufforderung nach und lief mit taumelnden Schritten ca. zehn Meter ins Hinterland, um hinter einem Baum Deckung zu suchen. Gleichzeitig nahm Soldat [Name 1] die Waffe des Uffz. [Name 2] an sich, entfernte die Leiter vom Postenturm und lief so ausgerüstet zur Grenzmauer. Unmittelbar vor der Grenzmauer warf [Name 1] die Waffe des Uffz. [Name 2] weg und kletterte mithilfe der Leiter auf die Mauer in der Absicht, nach Westberlin zu flüchten.
In diesem Moment erschien im Postenbereich auf der Späthbrücke die Kradstreife, der Uffz. [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1943, NVA seit 16.9.1961, und Soldat [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1939, NVA seit 13.5.1963, angehörten.
Der flüchtige [Name 1] eröffnete sofort von der Mauer aus das Feuer auf die Kradstreife (ein Feuerstoß = vier Schuss) ohne zu treffen und sprang danach von der Mauer in Richtung Westberlin. Damit befand sich [Name 1] zwischen Grenzmauer und Drahtzaun noch auf dem Territorium der DDR. (In diesem Grenzgebiet bildet der Drahtzaun die Grenze zwischen dem demokratischen Berlin und Westberlin, während die Grenzmauer einige Meter zurückgesetzt auf dem Territorium der DDR verläuft.)
Während der Kradfahrer Soldat [Name 4] auf Weisung des Uffz. [Name 3] sein Fahrzeug nach Feststellung des Vorfalles sofort wendete, um die Alarmgruppe zu verständigen, nahm Uffz. [Name 3] die MPi des Soldaten [Name 4] an sich (er selbst führte keine Waffe mit, da er die Taschen mit Verpflegung trug) und lief gemeinsam mit Uffz. [Name 2] zur Grenzmauer. Nachdem Uffz. [Name 2] vor der Grenzmauer seine eigene von Soldaten [Name 1] vorher weggeworfene Waffe aufgenommen hatte, begaben sich beide (Uffz. [Name 2] und Uffz. [Name 3]) zu den Sehschlitzen in der Mauer.
Sie sahen dabei den Flüchtigen am Drahtzaun, noch auf dem Gebiet der DDR, mit der Waffe im Anschlag in Richtung Mauer stehen. Gleichzeitig bemerkten sie auf der Späthbrücke (bereits Westberliner Gebiet) ja einen Westberliner Bereitschaftspolizisten und einen Zöllner hinter einem Brückenpfeiler mit der Waffe im Anschlag stehen bzw. liegen.
Daraufhin schoss Uffz. [Name 2] zwei Schuss in die Luft, worauf der flüchtige [Name 1] schrie »Nicht schießen!«. Uffz. [Name 2] befahl [Name 1], seine Waffe zu entladen, diese durch den Sehschlitz an ihn zu übergeben und danach selbst über die Mauer zurückzukehren.
Mit Verzögerungsversuchen kam [Name 1] dieser Weisung des Uffz. [Name 2] nach. Danach wurde [Name 1] vollständig entwaffnet (Munition – Bajonett), zum Stützpunkt überführt und durch [das] MfS inhaftiert.
Kurz danach erschienen auf Westberliner Gebiet mehrere Funkwagen und Einsatzwagen der Westberliner Bereitschaftspolizei (ca. 20 Personen), die unsere Grenzposten durch Beschimpfen zu provozieren versuchten. Gleichzeitig erschien ein Fahrzeug der amerikanischen Besatzer mit dem Kennzeichen BC-134 auf Westberliner Gebiet mit zwei Mann Besatzung, die sich durch die bereits anwesenden Bereitschaftspolizisten über den Vorfall informieren ließen.
Zurzeit kann noch nicht eingeschätzt werden, ob die Fahnenflucht mit Unterstützung der Westberliner Polizeikräfte vollzogen werden sollte.
Bei der ersten Befragung zum Sachverhalt gab [Name 1] an, sich bereits seit längerer Zeit (etwa seit 1961/62 als er noch im zivilen Sektor tätig war) mit dem Gedanken zur Flucht nach Westberlin getragen zu haben. Angeblich sei er über die »Enteignung« seines Vaters, der als Altbauer seinen Ablieferungspflichten gegenüber unserem Staat nicht nachkam, verärgert gewesen. Infolge der jetzigen Bewirtschaftung des Besitzes seines Vaters durch die LPG sei seine feindliche Einstellung gegenüber unserem Staat entstanden. Er habe weiterhin ständig Westsender gehört und sei dadurch in seiner feindlichen Haltung bestärkt worden. Er habe von Anfang an geplant, seine Dienstdurchführung bei der NVA/Grenze zu seiner geplanten Republikflucht auszunutzen, wobei er seinen Dienst in der NVA/Grenze bisher so versah, dass keine negativen Momente über ihn bekannt wurden.
Vom MfS werden weitere Untersuchungen geführt.