Vorkommnisse an Jenaer Oberschule
19. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 497/64 über ein Vorkommnis in der »Adolf-Reichwein-Oberschule« Jena anlässlich des 17. Juni
Am 17.6.1964, 12.00 Uhr, wurde von den 30 Schülern der 9. Klasse der »Adolf-Reichwein-Oberschule« Jena während des Staatsbürgerkundeunterrichts eine »Gedenkminute« anlässlich des 17.6. durchgeführt.1 Dabei stützten die Schüler in gleichzeitiger Übereinstimmung den Kopf in die Hände, gaben eine Minute lang auf Fragen der Lehrerin entweder keine Antwort oder stellten ausweichende Gegenfragen wie »Wie meinen Sie das?«, »Wie ist das zu verstehen?«. Nach Ablauf dieser Minute arbeiteten sämtliche Schüler der Klasse wieder rege im Unterricht mit, wobei auf entsprechende Fragen der Lehrerin, was ihr vorheriges Verhalten zu bedeuten hätte, von einigen Schülern erklärt wurde, dass sie eine »Schweige-« oder »Gedenkminute« anlässlich des 17.6. durchgeführt hätten.
Die Überprüfungen an der Schule durch das MfS ergaben, dass die Provokation von den Schülern vorbereitet war. Als Initiator trat dabei der Schüler Ulli Zaumseil, wohnhaft in Jena, 15 Jahre alt, in Erscheinung. Auf seine Initiative fanden bereits am 16.6. während der Unterrichtspausen zwischen den Schülern der 9. Klasse Gespräche über den Charakter des 17.6. statt, wobei Zaumseil mit negativen und provokatorischen Ansichten auftrat, ohne daraufhin von anderen Schülern seiner Klasse zur Rede gestellt zu werden. In den ersten Unterrichtsstunden während des 17.6. stellte Zaumseil gemeinsam mit einigen anderen Klassenangehörigen, ohne dabei provokatorisch aufzutreten, an den Klassenlehrer Fragen über den Charakter des 17.6., die vom Klassenlehrer ausführlich beantwortet wurden.
Nach übereinstimmenden Aussagen der Schüler hätte bis dahin noch keine Übereinkunft über die Durchführung einer sogenannten Gedenkminute bestanden. Während des Staatsbürgerkundeunterrichts am 17.6. – etwa gegen 12.00 Uhr – verständigten sich die 30 Schüler der 9. Klasse durch Flüsterpropaganda, ausgehend vom Zaumseil, darüber, pünktlich 12.00 Uhr eine »Gedenkminute« anlässlich des 17.6. durchzuführen. Mit dieser von Zaumseil ausgehenden Mitteilung erklärten sich alle Schüler einverstanden, ohne dass ein Jugendlicher dagegen Einwände erhob. Als die Lehrerin, die die Unruhe in der Klasse beobachtet hatte, die Schüler nach der Ursache der Disziplinlosigkeit befragte, erhielt sie zunächst – da es inzwischen 12.00 Uhr war und Zaumseil den Schülern durch Zunicken den Beginn der »Gedenkminute« angezeigt hatte – keine Antwort. Erst nach Ablauf dieser Minute wurde ihr auf ihre Fragen zu verstehen gegeben, dass es sich um eine »Gedenkminute« anlässlich des 17.6. gehandelt habe.
Das politische Bewusstsein unter den Schülern der 9. Klasse der »Adolf-Reichwein-Oberschule« Jena ist äußerst schwach entwickelt; FDJ-Arbeit wird nicht geleistet. Auch die schulischen Leistungen der 30 Schüler der Klasse sind nur als durchschnittlich zu bezeichnen. Bei dem Ulli Zaumseil handelt es sich, seine schulischen und politischen Leistungen betreffend, um einen schwachen Schüler. In letzter Zeit wurde er bereits wegen Disziplinlosigkeiten zweimal von der Schulleitung disziplinarisch bestraft. Z., der Teilnehmer des Deutschlandtreffens2 in Berlin war, verbreitete nach Rückkehr in Jena unter den Schülern Unwahrheiten, z. B. in der Richtung, die Volkspolizei sei in Berlin mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern gegen Jugendliche vorgegangen. Der Vater des Zaumseil arbeitet als Ingenieur bei Jena-Pharm. Obwohl er in seinem Betrieb als fortschrittlicher Bürger auftritt, ist bekannt, dass er ständig Sendungen des Westrundfunks und Westfernsehens hört. Aufgrund dessen gab es mit ihm in einigen Sitzungen des Elternbeirates der »Adolf-Reichwein-Oberschule«, deren Mitglied er war, mehrere Auseinandersetzungen, und es erfolgte seine Ablösung von dieser Funktion.
Seitens der Schulleitung wurde am 17.6. mit den Schülern der 9. Klasse eine ernsthafte Aussprache geführt, in deren Verlauf nochmals eingehend auf den Charakter des 17.6. hingewiesen wurde. Die Schüler bereuten in den Gesprächen ihre Handlung und gaben an, aus Unkenntnis gehandelt zu haben. Der Initiator Zaumseil sah in einem Gespräch mit ihm sein verwerfliches Handeln ein, konnte selbst aber keine stichhaltigen Motive für seine provokatorische Handlung angeben und führte aus, sich angeblich nichts dabei gedacht zu haben. Z. soll auf Beschluss der Schulleitung von der Schule verwiesen werden.
In Übereinstimmung zwischen der Abteilung Volksbildung Jena und der Schulleitung der »Adolf-Reichwein-Oberschule« ist vorgesehen, mit den Schülern der 9. Klasse eine weitere klärende Aussprache durchzuführen und gleichzeitig eine Elternversammlung einzuberufen.
Durch das MfS werden weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Vorkommnisses geführt, insbesondere in der Richtung, inwieweit eventuelle Hintermänner eine Beeinflussung der Jugendlichen erreicht haben.