Wesentliche Hemmnisse in der Entwicklung der DDR-Reifenindustrie
1. Februar 1964
Einzelinformation Nr. 82/64 über wesentliche Hemmnisse und Mängel in der Entwicklung der Reifenindustrie der DDR und der Zentralen Forschungsstelle Reifen Fürstenwalde Frankfurt/O.
Umfangreiche Hinweise veranlassen das MfS, nachfolgend auf die Lage in der Reifenindustrie der DDR und in der Zentralen Forschungsstelle Reifen Fürstenwalde einzugehen.
Verschiedene Einschätzungen über das Leitungskollektiv und die Leitungstätigkeit der VVB Gummi und Asbest besagen, dass
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die Abstimmung innerhalb des Kollektivs der VVB ungenügend ist, die operative Geschäftigkeit den Charakter einer wissenschaftlich begründeten Leitung des Industriezweiges verwischt;
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die Leitungstätigkeit der VVB noch ungenügend nach den Richtlinien des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft organisiert wird;
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bisher keine aussagefähige wissenschaftlich-technische und ökonomische Konzeption für die Entwicklung des Industriezweiges erarbeitet wurde; dass die für die technische Entwicklung erforderliche komplexe Leitung von Forschung, Entwicklung, Projektierung, Konstruktion, Produktion und Absatz nicht gewährleistet ist;
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die Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis des Forschungsrates noch ungenügend ist; die Aufgabenstellung für das Wissenschaftlich-Technische Zentrum (WTZ) Reifen unzureichend abgegrenzt und formuliert wurde.
Diese Fehler und Schwächen in der staatlichen Leitungstätigkeit beeinflussen in entscheidendem Maße das gegenwärtige Leitungsniveau der Reifenindustrie hinsichtlich seiner Qualität und dem Erreichen der im Weltmaßstab üblichen Leistungsdaten für Neureifen bzw. runderneuerte Reifen.
Die Produktivität und Technologie z. B. des größten Reifenwerkes der DDR, dem VEB Reifenwerk Fürstenwalde, erreicht nur etwa 10 kg Fertiggewicht je Produktionsarbeiter in der Stunde, während gleichgelagerte Betriebe des kapitalistischen Auslandes und der anderen sozialistischen Länder das zwei- bis dreifache Leistungsvolumen ausweisen.
Reifen aus der DDR-Produktion haben außerdem ein 10–15 %ig höheres Fertiggewicht, werden also mit einem höheren Materialeinsatz gefertigt. Die Laufleistungen unserer Reifen betragen gegenwärtig erst 60 % der Reifen vergleichbarer Erzeugnisse kapitalistischer Firmen. Nach den vorliegenden Hinweisen sind die in den Reifenbetrieben angewandten herkömmlichen Produktionsverfahren veraltet. Die Entwicklung und Herstellung moderner Maschinen und Ausrüstungen für die Reifenindustrie durch den Maschinenbau wurde in der Vergangenheit stark vernachlässigt.
Die in der Vergangenheit von den Leitungen der VVB Gummi und Asbest und dem WTZ Reifen unternommenen Anstrengungen zur Behebung der ungeklärten Reifensituation, zur Einführung neuerer Technologien und Reifenkonstruktionen, zur Veränderung der Rezepturen des Einsatzmaterials unter Anwendung hochwertiger synthetischer Materialien usw. scheiterten u. a. an der ungeklärten Produktionsperspektive.
Die Erarbeitung einer wissenschaftlich und ökonomisch begründeten Perspektive ist aus bisher unbekannten Gründen nicht erfolgt. Das Zahlenmaterial der VVB, Abteilung Perspektivplanung, ist nach Ansicht von Experten nicht aussagefähig, um eine exakte Begründung für die geplante Kapazitätserweiterung zu geben (Perspektivplan bis 1970). Sie sind nur als Schätz- und Erfahrungswerte zu betrachten. Über die notwendigen Kapazitätserweiterungen bestehen zwischen den verantwortlichen Organen der Staatlichen Plankommission und der VVB, Abteilung Perspektivplanung, unterschiedliche und widersprüchliche Auffassungen.
Außerdem ist die Einflussnahme der Hauptabteilung Chemie des Volkswirtschaftsrates in der Frage einer Koordinierung mit den hauptsächlichsten Bedarfsträgern der Reifenindustrie (VVB Automobilbau, VVB Landmaschinenbau usw.) mangelhaft. Auch die VVB Gummi und Asbest, Abt. Perspektivplanung und Absatz, pflegen keine systematische und kontinuierliche Zusammenarbeit mit allen hauptsächlichen Bedarfsträgern. Vollkommen planlos und losgelöst von den Grundrichtungen des wissenschaftlich-technischen Höchststandes der Reifenindustrie (Gürtel- und Radialreifen) wurden die Projektzahlen der Produktionsperspektive konzipiert. Die bisherige Tätigkeit des WTZ Reifen auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet zur Erarbeitung einer technisch-ökonomischen Konzeption für die Entwicklung des Industriezweiges Reifen ist völlig unzureichend und zu einem großen Teil auf die fehlende Anleitung und Kontrolle durch die VVB zurückzuführen.
Die Behebung der schwierigen Reifensituation in der DDR durch eine Regenerierung der Reifen (Runderneuerung) findet in der Leitungstätigkeit der VVB zu wenig Beachtung. Auch auf dem Gebiet der Runderneuerung ist der Rückstand zum Weltniveau beträchtlich. Während in England rund 40 % und in den USA ca. 30 % der im Einsatz befindlichen Reifen runderneuert [sind] und wie Neureifen eingesetzt werden, beträgt der Anteil der runderneuerungsfähigen Reifen in der DDR ca. 15 % des Gesamtreifenaufkommens. Nur etwa 20 % des Altreifenaufkommens [sind] runderneuerungsfähig. Von dieser Menge an Altreifen können gegenwärtig wiederum nur ca. 20 % runderneuerte Reifen wie Neureifen eingesetzt werden. Die übrigen 80 % des runderneuerten Reifenaufkommens sind nur unter einschränkenden Bedingungen einsatzfähig – Geschwindigkeitsbegrenzung bis 50 bzw. 30 km/h und Einsatz auf nichtgelenkten Reifen – für Pkw und Lkw. Als entscheidende Ursache dieses Rückstandes werden die mangelhafte Qualität des Altreifenaufkommens und der derzeitige unzureichende Stand in der Technologie für eine industrielle Runderneuerung genannt.
Eine wesentliche Unterstützung für die Reifenindustrie der DDR durch die Zusammenarbeit im RGW, Ständige Kommission für Chemie, Arbeitsgruppe »Reifen- und Gummiindustrie«, ist bisher nicht erreicht worden.
Nach den vorliegenden Einschätzungen haben die deutschen Delegationsmitglieder – u. a. Generaldirektor Kobbelt1 und der Leiter des ZFR Dr. [Name] – verschiedene Anstrengungen auf dem Gebiet der Standardisierung von Reifen unternommen, jedoch ohne Erfolg. Die Standardisierung und Sortimentsbereinigung für Reifen im sozialistischen Lager ist in seinem Tempo vollkommen ungenügend. Gegenwärtig gibt es abweichende und sehr oft wechselnde Bereifung der Traktoren aus der UdSSR und ČSSR, der Pkw aus der UdSSR und der ČSSR und für Motorräder aus der ČSSR.
In der Vergangenheit erfolgten wiederholt TWZ-Reisen und auch eine rege Konferenztätigkeit. Der Aufwand ist jedoch nach Meinung beteiligter Fachleute zu groß und erbrachte nicht den erwarteten Nutzeffekt.
Über den gesamten Komplex der internationalen Zusammenarbeit im RGW und des bisher erzielten Nutzens für die DDR gibt es u. a. solche Auffassungen: Da die DDR auf dem Gebiet der Reifenherstellung den übrigen sozialistischen Ländern nichts zu bieten habe, wäre für diese Länder eine Zusammenarbeit uninteressant. Andererseits dürften Lizenzverpflichtungen der Reifenwerke in den übrigen sozialistischen Ländern gegenüber kapitalistischen Firmen sowie Geheimhaltungsgründe (SU: synthetischer Kautschuk) die Bedingungen der gegenseitigen Zusammenarbeit und Hilfe zum gegenwärtigen Zeitpunkt komplizieren.
Zur Arbeitsweise des WTZ-Reifen Fürstenwalde
Bereits seit 1950 werden im Industriezweig Reifen Forschungsarbeiten betrieben. Seit 1954 existiert ein selbstständiges WTZ Reifen mit dem Sitz in Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/O. Diese zentrale Forschungsstelle wurde aufgrund prinzipieller Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Werkleiter des Reifenwerkes Fürstenwalde und dem Leiter des WTZ Reifen Dr. [Name] im Jahre 1959 aus dem Unterstellungsverhältnis des Reifenwerkes Fürstenwalde herausgelöst und dem Berliner Reifenwerk zugeordnet.
Die Ausgliederung des WTZ Reifen aus dem Unterstellungsverhältnis des Reifenwerkes Fürstenwalde wurde von diesem Werkleiter damit begründet, dass er die Verantwortung, Anleitung und Kontrolle für die Arbeitsweise des WTZ nicht mehr übernehmen zu können glaubte. Die unplanmäßige und unkonzentrierte Forschungsarbeit hatte nachteilige Auswirkungen auf die Produktion des Reifenwerkes Fürstenwalde.
Zu diesem Vertrauensbruch hat insbesondere die Ausbuchung von etwa 5 bis 6 Mio. DM Forschungsgelder ohne ausreichenden Nutzennachweis beigetragen. Bis Ende 1962 erhielt das WTZ Reifen 15,6 Mio. DM Forschungsgelder aus dem Staatshaushalt zugewiesen, wovon rd. 15 % refinanziert wurden.
Die ungenügende Anleitung des WTZ durch die VVB Gummi und Asbest wird u. a. durch folgendes Beispiel besonders charakterisiert: Am 25.1.1963 wurde durch den Hauptbuchhalter und den kommissarischen technischen Direktor der VVB mit dem Leiter des WTZ Reifen Dr. [Name] ein noch nicht abgedeckter Forschungsaufwand von ca. 10 Mio. DM überprüft. Das Protokoll der Überprüfung wurde erst drei Monate später angefertigt. Darin wird u. a. festgestellt, dass
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für ca. 2,7 Mio. DM Forschungsgelder ausgebucht werden müssen (ca. 25 Forschungsthemen ohne jeden praktischen Nutzen abgebrochen werden);
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zwar 18 Themen abgeschlossen, jedoch nicht refinanziert sind;
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25 Themen mit einem Forschungsaufwand von ca. 3,3 Mio. DM sich noch in der Bearbeitung befinden;
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die Beratung ohne ernsthafte Schlussfolgerungen für beide Seiten – VVB und WTZ – erfolgte (Fehlende Konzentration der Forschungsarbeit auf Schwerpunkte des Industriezweiges).
Aus diesen Gründen, so meinen einige Experten, ist zumindest eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch die VVB, speziell seiner Finanzorgane, erkennbar. Die Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Leitung der VVB ist auch in dem unzureichenden Bemühen, den Leiter des WTZ Reifen um den Nachweis einer sinnvollen Verwendung der Forschungsgelder aufzufordern, sichtbar.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind noch Forschungsthemen mit einem Aufwand von ca. 8 Mio. DM teilweise in der Bearbeitung bzw. bereits ausgebucht und können daher auch nicht mehr voll refinanziert werden.
Die Ursachen der unzureichenden Wirksamkeit in der Forschungsarbeit des WTZ Reifen liegen nach Meinung einiger Experten in folgenden Faktoren begründet:
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Es fehlen exakte Aufgabenstellungen für den gesamten Forschungsplan und für jedes Thema, da insgesamt die technisch-ökonomische Konzeption für die Entwicklung des Industriezweiges Reifen fehlt.
- 2.
Anleitung und Kontrolle der Forschungsarbeiten durch den Leiter des WTZ sind ungenügend.
- 3.
Es fehlt eine ständige Errechnung des Nutzeffektes im Verlauf der stufenweisen Abwicklung von Forschungsthemen.
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Die Entwicklungszeiten sind zu lang.
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Es gibt nur ungenügende und unkonzentrierte Anleitung und Koordinierung sowie Kontrolle durch die einschlägigen Fachorgane der VVB Gummi und Asbest.
Während z. B. 1961 20 % aller Forschungsthemen bereits drei oder noch mehr Jahre bearbeitet wurden, waren es 1962 30 % aller Themen mit einer derart langen Bearbeitungsdauer. Seit 1953 werden insgesamt die jährlichen Forschungspläne nur etwa zur Hälfte erfüllt. Erst seit 1961 zeichnet sich ein etwas anderes Bild ab, und die finanziellen Abrechnungen weisen einen prozentualen Erfüllungsstand von 71 bzw. 68 v.H. aus.
Die Bearbeitung wichtiger Themen wie
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Reifencord aus vollsynthetischer Faser,
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Haftprüfung, Mikroprüfung, Reifenprüfung einschließlich Prüfstand,
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Reifenverschleißmessung,
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Gürtelreifen, Niederdruckreifen,
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Low-section-Reifen
wurden aber auch im Jahre 1963 nicht zielstrebig durchgeführt, sodass zum Jahresende wiederum beträchtliche Rückstände gegenüber dem Forschungsplan eintraten. Selbst der Forschungsplan für das Jahr 1964 garantiert bei keinem Thema eine mit hohem Nutzen verbundene Einführung in die Produktionspraxis. Außerdem ist ein solch wichtiges Thema »Runderneuerung« im Themenplan 1964 nicht enthalten.
Nach den vorliegenden Einschätzungen haben die abgeschlossenen Forschungsthemen aus den Jahren 1953 bis 1963 nur zu einem geringen Teil die Entwicklungsstufen »ÖK« bzw. »ÜV« erreicht, d. h. nur eine bedingte Produktionsreife erreicht.
Diese Mängel weisen eindeutig auf die völlig unbefriedigende Planung, fehlende Anleitung und mangelhafte Kontrolle der wissenschaftlichen Leitung hin.
Der Forderung – ordnungsgemäße und rechtzeitige Durchführung aller Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für den Industriezweig Reifen – ist das WTZ Reifen somit kaum gerecht geworden.
Die Leitungstätigkeit im WTZ Reifen wurde von den Mitarbeitern stark bemängelt. Die Arbeitsweise des Leiters Dr. [Name] wird als außerordentlich routinemäßig bezeichnet. Beratungen im wissenschaftlichen Rat finden selten statt. Systematische Auswertungen sowie sich daraus ergebende Schlussfolgerungen für eine konzentrierte Fortführung der Forschungsarbeiten fehlen.
Die ungenügende Arbeitsteilung in der Aufgabenstellung der leitenden Mitarbeiter des WTZ wird durch das unzureichende Durchsetzungsvermögen des Leiters Dr. [Name] gegenüber Mitarbeitern und seine Eigenschaft, die eigenen Kräfte und die des WTZ zu überschätzen, unterstützt. Dr. [Name] fehlen insgesamt nach den vorliegenden Einschätzungen die Fähigkeiten, ein so großes Kollektiv von wissenschaftlichen Mitarbeitern koordiniert anzuleiten und kontrollieren.
Eine Unterstützung Dr. [Name] durch seine Stellvertreter existiert kaum, wodurch er in doppelter Hinsicht belastet ist, indem er als Leiter des WTZ zugleich auch die Anleitung der wissenschaftlich-technischen Abteilungen durchführen muss.
Zur Lösung der wissenschaftlichen Aufgaben stehen dem WTZ Reifen rd. 200 Mitarbeiter zur Verfügung, wovon etwa 60 technisch-wissenschaftliche Kader sind. Nur etwa die Hälfte dieser Kader verfügt über ausreichende Produktionserfahrungen in der Reifenindustrie. Ein ausgesprochener Mangel besteht darin, dass die wissenschaftlich ausgebildeten Kader nur über ungenügende Produktionserfahrungen verfügen und daher kaum in der Lage sind, eine zielstrebige Forschungsarbeit zu leisten.