Westdeutsche Jugendliche über den Brief Ulbrichts an Erhard
11. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 469/64 über Meinungen westdeutscher Jugendlicher zum Brief Walter Ulbrichts an Erhard und zur Frage der Kontakte mit der DDR
Wie von einer zuverlässigen Quelle bekannt wurde, haben die Studenten der Sozialakademie Hamburg den Brief1 Walter Ulbrichts an Erhard2 in einzelnen Gruppen diskutiert. Die Hamburger Studenten und Studentenfunktionäre, die im Besitz eines einzigen Exemplars des Briefes waren, äußerten den Wunsch, dass dieser Brief in der westdeutschen Bevölkerung verbreitet wird. Sehr positiv wurden von der Mehrheit der Studenten die Ausführungen Walter Ulbrichts über den Kampf gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und jegliche Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden aufgenommen. In den Studentenkreisen wurde die Meinung vertreten, dass es notwendig sei, die Veranstaltungen am 1. September, dem Antikriegstag, zu unterstützen und an diesem Tage gegen Krieg und Stationierung von Atomwaffen zu demonstrieren. CDU-Mitglieder und einige Professoren hatten nicht vermocht, die Diskussionen unter den Studenten über den Brief Walter Ulbrichts zu unterbinden.
Führende Falken3-Funktionäre in Hamburg und Bremen äußerten sich erfreut über den Verlauf des Deutschlandtreffens4 in Berlin. Die Teilnehmer aus den beiden Städten waren besonders beeindruckt, dass man in Berlin in so offener Weise das gesamtdeutsche Gespräch unter der Jugend begonnen hatte. Sie diskutierten lebhaft über den Vorschlag Walter Ulbrichts, dass sich junge Abgeordnete der Volkskammer und des Bundestages zusammensetzen sollten. Der Vorschlag wurde begrüßt. Die Mehrheit der Diskussionsteilnehmer vertrat den Standpunkt, dass dieser Vorschlag verwirklicht werden kann, wenn man auf der untersten Ebene beginnt. So könnten sich z. B. erst einmal die jugendlichen Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft mit den jungen Abgeordneten des Rostocker Stadtparlaments zusammensetzen. Nach Meinung der genannten Falken-Funktionäre könne man, wenn es schon etwa 100 Beispiele auf örtlicher Ebene gibt, auch die jungen Abgeordneten des Bundestages und der Volkskammer zu Verhandlungen ermuntern.
Ein bedeutender Teil der Falken-Funktionäre in Bremen ist der Ansicht, dass es zwischen der FDJ und dem Falken-Verband Möglichkeiten geben muss, Delegationen auszutauschen. Man würde dabei ganz sicher gehen, wenn die Räte der Gemeinden, der Städte oder Kreise in der DDR einzelne Falken-Gruppen einladen würden. Sind diese Gruppen an Ort und Stelle angekommen, dann könne man sich mit der örtlichen FDJ einigen, politische Gespräche zu führen. Gerade in den Sommermonaten wären solche Einladungen angebracht. Die Falken-Funktionäre sind der Meinung, dass auch FDJ-Gruppen nach Westdeutschland kommen sollten.
Wie in diesem Zusammenhang bekannt wurde, ist die Mehrheit der SDS-Gruppe (Sozialistischer Deutscher Studentenbund)5 in Münster daran interessiert, das deutsche Gespräch mit Studenten der DDR zu führen. Sie beabsichtigen, im Oktober 1964 mit einer zehnköpfigen Gruppe nach Halle zu fahren und Gespräche mit Studenten der Universität Halle zu führen.
Auf der kürzlich durchgeführten Bundesdelegiertenkonferenz des SHB (Sozialdemokratischer Hochschulbund)6 in Heidelberg sprach sich die Mehrzahl der Delegierten für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und für eine Verständigung mit dem Osten aus.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Alex Möller7 äußerte seine Befürchtungen über diese politische Entwicklung im SHB. In dieser Jugendorganisation seien die gleichen Tendenzen festzustellen wie bei den Falken: Die Jugendlichen wollen ihre eigene Politik machen. Der SHB scheint nach Meinung Möllers vom SDS unterwandert zu sein. Ein anderer SPD-Funktionär erklärte, solche Tendenzen, wie sie jetzt beim SHB vorherrschen, hätten bereits ihren Ausdruck in den Ostbesuchen von SHB-Mitgliedern und in Ihrer Teilnahme am Deutschlandtreffen in Berlin gefunden.
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