Westliche Reaktion auf Besuch von DDR-Delegation in der UdSSR
9. Juni 1964
Einzelinformation Nr. 461/64 über die westliche Reaktion auf den bisherigen Verlauf des Besuchs der Partei- und Regierungsdelegation der DDR in der Sowjetunion
Obgleich offizielle politische Vertreter Bonns und Westberlins zu dem Besuch1 bisher nicht Stellung nahmen, fand er vom Tage des Eintreffens der Delegation in Moskau an eine starke Beachtung in der gesamten westdeutschen und Westberliner Presse sowie den Sendungen von Rundfunk und Fernsehen.2 Auch zahlreiche Presseorgane anderer westlicher Länder brachten ausführliche Informationen und Kommentare.
In den Meldungen wurde besonders über die Umstände des Empfangs der Delegation in Moskau berichtet. Die Reise durch Sibirien in den folgenden Tagen fand unterschiedliche Aufmerksamkeit. Stark beachtet wurde allgemein die Rede Walter Ulbrichts in Swerdlowsk.3
In den zahlreichen Versuchen einer politischen Interpretation des Besuchs und den teilweise widersprüchlichen Spekulationen hinsichtlich seiner Ergebnisse traten im Wesentlichen fünf Probleme besonders hervor:
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Im Zusammenhang mit dem jüngsten Brief4 Walter Ulbrichts an Erhard5 wurde mehrfach die Erwartung geäußert, dass in Moskau neue Initiativen und Vorschläge in der Deutschland- und Westberlinfrage abgesprochen würden, für die der Brief eine Art Auftakt gewesen sei. Es wurde in Verbindung damit auf die verstärkten Bonner Forderungen nach einer sogenannten neuen westlichen Deutschlandinitiative6 (Erhard-Reise nach den USA am 9.6.) verwiesen, der die Sowjetunion und die DDR entgegenzuwirken versuchen könnten. Über Art und Umfang der erwarteten neuen Initiativen der sozialistischen Staaten wurde sehr unterschiedlich spekuliert. Während in der der CDU/CSU nahestehenden Presse in der Tendenz stärker die Spekulation auf generelle neue Friedensvertragsvorschläge verbreitet und die Befürchtung vor einer »neuen Berlin-Krise« geäußert wurde, orientierten die der SPD nahestehenden Blätter mehr auf neue Teilvorschläge und -initiativen wie beispielsweise in der Passierscheinfrage und der Frage eines Zeitungsaustauschs.7
- 2.
Die Hauptbedeutung des Besuchs wurde allgemein in einer Vertiefung der Zusammenarbeit beider Länder gesehen. In diesem Zusammenhang kam häufig das Eingeständnis der Festigung der innen- und außenpolitischen Positionen der DDR zum Ausdruck.
- 3.
Zugleich wurde in den meisten Kommentaren – am stärksten in der SPD- und FDP-Presse, in britischen und amerikanischen Blättern und auch in den Rundfunksendungen – der Besuch als Versuch sowohl der DDR als auch der Sowjetunion dargestellt, den angeblichen »Erfolgen« der westlichen Politik der Zersetzung und Aufweichung im sozialistischen Lager und der angeblichen Tendenz zur »Isolierung« der DDR, hervorgerufen besonders durch die Errichtung der Bonner Handelsmissionen in einigen sozialistischen Staaten, entgegenzuwirken und die DDR in den sogenannten Liberalisierungsprozess im sozialistischen Lager voll einzubeziehen. Im Ergebnis dessen wurde auf »neue Auseinandersetzungen« und »neue Schwierigkeiten« im sozialistischen Lager besonders für die DDR spekuliert.
- 4.
In allen Blättern wurde eingeschätzt, dass in der Beurteilung der Haltung der Führer der KP Chinas8 volle Einmütigkeit zwischen der Sowjetunion und der DDR besteht. Teilweise kam das Eingeständnis zum Ausdruck, dass die Spekulationen auf Ausnutzung der Spaltertätigkeit der KP Chinas für die Bonner »Wiedervereinigungspolitik« nicht die erwarteten Aussichten haben könnten.
- 5.
Es wurde allgemein die Vermutung geäußert, dass wirtschaftliche Fragen beim Besuch der Delegation einen großen Raum einnehmen. Teilweise wurde in diesem Zusammenhang auf »wirtschaftliche Differenzen« zwischen der Sowjetunion und der DDR spekuliert, zugleich aber vielfach die große wechselseitige wirtschaftliche Bedeutung beider Länder füreinander unterstrichen.
Im Einzelnen wurde intern bekannt, Bundesminister Höcherl9 habe erklärt, trotz der offiziellen Zurückweisung sei der jüngste Brief Walter Ulbrichts an Erhard dem Bundeskabinett bekannt geworden. Der Besuch Walter Ulbrichts in der Sowjetunion werde im Kabinett nicht als Routinebesuch betrachtet. Es werde in seinem Ergebnis mit einer Aktivierung der Deutschlandpolitik durch die Sowjetunion und die DDR gerechnet.
Besonders in Westberliner Blättern wurde die Befürchtung vor einer »neuen Berlin-Krise« verbreitet, möglicherweise im Zusammenhang mit Maßnahmen der sozialistischen Staaten gegen die Bundespräsidentenwahl am 1.7. in Westberlin (»Der Kurier« 30.5.)10. Mehrfach wurde diesen Befürchtungen jedoch widersprochen. Brandt11 erklärte offiziell, es gebe keine Anzeichen für eine »neue Berlin-Krise«.
Besondere Aufmerksamkeit erregte in einigen Blättern (»Frankfurter Rundschau« 8.6.)12, dass Außenminister Bolz13 während der ganzen Zeit des Besuchs der Delegation Verhandlungen in Moskau geführt und Staatssekretär Winzer14 noch hinzugezogen habe. »Politische Kreise« im demokratischen Berlin hätten in diesem Zusammenhang die Meinung verbreitet, entgegen westlichen Auffassungen sei der Gedanke eines Friedensvertrags mit der DDR durchaus aktuell und früher oder später sei damit zu rechnen. Er würde jedoch an der gegenwärtigen Situation Westberlins nichts ändern und keine »neue Berlin-Krise« heraufbeschwören.
In mehreren Kommentaren besonders der SPD-Presse kam die Erkenntnis zum Ausdruck, dass sowohl zwischen den erneuten Vorschlägen Walter Ulbrichts an Erhard und andern Kontaktfragen wie Zeitungsaustausch oder Passierscheinverhandlungen15 als auch zwischen den amerikanischen Vorstellungen von einer »flexibleren« Ostpolitik16 und einer realistischeren Einstellung zur DDR unleugbare Zusammenhänge bestehen. Es wurde die Befürchtung geäußert, dass die Bonner Politik in der weiteren Auswirkung der Verständigungsvorschläge der DDR noch deutlicher mit diesen Zusammenhängen konfrontiert werden wird.
Insbesondere einige ausländische Blätter wiesen darauf hin, dass weitere Entspannungsvorschläge der DDR an die Bonner Adresse für Erhard gefährlich werden könnten. Nach dem jüngsten Brief Walter Ulbrichts werde Bonn nicht mehr lange an seiner bisherigen Haltung gegenüber der DDR festhalten können (»Combat« 29.5.)17. Die Hartnäckigkeit, mit der die Bundesregierung alle Annäherungsversuche der DDR abweise, werde auch im Westen nicht mehr überall verstanden (»Deutsche Welle«).
Der Aufforderung, die DDR-Vorschläge ernst zu nehmen, schloss sich sogar die Springer-Presse an. Diese Vorschläge seien ein Reflex auf die sogenannte flexiblere Ostpolitik. Die USA dürften in dieser Politik nicht zu weitgehen, da sie nicht nur die Methoden der Bonner Außenpolitik, sondern auch ihre Grundlagen berühre (»Die Welt« 28.5.)18.
Die Mehrzahl der westlichen Blätter legte den Akzent darauf, dass der Besuch der Delegation in der Sowjetunion in erster Linie der Vertiefung der Zusammenarbeit beider Länder diene. Es wurde von einem »großen Selbstbewusstsein« gesprochen, mit dem die DDR-Delegation aufgetreten sei (»Frankfurter Rundschau« 2.6.)19. Es könne nicht mehr von einer »Satellitenrolle« der DDR gesprochen werden. Der Besuch habe gezeigt, dass sie den Status eines »echten Verbündeten« der Sowjetunion besitze (»Christ und Welt« 5.6.)20.
Zugleich wurde in zahlreichen Pressekommentaren und besonders in Hetzsendungen des Rundfunks die Linie vertreten, die DDR-Delegation müsse in der Sowjetunion »Beweise« dafür erbringen, dass sich die DDR sowohl um Koexistenzpolitik als auch um »Liberalisierung« bemühe. Ihr Hauptziel sei es, den angeblichen Eindruck zu verwischen, dass die DDR durch die sogenannte neue Bonner Ostpolitik (Handelsmissionen) »isoliert« werde. Gleichzeitig wolle sie demonstrieren, dass in der DDR eine »Veränderung der Verhältnisse« in Richtung der sogenannten Liberalisierung nicht notwendig sei. In einigen Presseorganen kam jedoch teilweise das Eingeständnis zum Ausdruck, dass die Spekulationen auf eine »Isolierung« der DDR und insbesondere eine »Aufweichung« ihrer Beziehungen zur Sowjetunion (unter Ausnutzung des angeblichen chinesischen »Drucks« auf die Sowjetunion) durch den Besuch gestört wurden. Der Besuch habe gezeigt, dass gerade der »Streit mit Peking« das Ansehen der DDR stärke (»Die Welt« 2.6.)21.
Eine große Rolle in den Pressespekulationen spielten wirtschaftliche Fragen. Teilweise wurde von »Meinungsverschiedenheiten« gesprochen, weil die DDR innerhalb des RGW einen größeren wirtschaftlichen Spielraum verlange (»Süddeutsche Zeitung« 1.6.)22. Zugleich hieß es jedoch in anderen Kommentaren, die Sowjetunion sei selbst daran interessiert, dass die DDR alle Möglichkeiten erhalte, das »westliche Schaufenster« des sozialistischen Lagers zu werden und damit eine angebliche »Sonderstellung« einzunehmen (»Frankfurter Allgemeine« 1.6.)23.
Einen breiten Raum nahmen wirtschaftliche Fragen vor allem auch in den Rundfunkkommentaren ein. Die DDR wolle die Art und das Ausmaß der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion überprüfen und ihre Haltung nach dem Beispiel Rumäniens oder Ungarns24 verändern. Sie bestehe darauf, dass die wirtschaftlichen Interessen der DDR stärker beachtet werden, müsse sich jedoch auch weiterhin in enggezogenen Grenzen bewegen. Die DDR suche nach einem Ausweg, da ihr die wirtschafts- und handelspolitische Aktivität des Westens Schwierigkeiten bereite und die anderen sozialistischen Staaten nicht mehr so viel Rücksicht auf sie nehmen würden wie bisher.
Teilweise wurde in den Pressespekulationen auch besonders auf die Beteiligung des Genossen Mielke an der Delegation eingegangen. Es wurde einerseits vom »konservativen Faktor« in der Entspannungspolitik gesprochen, den die bewaffneten Organe sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR darstellten (»Tagesspiegel« 3.6.)25. Zugleich wurde darauf spekuliert, dass der Minister für Staatssicherheit sich die sowjetischen Erfahrungen eines »geschmeidigeren Vorgehens gegen die Gegner des Regimes« zu Eigen machen solle (»Christ und Welt« 5.6.)26. Die Teilnahme Erich Mielkes werfe die Frage auf, ob die DDR überhaupt eine »Liberalisierung« vornehmen könne. Sein Rat werde dabei vielleicht nützlich sein, vielleicht solle auch durch ihn bewiesen werden, dass jede »Lockerung« ein »Verhängnis« bedeuten würde (»Times« 6.6.)27.
Von westlichen Nachrichtenagenturen wurde die Meldung verbreitet, dass Chruschtschow nach Beendigung seiner Skandinavienreise28 wahrscheinlich am 5.7. die Rostocker Ostseewoche29 besuchen werde.30 Das MfAA der DDR bereite diesen Besuch bereits vor.