1. Bericht über das Manöver Oktobersturm (Zusammenfassung 901 + 902)
18. Oktober 1965
1. Bericht Nr. 915/65 über die Aktion »Oktobersturm« (Berichtszeitraum bis 16. Oktober 1965, 24.00 Uhr)
Dieser Bericht stellt eine erste Zusammenfassung der bisher bekannt gewordenen gegnerischen Pläne und Maßnahmen, der festgestellten Vorkommnisse in den an der Aktion1 beteiligten Einheiten und der Reaktion von Teilen der Bevölkerung dar:
Gegnerische Maßnahmen größeren Umfangs im westzonalen Vorfeld und im rückwärtigen Grenzgebiet, die im Zusammenhang mit den Manövern in der DDR zu sehen sind, wurden bisher nicht bekannt.
Größere Truppenbewegungen der Bundeswehr und anderer NATO-Einheiten wurden im Raum Eilvese, Krs. Neustadt am Rübenberge (Niedersachsen), in den Räumen Bonn, Hannover und Paderborn, im Gebiet von Eltmannshausen (in Richtung Staatsgrenze) festgestellt. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Truppenbewegungen den bei NATO-Manövern üblichen Rahmen überschreiten.
In einzelnen Grenzabschnitten wurde eine gewisse Verstärkung der gegnerischen Aufklärungstätigkeit festgestellt.
Im Grenzraum Neustadt/Coburg führte in den letzten Tagen die bayerische Grenzpolizei verstärkte Beobachtungen des Grenzgebietes der DDR durch und leitete die Beobachtungsergebnisse über Funk weiter.
Im westlichen Vorfeld des Kreises Eisenach nahm die Beobachtungstätigkeit durch Angehörige der US-Armee zu. Am Kranberg (gegenüber Treffurt) wurden gestern eine Funkmessstation und ein Beobachtungspunkt in Betrieb genommen. Im Raum Willershausen (Grenzbereich) gegenüber Pferdsdorf wurde eine Beobachtungsstelle mit Infrarotsichtgerät aufgestellt und im Raum Mühlfeld waren Funkfahrzeuge (vermutlich des BGS) eingesetzt, die ebenfalls mit Infrarotsichtgeräten ausgestattet waren.
Seitens des Zollkommissariates Obersuhl ergingen Anweisungen an den Zollgrenzdienst, dem Grenzgebiet der DDR in diesem Raum besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es soll auf alle Veränderungen, besonders auf militärische Bewegungen, Obacht gegeben werden. Zollposten hatten u. a. an das Zollkommissariat gemeldet, dass auf der Strecke Berka/Werra–Dankmarshausen an der Berkaer Allee ein neuer Beobachtungsstand der dortigen Grenzkompanie festgestellt wurde. Außerdem hatten sie berichtet, dass auf dem Gebiet der DDR, Straße nach Großensee, Zivilpersonen unter Postenbewachung Vermessungen durchgeführt hätten.
Dem MfS liegen ferner eine Reihe zuverlässige und detaillierte Informationen vor, dass die gegnerischen Geheimdienste, besonders der BND, bemüht sind, verstärkt Informationen über das Manöver zu erlangen. (Entsprechende Maßnahmen zur verstärkten Aufklärung und Absicherung wurden eingeleitet.)
Die westlichen Militärverbindungsmissionen konzentrierten sich auf Beobachtungen von Truppenbewegungen im Raum nördlich Erfurt und in den Bezirken Cottbus und Magdeburg sowie Dresden. Zu Verletzungen des zeitweiligen Sperrgebietes in den vom Manöver berührten Bezirken kam es bisher nicht.
Es wurden jedoch Versuche seitens der Angehörigen der Militärverbindungsmissionen festgestellt, unmittelbar hinter anderen größeren Fahrzeugen zu fahren, sich dadurch der Sicht zu entziehen und auf diese Weise in das zeitweilige Sperrgebiet einzufahren.
Am 13.10.1965 wurde die zwischen Weimar und Potsdam verlaufende Telefonleitung der Sowjetarmee zwischen den Orten Zscherben und Teutschenthal durch unbekannte Täter mittels primitiver Hilfsgeräte angezapft. Von der Leitung verliefen zwei Drähte am Mast zur Erde. Am Ende der Drähte war ein Deckel mit Buchsen versehen, über die ein Kopfhörer angeschlossen werden konnte.
Am 14.10.1965, gegen 19.00 Uhr, wurde durch einen Störtrupp des NB 4 festgestellt, dass eine Phase des Feldkabels einer NVA-Fernsprechabteilung vermutlich durchgeschnitten war. Das Kabel lag in der Nähe der Straße Schmerbach–Thal. Die Stelle der Kabelunterbrechung befand sich ca. 300 m vor der Ortschaft Thal. (Maßnahmen zur Ermittlung der Täter wurden in beiden Fällen eingeleitet.)
Bei der Paradeübung in Erfurt in der Nacht zum 15.10.1965 versuchten die Erfurter Bürger [Name 3] und [Name 4] in der Karl-Marx-Allee die Absperrung für die Paradeübung zu durchbrechen. Als sie daran gehindert wurden, hetzten sie gegen das Manöver und versuchten ca. 30 weitere Personen gegen die an der Paradeübung teilnehmenden Truppen aufzuwiegeln. Beide Personen waren vorläufig festgenommen worden. (Untersuchungen sind eingeleitet)
Außerdem kam es zu einer Reihe besonderer Vorkommnisse innerhalb der beteiligten Einheiten:
Eine zum Einsatzkommando Zerbst, [Bezirk] Magdeburg gehörende sowjetische Düsenmaschine wurde am Abend des 15.10.1965 als überfällig gemeldet. Sofort eingeleitete Untersuchungen ergaben, dass das Flugzeug ca. 2 000 m nördlich Theeßen, [Kreis] Burg, abgestürzt ist. Das Absturzgebiet wurde von einem sowjetischen Kommando abgesperrt.
In der Stadt Burg, [Bezirk] Magdeburg, kam es gegen 20.00 Uhr zu einem Vorkommnis unter den speziell für das Manöver eingesetzten Regulierungstruppen der sowjetischen Armee. Die am Ortsausgang von Burg eingesetzten Regulierungsposten nahmen in den Nachmittagsstunden des 15.10.1965 in der HO-Gaststätte »Waldesruh« Alkohol zu sich. Nachdem sie die Gaststätte verlassen hatten, kam es zu Streitigkeiten, in deren Ergebnis ein Angehöriger der Sowjetarmee die Pistole zog und auf einen Regulierungsposten zwei Schüsse abgab. Der Verletzte befindet sich im Hospital in Burg. (Negative Diskussionen zu diesem Vorkommnis wurden bisher nicht bekannt.)
Am 14.10.1965, gegen 21.00 Uhr, entfernte sich der Soldat [Name 1, Vorname], MSR 23 (4. MSD), NVA seit 3.11.1964, aus dem Konzentrationsraum Tabarz unerlaubt von seiner Einheit mit der Absicht, nach Westdeutschland fahnenflüchtig zu werden. Beim Versuch, mit einem in Tabarz gestohlenen Bus in Richtung Grenze zu fahren, wurde er in Tabarz bereits beim Anfahren des Fahrzeuges vom Busfahrer gestellt. Er wurde sofort festgenommen. [Name 1] stand der Ableistung des Wehrdienstes in der NVA ablehnend gegenüber.
Neben diesen Vorkommnissen ereigneten sich eine Reihe verschiedenartiger Unfälle, wodurch zum Teil erheblicher Personen- und Sachschaden entstand. Während es sich in den meisten Fällen um Unfälle mit ausschließlicher Beteiligung von eingesetzten Kräften und Fahrzeugen handelte, wurde in den nachstehend geschilderten vier Fällen auch die Bevölkerung betroffen:
Am 14.10.1965, gegen 14.30 Uhr, ereignete sich auf der Autobahn in Höhe der Abfahrt Magdala, [Bezirk] Erfurt, ein Verkehrsunfall zwischen einem sowjetischen Militärfahrzeug und einem Volkswagen, pol. Kennz. 26 Z 4152. Das Militärfahrzeug fuhr aus einer Kolonne plötzlich auf die linke Fahrbahn, wodurch es mit dem Volkswagen des indischen Staatsbürgers [Name 5], wohnhaft in Kuweit, zusammenstieß. Personen wurden nicht verletzt.
Durch plötzliches Ausscheren eines Panzers aus der Kolonne einer ausrückenden sowjetischen Panzereinheit – die Kolonne bremste stark und der Panzerfahrer wollte ein Auffahren auf den vor ihm fahrenden Panzer verhindern – wurde am 14.10.1965 in Wurzen, [Bezirk] Leipzig, ein Wohnhaus beschädigt.
Am 15.10., gegen 17.15 Uhr, ereignete sich in Ostramonda, [Kreis] Sömmerda, ein schwerer Verkehrsunfall zwischen einem Lkw einer sowjetischen Einheit vom Objekt Lossa und einem deutschen Kradfahrer. Der Kradfahrer wurde schwer verletzt und ist verstorben. Schuld am Unfall war der Kradfahrer durch Nichteinhaltung der rechten Fahrbahnseite.
Am 15.10.1965, gegen 17.25 Uhr, fuhr ein sowjetischer Lkw mit Anhänger durch überhöhte Geschwindigkeit und Nichtbeachtung der Straßenverhältnisse in Geisenhain, [Kreis] Stadtroda, gegen ein Haus. Dabei wurde der Schüler [Name 11, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1951, der aus einem Fenster schaute, leicht verletzt. Es entstand ein Gebäudeschaden von ca. 1 000 MDN und am Fahrzeug ein Sachschaden von ca. 300 MDN.
Nach den bisher vorliegenden Informationen aus den an der Aktion beteiligten Truppenteilen und Verbänden der NVA vollbringen die Soldaten, Unterführer und Offiziere große Leistungen bei der Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben. Die Mehrzahl bringt in Gesprächen und Diskussionen zum Ausdruck, dass sie dazu beitragen wollen, die militärische Übung zu einem vollen Erfolg zu führen, und unterstreichen ihren Willen durch gute Einsatzbereitschaft. Hinweise auf direkte feindliche Stimmungen wurden bisher nicht bekannt.
Jedoch liegen Informationen über den pol.-moralischen Zustand in der 11. GB vor, wonach von einem Teil der Angehörigen dieser Brigade die Notwendigkeit der erhöhten Einsatzbereitschaft (verstärkte Grenzsicherungsmaßnahmen, dienstliche »Überlastung«) noch nicht voll erkannt wird. Vereinzelt wurde angeführt, dass die Durchführung der Manöver in Grenznähe zur Gefährdung des Friedens beitragen könne.
Wie berichtet wird, habe der Chef der Grenzkompanie Unterbreizbach, [Kreis] Bad Salzungen, Hptm. [Name 12], auf einer Dienstbesprechung u. a. ausgeführt, dass »wegen eines so kleinen Manövers die ganze Armee auf den Kopf gestellt« werde. Die westliche Seite würde ihre Grenzsicherungskräfte bei militärischen Übungen nicht in diesem Maße einbeziehen.
Vereinzelte Diskussionen, in denen ebenfalls eine gewisse Unterschätzung der Notwendigkeit höherer Anforderungen und der politischen Bedeutung der Aktion zum Ausdruck kam, wurden ferner von Angehörigen der Trapo (Bereiche Meiningen und Suhl) bekannt.
Nachdem die an der Manöverübung beteiligten Einheiten die Konzentrierungsräume bezogen haben, mehren sich die Fälle, dass Mannschaften und Unterführer unerlaubt ihre Einheiten verlassen. Z. B. verließen am 14.10.1965 im PR 16 drei Unterführer ihre Einheit, betranken sich in einer Gaststätte in Saalborn und beleidigten unter Alkoholeinfluss stehend auf dem Heimweg einige Offiziere. Durch die Regimentsleitung wurden Disziplinarmaßnahmen eingeleitet.
Vom PR 14 verließen am 15.10. drei Unterführer den Konzentrierungsraum ihrer Einheit und mussten aufgrund übermäßigem Alkoholgenusses ihrer Einheit zugeführt werden.
Ähnliche Erscheinungen gibt es auch in den Einheiten der 4. MSD und der 7. PD.
In diesem Zusammenhang gibt es besonders unter den Offizieren des PR 4 Diskussionen, dass sich der lange Aufenthalt im Konzentrierungsraum (14.10.–19.10.1965) beeinträchtigend auf den politisch-moralischen Zustand der Truppe auswirken kann.
Vom Org.-Stab der NVA in Erfurt musste Oltn. [Name 13] – Dolmetscher der Dolmetscherabt. des MfNV – seiner Funktion entbunden und zum MfNV zurückversetzt werden, weil er in der Nacht zum 16.10.1965 im Clubraum des 4. MSD in stark angetrunkenem Zustand randalierte, der Aufforderung, den Club zu verlassen, nicht nachkam und den anwesenden Oberstltn. [Name 14] tätlich angriff.
Weiter gibt es einzelne Hinweise auf eine grobe Vernachlässigung der Wachsamkeit, die sich vor allem im leichtfertigen Umgang mit VS-Dokumenten widerspiegeln.
Dabei wurden vor allem Arbeitsunterlagen – Nachrichtenverbindungsschemen, Tarntabellen, Decknamenverzeichnisses usw. – leichtfertig und unbeaufsichtigt abgelegt oder ohne Quittung und Nachweisführung ausgegeben (z. B. im AR 7, in der Fla-Abt. 7.). Ähnliche Hinweise auf eine Verletzung der Geheimhaltungspflicht gab es bereits beim Einrücken der Truppen in die Konzentrierungsräume. Dabei wurden durch die Einweisungs- und Regulierungsposten wiederholt detaillierte Auskünfte über geplante militärische Maßnahmen und Vorhaben (Konzentrierungsräume, Übungsablauf usw.) an Zivilpersonen erteilt.
Über die Reaktion und Stimmung der Bevölkerung kann noch keine umfassende Einschätzung vorgenommen werden.
Die bisher bekannt gewordenen Reaktionen lassen im Wesentlichen erkennen, dass sich der überwiegende Teil der Bevölkerung über die politische Bedeutung des Manövers im Klaren ist. In zahlreichen Fällen, insbesondere im Bezirk Erfurt, traten Bürger negativen Diskussionen entgegen.
Bei den in Diskussionen und Gesprächen auftretenden Unklarheiten handelt es sich im Wesentlichen um »Argumente«, wonach durch die militärischen Übungen die Kriegsgefahr erhöht werden könnte und die finanziellen Ausgaben für das Manöver für andere Zwecke verwendet werden müssten. Mitunter wurde »argumentiert«, dass ein möglicher kommender Krieg sowieso durch Atomwaffen entschieden werde.
In einer Reihe von Fällen kamen Unzufriedenheit über Transportverzögerungen, die aufgrund der Truppenbewegungen eintreten, sowie Befürchtungen über größere Manöverschäden zum Ausdruck.
In einzelnen Fällen sprachen sich Bürger gegen die Teilnahme von Einheiten der befreundeten Armeen aus.
Im Bereich der Universitätsklinik Jena wurden Bedenken dahingehend geäußert, dass durch den Lärm (Düsenflugzeuge) die Krankenbehandlung ungünstig beeinflusst werden könnte. Vereinzelt werden Vergleiche mit den in Berliner Raum anlässlich der widerrechtlichen Bundestagssitzung durchgeführten Luftübungen angestellt und erklärt, dass in Berlin damals solche Erscheinungen zu verzeichnen gewesen seien.
Äußerungen westdeutscher Besucher an den Grenzübergängen ergaben, dass ein großer Teil der westdeutschen Bevölkerung keine Kenntnis von den Manövern in der DDR hat. In Einzelfällen wurde erklärt, dass in Westdeutschland zahlreiche Manöver durchgeführt werden und man es der DDR nicht verdenken könne, wenn sie ebenfalls Manöver durchführt.
In einzelnen Orten kursieren Gerüchte, nach denen die Manöver für Einwohner bestimmter Orte oder Gebiete zu erschwerenden Lebensbedingungen führen würden (Sperrung bestimmter Gebiete, Ausgangssperren, mögliche Evakuierungen, Versorgungsschwierigkeiten usw.)
In Eisenach versuchte der VEB Minol seine mangelhafte Organisation in der Belieferung der Tankstellen mit der Behauptung zu vertuschen, dass die Schwierigkeiten in der Belieferung durch die Manöver entstanden wären. (Einige Tankstellen hatten kein Benzin mehr.)
In diesem Zusammenhang wird auf Diskussionen unter Arbeitern im Büromaschinenwerk Sömmerda hingewiesen, wonach in den nächsten Tagen im Bus-Verkehr mit Schwierigkeiten zu rechnen sei, da angeblich das Benzin des zivilen Sektors für militärische Zwecke verbraucht würde.