Fahnenflucht eines Grenzoffiziers bei Boizenburg
24. September 1965
Einzelinformation Nr. 837/65 über die Fahnenflucht eines Leutnants und eines Gefreiten des Grenzbataillons Schwartow, Grenzregiment Wittenburg, mittels eines Sanitätskraftwagens nach Westdeutschland am 22. September 1965
Am 22.9.1965, gegen 7.30 Uhr, berichtete der Feldscher im II. GB des GR 7, Leutnant [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1937 in Danzig, wohnhaft Boizenburg/Elbe, [Straße Nr.], NVA seit 9.12.1954, Mitglied der SED seit 1957, verheiratet, 1 Kind, seinem Batl.-Kommandeur über den zzt. hohen Krankenstand in der 9. Kompanie Vierkrug, GR 7. Da er über die Ursachen keine Auskunft geben konnte, erhielt er vom Batl.-Kommandeur den Befehl, bis zum 22.9.1965 abends Überprüfungen in der Kompanie Vierkrug durchzuführen, um die Ursachen des Krankenstandes zu erforschen.
Gegen 8.00 Uhr verließ [Name 1] mit dem Kraftfahrer Gefr. [Name 2] mittels eines Sankra die Dienststelle. Gegen 8.30 Uhr meldeten sich beide beim Kompanieführer der Kompanie Vierkrug, Oltn. [Name 3]. Diesem erklärte [Name 1], dass er den Auftrag habe, Erdproben an den Postenständen zu entnehmen, um festzustellen, ob der Gegner mit Giften arbeite, die zu Erkrankungen führen oder ob sich das von der NVA angewandte Unkrautvertilgungsmittel auf den Gesundheitszustand der Soldaten auswirken würde. Oltn. [Name 3] war zwar über diesen Auftrag verwundert, er leitete aber keine Maßnahmen zur Überprüfung und zur Absicherung der Arbeiten ein.
Der diensthabende Zugführer Unterfeldwebel [Name 4] wies – ebenfalls ohne Überprüfung – die Posten an, [Name 1] im Grenzgebiet passieren zu lassen.
In Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten begab sich der Kompaniechef zu einer Kontrolle der Arbeiten an einem Postenhaus an der Fernverkehrsstraße 5. Gegen 10.15 Uhr trafen auch [Name 1] und [Name 2] mit dem Sankra am gleichen Ort ein. [Name 1] ließ das Fahrzeug anhalten, stieg aus und unterhielt sich mit Oltn. [Name 3]. Dabei machte er den Kompaniechef auf unmittelbar an der Grenze stehende Zöllner und Schulkinder aufmerksam und stellte die Frage, ob sie nicht auch zur Grenze gehen wollen. Beide begaben sich daraufhin bis auf ca. 25 m an die Grenze heran, die auf der F 5 nur durch einen weißen Strich markiert ist. Oltn. [Name 3] erklärte dabei, dass man auch frecher sein und bis an den Grenzstrich herangehen müsste, woraufhin [Name 1] sofort nach vorn gehen wollte. [Name 3] hielt ihn aber davon ab und beide begaben sich zurück zu ihren Fahrzeugen.
Am Postenhaus, das zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt war, nahm [Name 1] die ersten Bodenproben. Oltn. [Name 3] kümmerte sich daraufhin nicht mehr um [Name 1] und fuhr in Richtung Hinterland. Ca. 800 m von der Grenze entfernt hielt er nochmals an, um einen von der LPG neu errichteten Zaun zu besichtigen. Dabei stellte er fest, dass sich [Name 1] und [Name 2] mit dem Fahrzeug bereits auf westdeutschem Territorium befanden. Das Überfahren der Grenze wurde auch durch den ca. 1 000 m rechts der F 5 eingesetzten Posten beobachtet, der jedoch keine Möglichkeit zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs hatte.
Am 22.9.1965, gegen 16.30 Uhr, kehrte der Gefr. [Name 2] aus Westdeutschland über die GÜST Selmsdorf zurück. In der ersten Befragung führte [Name 2] zum weiteren Sachverhalt Folgendes an:
[Name 2] war noch nie an der Grenze und kannte sich in diesem Gebiet nicht aus. Er wusste lediglich, dass [Name 1] im Grenzgebiet Bodenproben entnehmen sollte. Nachdem [Name 1] und [Name 3] zurückgekehrt waren, bestieg [Name 1] das Fahrzeug und wies [Name 2] an, weiter nach vorn zu fahren, um da ebenfalls Bodenproben zu entnehmen. [Name 2] fuhr daraufhin weiter und hielt auf Weisung von [Name 1] an, als nach einer kurzen Fahrtstrecke plötzlich Uniformierte an der Straße standen.
[Name 1] stieg aus, unterhielt sich mit den Uniformierten und stieg in einem dort parkenden Volkswagen ein. Zu [Name 2] in den Wagen stieg ein anderer Uniformierter und wies an, dem Volkswagen nachzufahren. [Name 2] will dabei die Uniformierten nicht als Angehörige des westdeutschen Zolls erkannt haben. Er sei erst aufmerksam geworden, als er das Ortsschild »Lauenburg« und ihm fremd erscheinende Reklameschilder sah und als er aufgefordert wurde, vor der Zolldienststelle in Lauenburg zu halten.
Von diesem Zeitpunkt an will [Name 2] keine Gespräche mehr mit [Name 1] geführt haben. Beide mussten in der Zolldienststelle warten und wurden nach ca. einer Stunde mit einem Jeep nach Lübeck gebracht.
In einer Dienststelle, die mit »Innenministerium« o. Ä. bezeichnet war, wurden beide in getrennte Zimmer geführt, wobei [Name 2] nicht mehr mit [Name 1] zusammenkam. Bei der Befragung nach den Ursachen seiner Fahnenflucht will [Name 2] erklärt haben, dass er nicht fahnenflüchtig geworden sei, sondern aus Unkenntnis über den Grenzverlauf nach Westdeutschland gekommen sei. Auf sein Verlangen, in die DDR zurückzukehren, habe man ihn in einem Lkw zur Grenze gefahren und zu Fuß in die DDR geschickt. Nach militärischen Angaben will [Name 2] in den westzonalen Dienststellen nicht befragt worden sein.
In der bisherigen Untersuchung wurde Folgendes festgestellt:
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[Name 1] besuchte von 1943 bis 1952 die Volksschule und erlernte danach auf der »Matthias-Thesen-Werft« in Wismar den Beruf eines Stahlschiffbauers.
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1954 wurde er auf seine Bewerbung hin in die DGP eingestellt.
Sein bisheriger Dienstverlauf war Folgender:
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1954–1956 Posten und Postenführer
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1956 Besuch der Sanitätsunteroffiziers-Schule
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1956–1958 Sanitäts-Uffz. im KPP Horst
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1960–1961 Besuch der Feldscherschule
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1961 Feldscher im II. GB (Schwartow) GR 7.
Seine Ernennung zum Offizier erfolgte aus disziplinaren Gründen nicht mit Abschluss der Feldscherschule, sondern erst auf Eingabe am 1.12.1962.
Seit 1950 ist er in der FDJ und seit 1957 ist er Mitglied der SED. Ihm übertragene Funktionen erfüllte er nur unzureichend und er wurde mehrmals wegen seiner ungenügenden Arbeit zur Rechenschaft gezogen. Für den politischen Unterricht in der Truppe zeigte er nur wenig Interesse. Auch auf fachlichem Gebiet zeigte er wenig Initiative bei der Durchsetzung von Befehlen und Weisungen auf medizinischem Gebiet.
Mängel und Schwächen in seiner Arbeit versuchte er zu vertuschen oder zu verniedlichen und er galt deshalb bei seinen Vorgesetzten als unehrlich. [Name 1] trank gern Alkohol. [Name 1] befand sich fast ständig in finanziellen Schwierigkeiten. Er machte mehrmals Schulden und im April 1964 eignete er sich eine größere Summe aus der ASV-Kasse an, die er verwaltete. Die nach der Fahnenflucht eingeleiteten Untersuchungen führten zur Aufdeckung weiterer Unterschlagungen in Höhe von 420 MDN.
In seiner Ehe gab es in der Vergangenheit verschiedene Differenzen, gegenwärtig sind solche jedoch nicht bekannt und nach Aussagen der Ehefrau führten sie in letzter Zeit eine harmonische Ehe. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit und seiner Dienststellung hatte er einen großen Bekanntenkreis. Weiter wurde bekannt, dass ein Onkel der Ehefrau in Wuppertal wohnt, mit dem sie in loser Verbindung stand.
Gefr. [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1939 in Berlin, wohnhaft Berlin-Wilhelmsruh, [Straße Nr.], NVA seit 3.5.1964 (Grundwehrdienst) als Sanitäter/Kraftfahrer, SED seit 1963, verheiratet, 1 Kind, stammt aus einer Arbeiterfamilie.
Er besuchte bis 1954 die Grundschule und lernte anschließend den Beruf eines Installateurs. Vor seinem Wehrdienst war er Kraftfahrer bei der BVG. [Name 2] führte seine ihm übertragenen Dienstpflichten bisher ohne wesentliche Beanstandungen durch. Charakterlich gilt er als aufgeschlossen und bei seinen Genossen ist er beliebt. Gesellschaftlich trat er bisher nicht hervor. Bis zum 13.8.1961 besuchte er oft die Westsektoren Berlins.
Die Untersuchungen der näheren Ursachen und Zusammenhänge der Fahnenflucht des [Name 1] werden durch das MfS weitergeführt.