Fahnenflucht eines Grenzsoldaten in Berlin
18. August 1965
Einzelinformation Nr. 755/65 über die Fahnenflucht des Gefreiten [Name 1, Vorname], Angehöriger der 1. Komp. des GR 48 der Stadtkommandantur Berlin am 17. August 1965
Am 17.8.1965, gegen 21.15 Uhr, wurde der Gefreite [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1940 [in] Rottersleben, wohnhaft Hallenstädt, [Kreis] Haldensleben, NVA seit 5.5.1964, Mitglied der SED seit 1960, während des Grenzdienstes nach Westberlin fahnenflüchtig.
[Name 1] war als Postenführer gemeinsam mit dem Posten Soldat [Name 2] als Grenzstreife im Abschnitt der 1. Komp. vom Importweg bis Bombentrichterweg eingesetzt. Bereits beim Betreten des Grenzabschnittes löste [Name 1] durch Unvorsichtigkeit ein Signalgerät aus. Der Aufforderung seines Postens, das Vorkommnis unverzüglich dem Führungspunkt zu melden, kam [Name 1] nicht nach, da er vorher erst austreten gehen wollte. Durch die Auslösung des Signalgerätes erschien[en] der Gruppenkommandeur Uffz. [Name 3] und sein Begleitposten bei dem Postenpaar [Name 1]/[Name 2], um sich nach dem Sachverhalt zu erkundigen. [Name 1] erstattete über das Vorkommnis Meldung und bat den Gruppenkommandeur austreten gehen zu dürfen. Uffz. [Name 3] gestattete dieses, übernahm mit seinem Begleitposten die Sicherung des Abschnitts und wies [Name 1] an, etwas zurückzugehen und seinen Posten mitzunehmen.
[Name 1] begab sich danach in ein Kusselgelände1, während sich [Name 2] ca. vier Meter von diesem Kusselgelände zur Sicherung aufhielt.
Nach ca. drei Minuten rief [Name 2] nach [Name 1], der sich jedoch nicht meldete. Auch auf die Rufe des Gruppenkommandeurs nach [Name 1] erfolgte keine Antwort. Kurze Zeit danach vernahm der Gruppenkommandeur Uffz. [Name 3] Geräusche in der pioniertechnischen Anlage, wobei der Begleitposten gleichzeitig Vorfeldbeleuchtung schoss. Es konnte jedoch nichts festgestellt werden. Unmittelbar darauf schoss [Name 1] mittels seiner mitgenommenen Leuchtpistole vom Gelände feindwärts der pioniertechnischen Anlage (noch DDR-Territorium) das Signal »Eilt zu Hilfe« und »Grenzdurchbruch.« Durch diese Signale wurde eine zweite Kontrollstreife aufmerksam, die sich sofort zur Durchbruchstelle begab. An dieser Stelle wurden Spuren nach Westberlin festgestellt. Aufgrund von Geräuschen hinter der PTA wandte die Kontrollstreife die Schusswaffe in diese Richtung an, jedoch ohne dass sie den [Name 1] sichteten. Bei der weiteren Untersuchung wurde in der PTA das Käppi des Fahnenflüchtigen aufgefunden. [Name 1] nahm seine MPi, 60 Schuss Munition und die Leuchtpistole mit nach Westberlin.
[Name 1] besuchte die Grundschule bis zur 7. Klasse, er erlernte keinen Beruf und war bis zu seiner Einstellung in die NVA Transportarbeiter im Öl- und Fettwerk Merseburg. Sein Vater war Arbeiter, er verstarb 1958 nach einem Unfall. Verwandte und Bekannte außerhalb der DDR wohnhaft konnten nicht festgestellt werden. Seine fünf Geschwister sind alle in der DDR wohnhaft.
Zu seinem bisherigen Verhalten während der Dienstzeit bei der NVA wurde Folgendes festgestellt:
Während der Ausbildung trat er wiederholt undiszipliniert gegenüber seinen Vorgesetzten auf. Er diskutierte über Befehle und beteiligte sich nur ungenügend am Politunterricht. Während des Ausgangs trank er öfter übermäßig Alkohol.
Nach seiner Versetzung zur 1. Kompanie im September 1964 änderte er jedoch sein Verhalten. Er entwickelte sich zum Postenführer und wurde aufgrund seiner guten Dienstdurchführung und seiner positiven Einstellung als Postenführer bestätigt.
In der Untersuchung der möglichen Ursachen wurde Folgendes festgestellt:
Am 16.8.1965 wurde dem [Name 1] der Ausgang gesperrt, weil sein Zug als Alarmzug eingesetzt war. [Name 1] selbst hatte jedoch dienstfrei und war über diese Maßnahme stark verärgert.
Am 17.8.1965, gegen 13.30 Uhr, erhielt[en] [Name 1], Uffz. [Name 3] und andere Genossen des Zuges vom Zugführer den Auftrag, sich zum Stab des GR 48 zu begeben und sich einer Röntgenuntersuchung zu unterziehen. Anschließend suchten die Genannten die Gaststätte im Objekt Potsdam, Heinrich-Mann-Allee auf, wobei der [Name 1] nach seinen Angaben gegenüber dem Soldaten [Name 2] sechs bis acht große Glas Bier getrunken haben will.
Gegen 16.45 Uhr meldeten sich die Genossen beim Kompaniechef zurück und begaben sich zur Nachtruhe, weil der 2. Zug zum Nachtdienst aufziehen musste. Als der 2. Zug gegen 18.30 Uhr geweckt wurde, blieb [Name 1] im Bett liegen. Erst der Zugführer Ultn. [Name 4] konnte ihn zum Aufstehen bewegen. Gleichzeitig machte er [Name 1] Vorhaltungen wegen seiner schlechten Disziplin. [Name 1] antwortete, dass er nicht so diszipliniert sein könnte wie die anderen Genossen, er aber die Tage bis zum Oktober noch aushalten würde.
Nach dieser Auseinandersetzung legte sich [Name 1] wieder in das Bett in der Annahme, dass er nicht zum Grenzdienst braucht.
Gegen 19.45 Uhr wurde [Name 1] wieder vom Zugführer aus dem Bett geholt und zum Grenzdienst befohlen. Als der Zug bereits zur Vergatterung angetreten war, trat [Name 1] schwankend in das Glied ein und wurde mit vergattert.
Eine Veränderung der Postenplanung aufgrund der Trunkenheit des [Name 1] wurde vom Zugführer nicht durchgeführt. Nach vorliegenden Hinweisen hat der Zugführer Ultn. [Name 4] kein gutes Verhältnis zu seinen Unterstellten. Trotz mehrfacher Hinweise und Kritik an ihm, sind keine wesentlichen Veränderungen eingetreten.