Grenzdurchbruch am Haus der Ministerien in Berlin-Mitte (2)
6. August 1965
Einzelinformation Nr. 731/65 über einen Grenzdurchbruch vom Haus der Ministerien aus nach Westberlin am 29. Juli 1965
Durch die Untersuchungen des MfS wurde zum Grenzdurchbruch vom 29.7.1965, bei dem es drei DDR-Bürgern gelang, sich vom Dach des Hauses der Ministerien nach Westberlin abzuseilen, – ergänzend zur Information 717/65 – Folgendes bekannt:1
Durch unsere Grenzsicherungskräfte wurde der Grenzdurchbruch erst am 29.7.1965, gegen 4.20 Uhr, festgestellt, nachdem sie durch Westberliner Polizeiangehörige aufgefordert worden waren, eine in der Niederkirchner Straße (zwischen HdM und Grenzsicherungsanlagen) liegende Aktentasche über die Grenzsicherungsanlagen auf Westberliner Territorium zu werfen. Aufgrund dieses Hinweises erfolgte eine Überprüfung dieses Geländes, wobei gegen 4.40 Uhr unmittelbar auf dem 10-m-Kontrollstreifen am Haus eine Aktentasche mit den Personaldokumenten und anderen persönlichen Unterlagen der Grenzverletzer aufgefunden wurde. Im Ergebnis der daraufhin eingeleiteten weiteren Untersuchungen wurden dann auch die zum Grenzdurchbruch benutzten Gegenstände (Stahlseil usw.) festgestellt.
Nach den bisherigen Untersuchungen ist dieser Grenzdurchbruch schon längere Zeit vorbereitet und von Westberliner Gebiet aus aktiv unterstützt worden. Bei den Grenzverletzern handelt es sich nach den bisherigen Ermittlungen um Holzapfel, Heinz, geb. [Tag, Monat] 1931, beschäftigt gewesen als Koordinator bei der VVB Furniere und Platten in Leipzig, dessen Ehefrau Holzapfel, geb. Lindner, Jutta, geb. [Tag, Monat] 1933, beschäftigt gewesen bis Mitte Juli 1965 beim Messeamt Leipzig, und deren 9-jähriger Sohn Holzapfel, Günther, alle wohnhaft in Leipzig, [Straße Nr.].
(Holzapfel hatte in der Vergangenheit wiederholt das HdM mittels Passierschein betreten, beim Verlassen des Hauses jedoch zwei Passierscheine nicht abgegeben. Eine Überprüfung der Vollzähligkeit der zurückgegebenen Passierscheine durch den Betriebsschutz (A) des HdM erfolgte jedoch nicht, sodass das Fehlen dieser Scheine überhaupt nicht festgestellt wurde. Die von Holzapfel einbehaltenen Passierscheine wurden offensichtlich von ihm verfälscht und dienten der Familie Holzapfel am 28.7.1965 zum Betreten des HdM. Das Objekt hätte von der Familie Holzapfel aber auch ohne diese einbehaltenen Passierscheine betreten werden können, da eine Ausstellung von Passierscheinen auf Verlangen und ohne Voranmeldung bei dem zu Besuchenden erfolgt. Das Betreten des Objektes mit den offensichtlich verfälschten Passierscheinen war – begünstigt durch einen starken Besucherverkehr – aufgrund der oberflächlichen Kontrolle durch den Betriebsschutz möglich.)
In den Nachmittagsstunden hielten sich Holzapfel und seine Familie in verschiedenen Räumen (Speiseraum, Bibliothek, Zeitungskiosk usw.) auf. Nach Dienstschluss, gegen 17.30 Uhr, suchten sie eine im 7. Stockwerk gelegene Damentoilette auf, die sie von innen verriegelten und durch ein Schild zur Nichtbenutzung kennzeichneten. Nach 22.00 Uhr begaben sie sich durch das Toilettenfenster auf das Dach des 6-stöckigen Ostflügels und liefen auf dem Dach dieses Gebäudeteils des HdM in Richtung Niederkirchner Straße, die in diesem Abschnitt die Staatsgrenze bildet.
Die praktische Verwirklichung des Grenzdurchbruches erfolgte entsprechend den nachträglichen Überprüfungen und den auf dem Dach vorgefundenen Gegenständen etwa folgendermaßen:
Durch Holzapfel wurde mittels einer Taschenlampe die Anwesenheit nach Westberlin signalisiert. Danach wurde ein mit einem Hammer beschwertes ca. 150 m langes Perlonseil vom Dach des HdM auf Westberliner Gebiet geworfen, wo durch Westberliner Fluchthelfer ein ca. 8 mm starkes Drahtseil daran befestigt wurde. Dieses Drahtseil wurde durch die Grenzverletzer auf das Dach des HdM gezogen und an einem Fahnenmast befestigt. Das andere Ende des Drahtseiles wurde ca. 100 bis 120 m vom HdM entfernt auf Westberliner Gebiet an einem Lkw-Anhänger verankert.
Anschließend seilten sich die Grenzverletzer mittels selbstgefertigter Gleitrollen und Haltegurte nach Westberlin ab. Beim Übergang auf Westberliner Gebiet fiel die bereits erwähnte Aktentasche, die zur Feststellung des Grenzdurchbruches führte, auf den Kontrollstreifen in der Niederkirchner Straße.
Nachdem die Grenzverletzer das Westberliner Gebiet erreicht hatten, wurde das Drahtseil auf Westberliner Seite gekappt, sodass es am Gebäude des HdM nach der Niederkirchner Straße herunterhing.
Zur Organisierung des Grenzdurchbruchs durch Holzapfel wurde weiter bekannt, dass er ca. alle vier Wochen dienstlich im HdM in der Abteilung Holz – Papier – Polygrafie verkehrte, vorwiegend bei dem Mitarbeiter [Name 1], dessen Fenster als einziges in der Abteilung freien Blick auf die Staatsgrenze und auf Westberliner Gebiet gewährt.
Wie die Überprüfungen ergaben, hat Holzapfel anlässlich dieser Besuche bei [Name 1] am 2.4. und 21.7.1965 beim Verlassen des HdM die Passierscheine nicht zurückgegeben.
Der Besuch am 21.7.1965 bei [Name 1] erfolgte unter dem Vorwand, eine dienstliche Angelegenheit klären zu wollen, obwohl sich Holzapfel zu diesem Zeitpunkt bereits im Urlaub befand. Offensichtlich ging es Holzapfel jedoch um eine letztmalige Überprüfung des geplanten Grenzdurchbruches.
Nach diesem Besuch am 21.7.1965 in Berlin verbreitete die Familie Holzapfel am Wohnort in Leipzig das Gerücht, dass sie in Kürze in die Nähe von Leipzig verreisen würde. Am 28.7.1965, gegen 6.00 Uhr, verließ Holzapfel mit seiner Familie die Wohnung, wobei sie einen großen Koffer, Taschen und einen Campingbeutel mit sich führten.
Holzapfel war bis September 1952 als Verkäufer bei HO-Industriewaren in Leipzig tätig. Anschließend studierte er bis Juli 1953 an der ABF in Leipzig. Nach einer 2-jährigen Tätigkeit als Transportarbeiter war er von August 1955 bis November 1956 bei der KVP in Plauen. Danach war er wieder als Transportarbeiter und ab 1958 als TAN-Sachbearbeiter beschäftigt. Seit September 1959 war Holzapfel bei der VVB Furniere und Platten, anfangs als TAN-Bearbeiter und zuletzt als Fachgebietsleiter für Koordinierung und Kontrolle in der Abteilung Planung.
In der Zeit von 1957 bis 1961 studierte er im Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Wirtschaftswissenschaft und legte sein Examen als Diplom-Volkswirtschaftler ab.
Holzapfel war seit 1957 Mitglied der SED. In seiner Arbeitsstelle wurde er fachlich und politisch gut beurteilt. Besonders aktiv war seine Mitarbeit in der Kampfgruppe.
In den Jahren 1950, 1957 und 1958 wurden insgesamt drei Geschwister von ihm republikflüchtig.
Seine Ehefrau arbeitete bis Mitte Juli 1955 in der Personalabteilung des Messeamtes in Leipzig und war für die Erwachsenenqualifizierung und den Einsatz der Messeaushilfskräfte verantwortlich. Sie war seit 1958 Mitglied der SED und übte im Messeamt die Funktion eines Parteigruppenorganisators aus. Fachlich und politisch wurde sie als zuverlässig eingeschätzt. Aus dem Messeamt schied sie aus »familiären« Gründen aus.
1954 und 1956 wurden zwei Brüder der Holzapfel nach Westdeutschland republikflüchtig.
Begünstigt wurde der Grenzdurchbruch vor allem dadurch, dass die Grenzposten der NVA in diesem Abschnitt keinen genügenden Überblick über das eigene Grenzgebiet haben. Der Posten in der Zimmerstraße 95 befindet sich ca. 100 m links von der Durchbruchstelle entfernt und hat durch eine vorstehende Hausecke des HdM keinen vollen Überblick über das eigene Grenzgelände in seinem Abschnitt. Der Posten rechts der Durchbruchstelle befindet sich ca. 300 m entfernt auf dem Dach des Hauses des Verbandes Deutscher Konsumgenossenschaften. Da das Drahtseil außerhalb des Lichtkegels über der Grenzbeleuchtung hing, konnten die Posten von ihren Standorten den Grenzdurchbruch nicht feststellen.
Der auf dem Haus der Ministerien zur Luftbeobachtung stationierte sowjetische Beobachtungsposten bemerkte zwar am 28.7.1965, gegen 22.30 Uhr, drei Personen die sich in geduckter Haltung an einem Oberlichtfenster des Nebengebäudes aufhielten, schenkte jedoch diesen Personen keine weitere Beachtung, sondern kehrte in sein Postenhaus zurück, ohne den Betriebsschutz des HdM oder seine Dienststelle von diesen Feststellungen zu informieren.2
Begünstigend wirkte sich weiter die unzureichende Kontrolle des umfangreichen Publikumsverkehrs im HdM und die Tatsache aus, dass ca. 15 000 Personen Ausweise zum ungehinderten Betreten des Objektes haben.
Durch das MfS werden noch weitere Untersuchungen zur Ermittlung der Ursachen des Grenzdurchbruches und zur Aufklärung der Verbindungen, insbesondere des Fluchthelferkreises der Grenzverletzer geführt.
Weiter wurden erste Maßnahmen eingeleitet, die eine bessere Kontrolle des Besucherverkehrs im HdM und eine erhöhte Sicherheit in diesem Grenzbereich – einschließlich des HdM (Innen- und Außensicherung) – garantieren.