Gründung der privaten Hochseesegelgemeinschaft »Patriot«
24. August 1965
Einzelinformation Nr. 764/65 über die Gründung einer privaten »Interessengemeinschaft« innerhalb der Sektion Segeln der BSG Chemie Erkner zum Bau einer Hochseeyacht und über beabsichtigte Seereisen mit dieser Yacht
Am 20.6.1963 erfolgte innerhalb der Sektion Segeln der BSG Chemie Erkner die Gründung der Interessengemeinschaft »Hochseekreuzer Patriot«.1
Die Initiative zur Gründung dieser »Interessengemeinschaft« ging von dem freischaffenden Aufnahmeleiter beim Deutschen Fernsehfunk Harald Dorau (Mitglied der Nationalmannschaft der DDR im Hochseesegeln) und dem Leiter der Sektion Segeln der BSG Chemie Erkner [Name 1] aus.
Da in der Sektion Segeln nur geringe Möglichkeiten zur Durchführung von Seereisen bestehen, setzte sich die »Interessengemeinschaft« das Ziel, eine eigene Hochseeyacht zu bauen und damit Seereisen zu unternehmen. Dabei wurde bereits zu diesem Zeitpunkt festgelegt, dass die Yacht nicht der Sektion Segeln der BSG Chemie Erkner, sondern der »Interessengemeinschaft«, die sich der Sektion Segeln nur formal angeschlossen hat, gehört.
Die »Interessengemeinschaft« richtete sich auch nicht nach dem Statut des DTSB, sondern arbeitete ein eigenes Statut aus. Bereits bei der Gründung der »Interessengemeinschaft« am 20.6.1963 wurde den Mitgliedern durch [Name 1] ein Statut vorgelegt, das nichts mit den Zielen der Sektion gemein hatte, sich wesentlich von den Satzungen des DTSB unterschied und deutlich die privaten Interessen der »Interessengemeinschaft« zum Ausdruck brachte.
Das Statut sah u. a. vor:
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dass jedes Mitglied einen Anteil von 500 MDN zu zahlen hat;
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dass der Mitgliederanteil monatlich in Höhe von 25,00 MDN zu entrichten ist;
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dass nicht mehr als 50 Mitglieder aufgenommen werden dürfen;
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dass zum Bau der Yacht auch sektionseigene Mittel verwandt werden.
Da eine Koppelung zwischen Privat- und Volkseigentum rechtlich nicht zulässig ist, wurde das Statut auf der Gründungsversammlung abgelehnt und in der Folgezeit von [Name 1] überarbeitet.
Sowohl der Kreis- als auch der Bezirksvorstand des DTSB distanzierten sich bei Bekanntwerden von diesem Projekt. Das Generalsekretariat des BDS lehnte ebenfalls eine Beteiligung an diesem Projekt ab, da nach § 4 des Statuts eine Abgrenzung der »Interessengemeinschaft« von der Sektion Segeln gefordert wurde.
Die »Interessengemeinschaft« sollte lt. Statut einen eigenen Verantwortungsbereich, eine eigene Geschäftsführung und eine eigene Finanzgrundlage erhalten. Weiter wurde die Leitung der »Interessengemeinschaft« ermächtigt, auch Nichtmitglieder des DTSB, speziell der Sektion Segeln, in die »Interessengemeinschaft« aufzunehmen bzw. diesen Personen die Teilnahme an Seeturns zu ermöglichen.
Mit der Projektierung der Hochseeyacht wurde der Chefkonstrukteur des VEB Yachtwerft Berlin-Köpenick Siegel beauftragt. Die Erstfinanzierung erfolgte ohne rechtliche Grundlage aus Mitteln der Sektion Segeln der BSG Erkner. Siegel bekam 1 500 MDN für die Projektion. Dieses Finanzgebaren widerspricht jedoch den Satzungen des DTSB, da alle finanziellen Überschüsse der Sektionen zur Förderung von Jugendarbeit zu verwenden sind, in vorliegendem Falle jedoch praktisch zur Befriedigung privater Interessen verwendet wurden.
Weiterhin verwendete Dorau aus der Kantinenkasse der BSG Bargeld und Schecks im Werte von 1 800 MDN zum Bau der Yacht.
Über die gesamte Finanzlage der »Interessengemeinschaft« besteht keine Übersicht. Für die Jahre 1963, 1964 und 1. Halbjahr 1965 gibt es keine Finanzpläne oder Jahresabschlüsse über vereinnahmte und verausgabte Gelder. So ergab auch eine Anfang 1964 durch den Kreisvorstand des DTSB Fürstenwalde durchgeführte Revision keine Übersicht über das Finanzgebaren der »Interessengemeinschaft«. Aus diesem Grunde wurde das damalige Konto gesperrt und der Bau der Hochseeyacht vorläufig eingestellt.
Unmittelbar danach entwickelte Dorau gemeinsam mit dem freischaffenden Kameramann des Deutschen Fernsehfunks Karl Behrend,2 der inzwischen Mitglied der »Interessengemeinschaft« geworden war, große Aktivität, um Betriebe und Institutionen der DDR für den Bau der Hochseeyacht zu interessieren und finanzielle Mittel für die Fortführung des Baues zu erhalten.
Es gelang ihnen auch, 48 Betriebe und Institutionen zu gewinnen, die finanzielle und materielle Mittel für den weiteren Bau zur Verfügung stellten.
Zu dieser Zeit sagte auch der Vizepräsident des DTSB Rudi Reichert3 seine Unterstützung zur Fortsetzung des Yachtbaus zu, ohne dass er die näheren Zusammenhänge kannte.
Über Behrend gelang es Dorau auch, den Mitarbeiter des »Neuen Deutschlands« Fritz Schröder4 für das Projekt zu gewinnen. Schröder nahm schon wiederholt an Expeditionen teil und gilt als Spezialist für die Organisierung solcher Reisen. Er lancierte auch die ersten Meldungen über das Projekt und die Ziele der »Interessengemeinschaft« in die Öffentlichkeit.
Im Widerspruch zu den von Schröder veröffentlichten Kommentaren über die Schaffung volkseigenen Wertes zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse ist das Projekt lediglich auf die Befriedigung der privaten Interessen der kleinen Anzahl der Mitglieder der Interessengruppe gerichtet.
Angeregt durch die Presseveröffentlichungen und die Propaganda durch die Mitglieder der »Interessengruppe« wurden von vielen Betrieben und Einzelpersonen – vor allem von großen Teilen der Woltersdorfer Bevölkerung – Leistungen z. T. im NAW erbracht, die lediglich nur den privaten Interessen dieser »Interessengemeinschaft« dienen. U. a. wurden durch die Schüler der Woltersdorfer Oberschule Altstoffe und Schrott gesammelt, deren Erlös der »Interessengemeinschaft« zugeführt wurde. Weiter wurden von einer großen Anzahl von Jugendlichen Hilfsarbeiten ausgeführt, die ebenfalls zu einer beträchtlichen finanziellen Einsparung führten.
Der gegenwärtige Wert der Yacht beträgt ca. 200 000 MDN.
Entgegen dem ursprünglich vorgesehenen Namen »Patriot« erhielt die Yacht beim Stapellauf den Namen »Berliner Bär«. Der Stapellauf erfolgte am 29.5.1965,5 u. a. nahmen Vertreter von folgenden Firmen und Institutionen teil, die sich beim Ausbau der Yacht mit materiellen und finanziellen Mitteln beteiligt hatten:
Bootswerft Willi Lehmann
Firma Eltz K.G.
VEB Ölheizgerätewerk Neubrandenburg
VEB Lackfabrik Teltow
VEB Elguwa Leipzig6
VEB Kühlautomat Berlin-Johannisthal
VEB Faga Berlin7
Deutsche See-Reederei
Deutsche Reichsbahn
VEB Kabelwerk Oberspree
VEB Kabelwerk Köpenick
VEB Leuchtenbau Finow
Zentral-Institut für Schweißtechnik Halle
VEB Pyrotechnik Silberhütte
Bootswerft Georg Beck
Thalmann K.G. Berlin8
VEB Yachtwerft Berlin-Köpenick
VEB Freiburger Präzionsmechanik
VEB Seilerwerk Heinersdorf
PGH Waterkant Stralsund
VEB Entwicklungs- und Musterbau
Staatliches Rundfunkkomitee9
Staatliches Komitee für Körperkultur und Sport10 (Segelfinanzierung 18 000 MDN)
Interflug11
Durch die Mitglieder der »Interessengemeinschaft« ist vorgesehen, Anfang September 1965 zu einer mehrere Monate andauernden Mittelmeerreise mit der Hochseeyacht auszulaufen. Zur Vorbereitung auf die Mittelmeerfahrt befindet sich die Yacht gegenwärtig in der Ostsee, um die erforderlichen Überprüfungen auf Seetüchtigkeit vorzunehmen.
Unmittelbar nach dem Stapellauf schloss Behrend als freischaffender (privater) Kameramann mit verschiedenen Institutionen Verträge über von ihm zu drehende populärwissenschaftliche Filme ab. U. a. wurden solche Verträge mit dem Fernsehfunk und mit dem Tierpark Berlin abgeschlossen. Diese Filme will Behrend während der beabsichtigten Mittelmeerreise herstellen.
Als Kapitän der Yacht wurde Dorau benannt und für die Besatzung weitere elf Personen zur Ausreise eingereicht. Der Reiseleiter reichte den Vorschlag und die Konzeption für die Expedition beim Komitee für Touristik und Wandern ein. Das Komitee für Touristik und Wandern12 hat für die Durchführung der Expedition 2 000 DM West zur Verfügung gestellt und die Visabeschaffung übernommen.
Weiter wird die Expedition durch den Deutschen Fernsehfunk – für den mehrere Filme gedreht werden sollen – und durch verschiedene Zeitschriften – die Artikelserien über die Expedition bringen wollen – unterstützt.
Gegenwärtig ist jedoch noch nicht bekannt, woher die Mittel für die Zwangsversicherung von ca. 6 000 MDN erbracht werden sollen.
Weiter ist noch ungeklärt, aus welchen finanziellen Mitteln der Unterhalt der Familien der Besatzung bestritten und mit welchen Mitteln die notwendigen Überholungsarbeiten nach Rückkehr der Yacht finanziert werden sollen.
Zur Zeit gibt es noch keinen Rechtsträger für die Hochseeyacht.
Versuche von Dorau und [Name 1], den VEB Plasta Chemie Erkner13 als Rechtsträger zu gewinnen, sind fehlgeschlagen, weil der VEB eine jährliche Abschreibungssumme von 20 000 MDN betrieblicherseits nicht rechtfertigen kann.
Offensichtlich wird die BSG Chemie Erkner nur als »Aushängeschild« für dieses Projekt angeführt, um damit die Privatinteressen eines kleinen Personenkreises abzudecken.
Zurzeit laufen Verhandlungen, um das Erdölverarbeitungswerk Schwedt als Rechtsträger zu gewinnen.
Zusammenhängend ist einzuschätzen:
Die ganzen Umstände und Zusammenhänge der Gründung der »Interessengemeinschaft« sowie der Bau der Hochseeyacht entsprechen nicht den Interessen und Zielen des DTSB und des Bundes Deutscher Segler.
Die ganzen Unregelmäßigkeiten
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in finanziellen Fragen,
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bei der Einbeziehung von Betrieben und Institutionen zum Bau der Yacht,
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bei der Popularisierung des Projektes in der Öffentlichkeit,
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bei der Ausnutzung gesellschaftlicher Kräfte und Mittel für die privaten Interessen einzelner,
widersprechen der sozialistischen Moral und dem gesellschaftlichen Interesse.
Gleichzeitig können durch dieses Beispiel und seine Popularisierung andere Kreise zu einer ähnlichen Handlungsweise auf diesem und anderen Gebieten animiert werden, ohne dass die zuständigen Stellen an einer solchen Entwicklung interessiert sind. Erste Hinweise dafür liegen schon vor.
Durch den Bau der Hochseeyacht »Berliner Bär« und die damit beabsichtigten Hochseereisen gibt es bereits jetzt, besonders aus den Ostseebezirken, Anfragen von Seglern, weshalb nicht auch sie Hochseereisen im Atlantik und anderen Weltmeeren durchführen können. Die Diskussionen haben im Wesentlichen folgenden Inhalt:
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Weshalb erhält eine »Berliner Interessengemeinschaft« die Möglichkeit über Betriebe, Institutionen usw. finanzielle Mittel zum Bau einer Yacht zu bekommen?
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Weshalb können die Segler mit den bereits vorhandenen Hochseeyachten des BDS nicht ähnliche Seereisen wie die Hochseeyacht »Berliner Bär« durchführen?
Der Generalsekretär Klay schätzt ein, dass diese Diskussionen in der nächsten Zeit einen größeren Rahmen einnehmen werden und damit dem Bund Deutscher Segler Diskussionen aufgezwungen werden, in Richtung der Entwicklung des Hochseesegelns, an dem aus angeführten Gründen kein Interesse besteht.
Innerhalb des Bundes Deutscher Segler sind insgesamt fünf Hochseeyachten vorhanden, ohne dass derartige Seereisen – wie sie von der »Interessengemeinschaft« vorgesehen sind – zugestimmt wurde, weil seitens der BDS an derartigen Unternehmungen kein Interesse besteht. Es handelt sich hierbei um eine nichtolympische Disziplin, die keinen sportlichen Wert hat.
Im BDS gibt es lediglich eine Hochseesegel-Kommission, die Prüfungen für die im Bereich der 3-Meilen-Zone in der Ostsee und in den Binnenseen stationierten Hochseeyachten abnimmt. Da kein Interesse an der Entwicklung des Hochseesegelns besteht, gibt es im BDS auch keine finanziellen Mittel, die für diesen Zweck zur Verfügung stehen.
Aus den vorstehend angeführten Gründen erscheint es angebracht, nochmals zu überprüfen, ob einer solchen Fahrt überhaupt zugestimmt werden kann.14
Anlage zur Information Nr. 764/65
29. Januar 1966
[Ergänzende Information der HA XX]
Der in der Information über die Gründung einer privaten »Interessengemeinschaft« innerhalb der Sektion Segeln genannte [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1928, wohnhaft Woltersdorf bei Erkner, [Straße Nr.], war bis 1963 als Mitarbeiter im Arbeitsbüro beim ZK der SED tätig. Bei [Name 1] wurde in der Wohnung parteiinternes Material gefunden und es besteht der Verdacht der Feindtätigkeit. Bisher konnte dazu noch kein Nachweis erbracht werden. 1963 bestand der Verdacht der Republikflucht des [Name 1] und es wurden im Einvernehmen mit dem ZK entsprechende Sicherungsmaßnahmen getroffen.
Über [Name 1] wurde bekannt, dass er sich in Woltersdorf ein Eigenheim im Werte von ca. 94 000 MDN bauen ließ und dieses darüber hinaus modern einrichte. Angeblich soll sich [Name 1] in Spekulationen eingelassen haben, auch wird von Unterschlagungen gesprochen, die jedoch nicht bewiesen sind.
Die Mutter des [Name 1] lebt in Westdeutschland und sie soll ihren Sohn angeblich finanziell unterstützen.