Hemmnisse bei der technischen Entwicklung der Eisenbahn
17. Dezember 1965
Einzelinformation Nr. 1127/65 über einige Hemmnisse bei der Entwicklung einer automatischen Mittelpufferkupplung für die Eisenbahn
Auf der Grundlage der dem MfS vorliegenden Informationen wird nachfolgend auf einige Hemmnisse bei der Entwicklung einer automatischen Mittelpufferkupplung für die Eisenbahn hingewiesen:
Seit 1955 werden von den internationalen Eisenbahnorganisationen
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Internationaler Eisenbahnverband (UIC) – Sitz Paris – und
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Organisation für die Zusammenarbeit sozialistischer Eisenbahnen (OSShD) – Sitz Warschau
die Möglichkeiten beraten und die notwendigen Entwicklungsaufgaben durchgeführt, um eine automatische Mittelpufferkupplung (MPK) in allen angeschlossenen Eisenbahnverwaltungen einzuführen. In diesem Zusammenhang wurden von der UIC und OSShD technische Parameter erarbeitet, die bei der Entwicklung der MPK einzuhalten sind. Bei der MPK soll es sich um eine selbsttätige Kupplungseinrichtung handeln, die die Zugkräfte und die Luft- und elektrischen Leitungen verbindet. Die Entkupplung soll mithilfe einer halbautomatischen Löseeinrichtung erfolgen. Gegenüber der herkömmlichen Schraubenkupplung kann durch den Einsatz der MPK im Eisenbahnwesen bei der Zugbildung im Binnenverkehr die Arbeitsproduktivität erheblich gesteigert (Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit) und die durch das bisherige Kupplungsverfahren bestehende Unfallgefahr weitgehend vermindert werden. Hinsichtlich der beabsichtigten Einführung der MPK im europäischen Maßstab liegt die besondere Bedeutung für die DDR mit darin, dass die DDR als Transitland eng mit dem europäischen Eisenbahnverkehr verbunden ist und von dessen Erfordernissen mit ausgehen muss.
Auf der Grundlage eines Beschlusses der Ministerkonferenz der OSShD erfolgt seit 1959 die Entwicklung der MPK für den gesamten Bereich der OSShD im Rahmen des Staatsplanthemas »Automatische Mittelpufferkupplung« in der DDR. Obwohl das Ministerium für Verkehrswesen für das Staatsplanthema verantwortlich ist, wurde die konstruktive Lösung der MPK dem VEB Waggonbau Bautzen, einem Betrieb der VVB Schienenfahrzeuge, im Rahmen der jährlichen Vertragsforschung übertragen, weil dieser Betrieb die größten Erfahrungen bei der Konstruktion von Eisenbahnkupplungen besitzt. Seit 1963 werden die Konstruktionsarbeiten im VEB Waggonbau Bautzen in einem »gemeinsamen Konstruktionsbüro Bautzen« von sowjetischen und deutschen Konstrukteuren durchgeführt.
Parallele Entwicklungen betreiben seit etwa dem gleichen Zeitpunkt die westdeutsche Firma Knorr-Bremse, München (Uni-Kuppler), die französische Firma Bouirault Sambre-et-Meuse (MPK Bouirault) und die amerikanische Firma Willison (MPK Willison). Nach den vorliegenden Hinweisen haben sich die Firmen Knorr-Bremse und Bouirault durch eine Dachorganisation – die Firma Uni-Cupler, mit Sitz in der Schweiz – zusammengeschlossen, um gemeinsam eine Synthesekupplung zu entwickeln.
Wie dem MfS bekannt wurde, haben sich in den letzten Jahren bei der Entwicklung der MPK in der DDR eine Reihe von Hemmnissen eingestellt, die zu zeitlichen Verzögerungen geführt haben. Nach den vorliegenden Informationen ist auch gegenwärtig noch kein Abschluss der Entwicklungsarbeiten zu erkennen. Im Allgemeinen wird von den Experten zum Ausdruck gebracht, dass für die vorhandenen Hemmnisse im Wesentlichen das Ministerium für Verkehrswesen die Verantwortung trage, wie auch mit aus den nachstehenden Hinweisen zu entnehmen ist. Gegenwärtig befinden sich im gemeinsamen Konstruktionsbüro Bautzen die Varianten 7 und 8 der MPK auf dem Reißbrett. Übereinstimmende Auffassungen besagen, dass die konstruktiven Lösungen einen für die Erprobung günstigen Stand aufweisen würden, da sie annähernd den geforderten technischen Parametern entsprechen. Von einigen Experten wird sogar die Auffassung vertreten, der Luft- und elektrische Teil der MPK des gemeinsamen Konstruktionsbüros Bautzen würde gegenüber der Synthesekupplung der Firma Uni-Cupler grundsätzlich bessere konstruktive Merkmale aufweisen. Die Vorzüge der vorliegenden Varianten 7 und 8 sollen vor allem in seinem Aufbau nach dem Baukastensystem und in der Variante 8 – eine sowjetische Konstruktion – in seinem hohen Automatisierungsgrad bestehen.
Die weitere Entwicklung der MPK wird jedoch nach den vorliegenden Informationen durch fehlende Musterbaukapazitäten im VEB Waggonbau Bautzen entscheidend behindert. Der Betrieb setzt gegenwärtig alle verfügbaren Kräfte in der Produktion ein, um vorhandene Exportschulden abzubauen. Der Generaldirektor der VVB Schienenfahrzeuge, Lindemann, hat außerdem mit dem Hinweis auf große Exportaufgaben nach Indonesien angewiesen, im Planjahr 1966 keine Arbeitsstunden für den Musterbau der MPK einzuplanen. Die fehlenden Musterbaukapazitäten wirken sich nun dahingehend aus, dass der Deutschen Reichsbahn nicht die neuesten Funktionsmuster zur technischen Erprobung auf der Versuchsanlage Schlauroth bei Görlitz übergeben werden können. Nach den Vereinbarungen in der OSShD sollten bereits im Laufe des Jahres 1965 etwa 100 Funktionsmuster hergestellt werden, um im Zugverband auf freier Strecke die Ergebnisse der MPK-Entwicklung anhand praktischer Untersuchungen zu überprüfen. (Von den an der Entwicklung der MPK arbeitenden kapitalistischen Firmen – z. B. Uni-Cupler – wurde bekannt, dass sie in dieser Zeit bereits umfangreiche praktische Erprobungen mit Funktionsmustern vorgenommen haben.)
Die mit der Konstruktion der MPK beauftragten Spezialisten sind der Auffassung, dass nach der zzt. üblichen Praxis vor Mai 1966 kaum mit der Fertigstellung eines Funktionsmusters nach der Variante 7 bzw. 8 zu rechnen ist. Wie in diesem Zusammenhang weiter bekannt wurde, sei auch über die Lösung der Materialfrage allein für den Bau von 100 Funktionsmustern mit dem Volkswirtschaftsrat (Genosse Siebold)1 noch keine Klarheit erzielt worden. Die Entscheidung für die weitere Entwicklung – d. h. für die Zeit ab 1966 – sei ebenfalls mehr oder weniger offengelassen worden (z. B. durch verantwortliche Mitarbeiter der HA Guss- und Schmiedestücke im VWR). Es sei lediglich auf eine mögliche Lösung der Materialfrage im Rahmen des RGW verwiesen worden.
Durch den Rat der Bevollmächtigten der interessierten Länder der OSShD war weiter festgelegt worden, dass im Januar 1966 die Vorführung eines Funktionsmusters der MPK vor der Kommission der UIC in der DDR stattfinden soll. Nur bei Einhaltung dieses Termins würden berechtigte Aussichten bestehen, entscheidenden Einfluss auf die Festlegungen der UIC bei der Auswahl der MPK-Muster, die von den verschiedenen Entwicklungsstellen der UIC vorgelegt werden müssen, zu nehmen.
Als ein wesentliches Hemmnis wirkt sich weiter aus, dass die VVB Schienenfahrzeuge es aus Kapazitätsgründen ablehnt, nach Fertigstellung der MPK-Muster die Serienfertigung aufzunehmen. Daraus resultiere auch die Scheu vor den Kosten für die Entwicklung und den Musterbau, da sie durch die Nichtübernahme der Produktion auch nicht realisiert werden könnten (bisher sollen für die Entwicklung ca. 3 Mio. MDN verbraucht worden sein).
Nach Meinung von verschiedenen an der Entwicklung Beteiligten wird die oben geschilderte Situation im Wesentlichen auf Versäumnisse der Leitung des Ministeriums für Verkehrswesen zurückgeführt. Es wird betont, dass die Leitung des MfV dem gesamten Problem »automatische Mittelpufferkupplung« bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat.
Innerhalb des MfV ist die HV Wagenwirtschaft der DR federführend für die Entwicklung der MPK verantwortlich. Die mit der Entwicklung der Kupplung zusammenhängenden Kooperationsprobleme überschritten jedoch die Kompetenz dieser HV. Die deshalb mehrfach zwischen dieser HV, der Leitung des MfV, dem Volkswirtschaftsrat und der VVB Schienenfahrzeuge stattgefundenen Beratungen sollen jedoch zu keiner grundsätzlichen Klärung der Probleme geführt haben.
Anfang 1964 machte der VEB Waggonbau Bautzen bereits auf die Notwendigkeit aufmerksam, zunächst im Interesse der Sicherung des Funktionsmusterbaus, einen Beschluss für die Entwicklung und Einführung der MPK bei der DR auf »höchster Ebene« herbeizuführen.
Soweit dem MfS bekannt ist, erging von der Leitung des MfV jedoch erst im September 1964 der Auftrag an die HV Wagenwirtschaft, eine Vorlage für den Ministerrat zu erarbeiten. Mitte Dezember 1964 soll diese Ministerratsvorlage bereits beim Staatssekretär Scholz2 im MfV vorgelegen haben. Erst im Oktober 1965 sei dann die HV Wagenwirtschaft beauftragt worden, die Überarbeitung der Vorlage vorzunehmen und mit dem Volkswirtschaftsrat und der VVB Schienenfahrzeuge abzustimmen. Mit dieser Vorlage sollen folgende Probleme geklärt werden:
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wesentliche Beschleunigung der Konstruktion durch zusätzliche Bereitstellung von Entwicklungs- und Konstruktionskapazitäten,
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wesentliche Beschleunigung der Produktion – Musterbau –,
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schnelle Erprobung der Funktionsmuster,
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Klärung finanzieller Fragen.
Die ungenügende Einschätzung der volkswirtschaftlichen Auswirkungen für die DDR und die mangelhafte Kontrolle des Ablaufs der Entwicklungsarbeiten durch die Leitung des MfV habe auch dazu beigetragen, dass erst im September 1964 auf der Ebene der Leitung des MfV eine Koordinierungskommission für die Anleitung und Kontrolle der Entwicklung MPK gebildet wurde. Allgemein wird eingeschätzt, diese verspätete Maßnahme sei ein Ausdruck der allgemeinen Unterschätzung des Schwierigkeitsgrades der MPK-Entwicklung. Von den Mitarbeitern, die unmittelbar mit der Durchführung der Aufgaben beauftragt sind, wird die Auffassung vertreten, im MfV bestehe die Tendenz, in diesem Zusammenhang auftretende Probleme (Kader-, Kapazitäts- und Materialfragen) durch administrative Weisungen zu lösen, anstatt prinzipielle Entscheidungen herbeizuführen.
Charakteristisch für das Herangehen an die Problematik der MPK sind bekannt gewordene Äußerungen leitender Mitarbeiter des MfV, in denen Zweifel an der Zweckmäßigkeit der weiteren Entwicklung der MPK in der DDR zum Ausdruck gebracht werden. Staatssekretär Scholz hat nach diesen Informationen wiederholt eingereichte Vorschläge und Maßnahmepläne nicht bearbeitet oder nicht gebilligt bzw. zeitweilig so verzögert, dass sie kaum noch wirksam werden konnten.
In diesem Zusammenhang möchte das MfS noch auf einige weitere Probleme aufmerksam machen.
Wie bereits angeführt wurde, arbeiten auch verschiedene Firmen des kapitalistischen Auslands an der Entwicklung einer automatischen Mittelpufferkupplung. Nach Einschätzung von Experten hat die westdeutsche Firma Knorr-Bremse durch die Fusion mit der französischen Firma Bouirault die Entwicklung der MPK unter der Bezeichnung Uni- bzw. Synthesekupplung an sich gezogen. Der Direktor der Knorr-Bremse, Schultz-Naumann,3 brachte in Gesprächen mit Vertretern des MfV zum Ausdruck, dass sein Konzern bereits Verbindungen zu 21 europäischen Staaten, darunter auch zu den VR Polen und Ungarn, aufgenommen habe. Das Ziel seines Konzerns bestehe darin, bei Einführung der MPK in allen europäischen Eisenbahnen dem Gemeinschaftssystem Uni-Kuppler die Monopolstellung zu sichern.
Auch zur UdSSR würden seitens des Konzerns Beziehungen bestehen, da die Festlegungen der UIC besagen, dass die MPK mit der automatischen Kupplung SA/3/Kupplung der UdSSR kuppelbar sein muss.
Nach den vorliegenden Informationen haben in der Vergangenheit zwei offizielle Gespräche zwischen Vertretern des MfV und Schultz-Naumann stattgefunden. Bei einem dieser Gespräche wurde der Austausch bereits veröffentlichter Patentschriften über die MPK vereinbart. Anlässlich der Verkehrsausstellung im Herbst 1965 in München hatte der stellv. Minister des MfV, Dr. Winkler,4 eine weitere Unterredung mit Schultz-Naumann. Während dieser Unterhaltung, im Rahmen eines gemütlichen Abends, soll ebenfalls über Probleme der MPK polemisiert worden sein. Bei dem zweiten offiziellen Gespräch zwischen den Vertretern des MfV und Schultz-Naumann wurde von diesem eine »Kooperationsvereinbarung« vorgelegt. Der Inhalt dieser »Kooperationsvereinbarung« zielte darauf ab, dass die DDR von der Firma Knorr-Bremse einige Lizenzen der MPK erwerben soll. Die Lizenzgebühr sollte 5 Mio. Westmark betragen und für jede produzierte MPK 3 % des Bruttoproduktionswertes. Aufgrund des ermittelten Bedarfs der DDR von etwa 300 000 Stk. MPK wären nach dieser Vereinbarung nach überschlägigen Berechnungen etwa 41 Mio. Westmark an die Firma Knorr-Bremse zu zahlen.
Schultz-Naumann bezog sich bei der Vorlage dieses »Kooperationswunsches« auf einen angeblich in München geäußerten Wunsch des stellv. Ministers Dr. Winkler. Von diesem »Wunsch« waren jedoch andere verantwortliche Mitarbeiter im MfV, u. a. auch der Leiter der internationalen Abteilung, Hinzpeter, nicht informiert. Ein Abschluss des Kooperationsvertrages erfolgte bisher nicht. Welche konkrete Stellungnahme seitens der Leitung des MfV zu diesem Vertrag eingenommen wird, ist dem MfS nicht bekannt.
Von mehreren an der MPK-Entwicklung beteiligten Fachleuten wird die Notwendigkeit eines schnellen Abschlusses der Entwicklung auch damit begründet, dass bei weiterem Zeitverzug patentrechtliche Schwierigkeiten entstehen können. Es wird vor allem darauf hingewiesen, je mehr sich die verschiedenen MPK-Entwicklungen aller beteiligten Unternehmen der Endphase nähern, gleichen sich die konstruktiven Lösungen aufgrund der UIC-Forderungen an. Jeder Zeitverzug im Abschluss der Entwicklung und in der Patentanmeldung würde deshalb bedeuten, dass die Gefahr einer Lizenzproduktion stärker wird. Bei nicht rechtzeitigem Abschluss der Entwicklungsarbeiten in der DDR werden zugleich die gemeinsamen Interessen aller in der OSShD zusammengeschlossenen sozialistischen Eisenbahnverwaltungen gefährdet. Andererseits müssten bei verspätetem Abschluss der Entwicklung gegenüber der Synthesekupplung nachträglich konstruktive Änderungen vorgenommen werden, um die Kuppelbarkeit trotzdem zu gewährleisten.
Aufgrund dieser Situation wird vorgeschlagen, dass die zuständigen staatlichen Organe sich umgehend eine genaue Übersicht über den gegenwärtigen Stand und die noch zu lösenden Probleme verschaffen, um davon ausgehend die Verantwortung der einzelnen Organe festzulegen und konkrete Maßnahmen zur Veränderung einzuleiten, die einer systematischen, sachlichen und terminlichen Kontrolle unterliegen müssten.