Hepatitis-Epidemie im Bezirk Dresden
[Ohne Datum]
Einzelinformation Nr. 81/65 über einige Schwächen und Mängel in der Bekämpfung der Hepatitis-Erkrankung durch die Organe des Gesundheitswesens im Raum Radeberg, [Bezirk] Dresden
Zur Hepatitis-Epidemie im Raum Radeberg, [Bezirk] Dresden, wurde dem MfS eine Reihe von Informationen bekannt, die auf erhebliche Mängel und Schwächen in der Arbeit der örtlichen Gesundheitsorgane hinweisen.
Obwohl schon im Oktober 1964 die ersten Erkrankungen an Hepatitis in Kleinwolmsdorf bei Radeberg (13 Fälle) auftraten und in der Folgezeit sich der epidemische Charakter der Hepatitis abzeichnete, begannen die örtlichen Organe des Gesundheitswesens erst in der 2. Dezemberhälfte 1964 zögernd mit einer aktiven Bekämpfung der Krankheit. Zu diesem Zeitpunkt traten die Erkrankungen bereits in massiver Form in und um Radeberg in Erscheinung.
Das gesamte Krankheitsgeschehen und der konkrete Verlauf wurden von Anfang an nicht systematisch analysiert und beachtet. Das führte zur verspäteten Organisierung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit.
Wie dem MfS bekannt wurde, bestanden zwischen dem Kreisarzt von Dresden-Land Dr. Bantzhaff und der Kreishygieneärztin Dr. Kleinpaul Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der einzuleitenden Sicherheitsmaßnahmen, die sich hemmend auf die schnelle Bekämpfung und Eindämmung der Krankheit auswirkten.
Aufgrund dieser Meinungsverschiedenheiten wurden auch die für den 7. und 8.11.1964 vorgesehenen Kirmesfeiern nicht untersagt, wodurch offensichtlich die weitere Verbreitung der Krankheit begünstigt wurde. Die Kreishygieneinspektion kümmerte sich ebenfalls nur ungenügend um die Einleitung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie. Am 19.12.64 bestand bei der Kreishygieneinspektion noch keine vollständige Übersicht über den Stand der Massenerkrankungen, u. a. auch nicht über den Anteil der Berufstätigen unter den Erkrankten und über die daraus erwachsenden Gefahren. Eine Verbesserung in der Bekämpfung der Massenerkrankungen und in der Schaffung der dazu notwendigen Übersichten über die Entwicklung des Krankheitsgeschehens trat erst nach einer Aussprache des MfS mit der Kreishygieneärztin Dr. Kleinpaul am 30.12.1964 ein.
Als mangelhaft erwies sich auch die Tätigkeit der Bezirksärztin Dr. Ochsenfahrt, die sich die Bearbeitung von Seuchen selbst vorbehalten hatte. Sie ging am 23.12.1964 in Urlaub, ohne ihrer Stellvertreterin Dr. Uhlitzsch entsprechende Hinweise über die Hepatitiserkrankungen im Raum Radeberg zu geben. Frau Dr. Uhlitzsch wurde erst am 24.12.1964 durch das MfS und Dr. Schindler vom Bezirkshygieneinstitut über die Sachlage informiert. In der ersten Hälfte des Monats Januar 1965 beschäftigten sich die örtlichen Gesundheitsorgane vorwiegend mit der Erfassung der Neuerkrankungen und deren Hospitalisierung sowie mit der Durchführung einer beschränkten Gammaglobulin-Prophylaxe.
Aufgrund der mangelnden Übersicht über den tatsächlichen Stand der Massenerkrankungen kam es auch erst im Januar 1965 – nachdem die Anzahl der Erkrankten auf ca. 1 000 angestiegen war – zur Einrichtung eines Hilfskrankenhauses mit dem Ziel, alle Erkrankten unterzubringen und weitere Kontakte einzudämmen. (Gegenwärtig sind ca. 1 150 Personen an Hepatitis erkrankt.)
Die anlässlich der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage erfolgten Besuche westdeutscher Bürger sowie die Rentner-Reisen nach Westdeutschland und Westberlin fanden in diesem Zusammenhang ebenfalls nur ungenügende Beachtung. Durch die mangelnde Aufklärung kam es zu starker Unruhe und Unzufriedenheit unter der Bevölkerung des betroffenen Gebietes, und eine Reihe von Gerüchten trug dazu bei, die Unsicherheit noch zu verstärken. Das passive Verhalten der verantwortlichen Vertreter des Gesundheitswesens sowie einige Presseveröffentlichungen trugen ebenfalls nicht dazu bei, das Vertrauen der Bevölkerung zu den Gesundheitsorganen zu stärken. Z. B. forderten die Werktätigen des VEB Rafena Radeberg, dass die Kreishygieneärztin Dr. Kleinpaul in den Betrieb kommt, um Aufklärung über die Hepatitis und hygienische Sicherheitsmaßnahmen zu geben. Trotz mehrmaliger Einladungen kam sie diesem Ersuchen nicht nach.
Am 29.12.1964 bemühte sich der Werkleiter des VEB Rafena um eine Aussprache mit dem Kreisarzt Dr. Bantzhaff. Nach mehrmaliger Ablehnung ließ er sich nur wenige Minuten sprechen, wobei er gleich eingangs mitteilte, dass er keine Zeit habe.
In den vorliegenden Informationen wird weiter zum Ausdruck gebracht, dass einige verantwortliche Hygieniker, so z. B. der Leiter des Bezirkshygieneinstituts Dr. Schindler, nicht über die erforderlichen medizinischen Kenntnisse verfügen würden und deshalb der Situation nicht gewachsen gewesen seien.
Insgesamt wird eingeschätzt, dass die Epidemie bei einer schnelleren und intensiveren Bekämpfung der Krankheit durch die örtlichen Gesundheitsorgane keinen so großen Umfang angenommen hätte. Der ständige Anstieg der Krankheitsfälle (von 12 im Oktober auf gegenwärtig 1 150 Fälle) wird vorwiegend auf Mängel und Schwächen in der Tätigkeit der staatlichen Organe des Gesundheitswesens zurückgeführt.