Kontaktaufnahme von Grenzsoldaten mit dem BGS, Schönberg
22. November 1965
Einzelinformation Nr. 1038/65 über Kontaktaufnahmen von NVA-Angehörigen der Grenzkompanien Pötenitz und Utecht, Grenzregiment Schönberg, mit Angehörigen des westzonalen Zollgrenzdienstes und Zivilpersonen
Die vom MfS geführten Untersuchungen gegen die an Kontaktaufnahmen mit Angehörigen des westzonalen Zollgrenzdienstes und Zivilpersonen beteiligten NVA-Angehörigen der Grenzkompanien Pötenitz und Utecht, GR Schönberg, die unabhängig voneinander erfolgten, führten zu folgendem Ergebnis:
In der Grenzkompanie Pötenitz waren an den Kontaktaufnahmen mit Angehörigen des westdeutschen Zolls und Zivilpersonen in der Zeit vom 10.7. bis 18.8.1965 insgesamt 17 Angehörige des 1. Zuges beteiligt. Die Initiative zu diesen Kontaktaufnahmen ging vorwiegend von den NVA-Angehörigen aus. Zum Zweck der Verbindungsaufnahmen durchbrachen die NVA-Angehörigen die Grenzsicherungsanlagen und begaben sich auf westdeutsches Territorium bzw. hielten sich feindwärts der Sicherungsanlagen unmittelbar an der Grenze auf.
Bei diesen Kontaktaufnahmen kam es auf westzonalem Gebiet wiederholt zu größeren Zusammenrottungen, an denen außer den NVA-Grenzposten und Westzöllnern auch bis zu 40 westdeutsche Zivilpersonen beteiligt waren, die sich in einem in der Nähe befindlichen Camping-Dorf aufhielten.
Initiatoren waren vor allem die Postenführer [Name 1] und [Name 2], die im Wechsel mit weiteren 15 NVA-Angehörigen insgesamt je neun Kontaktaufnahmen durchführten. Dabei nahmen sie von den westdeutschen Personen Genussmittel (Zigaretten, Bier, Schokolade) und Schundliteratur entgegen.
Außerdem händigte [Name 1] einem Westzöllner 200 MDN aus, um sich von diesem Bekleidungsgegenstände an seine Heimatanschrift senden zu lassen.
Das gesamte Verhalten der Westzöllner bei den Verbindungsaufnahmen zeigte, dass sie die Kontakte mit den NVA-Angehörigen offensichtlich auf Weisung unterhielten. Zum Beispiel beobachteten sie während des Aufenthaltes der NVA-Grenzposten auf westdeutschem Territorium das Grenzgebiet der DDR, um die Posten vor eventuellen Kontrollstreifen zu warnen. Sie untersagten westdeutschen Zivilpersonen aus »Sicherheitsgründen« das Fotografieren der NVA-Angehörigen und forderten unsere Posten mit dieser Begründung vor allem zu nächtlichen Begegnungen auf. Bei den Gesprächen wurden neben persönlichen Belangen auch militärische Geheimnisse preisgegeben. Die militärischen Angaben bezogen sich im Wesentlichen auf die Ausrüstung und auf personelle Fragen der Kompanie, auf das Grenzsicherungssystem, die Bedeutung von Lichtsignalen, Besetzungszeiten der Hochstände, Aufgaben der Kontrollstreifen, Urlaubs- und Ausgangsregelungen usw.
Zu einer konzentrierten Kontaktaufnahme kam es am 6.8.1965, als in den Nachtstunden drei Postenpaare aus angrenzenden Postengebieten gemeinsam westdeutsches Gebiet betraten und in einem Bungalow mit zwei Zöllnern und Zivilpersonen über einen Zeitraum von ca. zwei Stunden alkoholische Getränke zu sich nahmen.
Während der gesamten Zeit ließen sie lediglich einen Posten im genannten Grenzbereich zurück.
Bei der Mehrzahl der Kontaktaufnahmen wurden die Posten von Westzöllnern und Zivilpersonen aufgefordert, fahnenflüchtig zu werden und in Westdeutschland zu bleiben. Diese Aufforderungen wurden jedoch von allen Posten abgewiesen.
Neben der politisch-ideologischen Situation in dieser Einheit wurden diese Handlungen vor allem durch die mangelhafte Kontrolle der Vorgesetzten, das schematische System der Postenkontrolle und die seit Langem unveränderten Kontrollzeiten begünstigt.
Dadurch war es den Posten möglich, ungehindert die genannten Kontakte aufzunehmen, während des Dienstes im Grenzgebiet zu fotografieren, zu baden bzw. zu schlafen und während der Nachteinsätze mehrere Stunden bei einer HWG-Person zu verbringen.
Die Vernachlässigung der Kontrollen durch die Vorgesetzten zeigte sich auch darin, dass die bei Kontaktaufnahmen erhaltenen westdeutschen Erzeugnisse z. T. wochenlang unbemerkt in den Spinden in der Kompanieunterkunft aufbewahrt werden konnten.
Durch die mangelhafte Kontrolle und Nachweisführung in der Kompanie war es den festgenommenen [Name 1] und [Name 2] möglich, aus dem Munitionsbestand insgesamt 45 Signalpatronen, fünf Karabinerpatronen und zwei Signalgeräte zu entwenden, die bei den Hausdurchsuchungen in den Wohnorten von [Name 1] und [Name 2] sichergestellt werden konnten.
In der Grenzkompanie Utecht waren seit Ende Juni 1965 insgesamt 25 Unteroffiziere und Soldaten während des Grenzdienstes an Kontaktaufnahmen zu westzonalen Zöllnern und Zivilpersonen beteiligt. Bei diesen Kontaktaufnahmen wurden ebenfalls die Grenzsicherungsanlagen überwunden, westdeutsches Territorium betreten, Gespräche mit westdeutschen Zöllnern und Zivilpersonen geführt und Genussmittel und Bekleidungsstücke entgegengenommen.
Während der Unterhaltungen verrieten vor allem die NVA-Angehörigen [Name 3], [Name 4], [Name 5] und [Name 6] auf Befragen der westdeutschen Zöllner Einzelheiten über die Versorgung, Unterbringung und kulturelle Betreuung der Grenzposten, den politisch-moralischen Zustand des Personalbestandes sowie weitere militärische Geheimnisse, die die Kompanie und das Grenzsicherungssystem betrafen.
Offensichtlich auf der Grundlage dieser an die Zöllner übermittelten Angaben über die Grenzkompanie Utecht wurde der in der Hetzschrift »Volksarmee« Nr. 2/65 erschienene verleumderische Artikel »Oberst Richter antwortet nicht« abgefasst.1 Von dieser Hetzschrift wurden am 27.8.1965, einen Tag nach der Herauslösung der Kompanie Utecht aus den Grenzdienst, erstmals eine Vielzahl von Exemplaren in den Bereichen aller Kompanien des GR Schönbergs – mit Ausnahme der Kompanie Utecht – aufgefunden, die mittels Ballon eingeschleust worden waren.
Bei diesen Kontaktgesprächen wurde ebenfalls wiederholt versucht, die NVA-Angehörigen zur Fahnenflucht zu verleiten.
Am 2.9.1965 versuchten vier Reporter der westdeutschen Illustrierten »Stern« Kontakt zu neu eingesetzten Posten der Kompanie Utecht aufzunehmen.
Wie dem MfS bekannt wurde, hatten sie den Auftrag, eine Gruppenfahnenflucht zu organisieren und darüber in der erwähnten Illustrierten eine Bildreportage zu veröffentlichen. Durch die Posten wurde jedoch auf die Kontaktversuche nicht eingegangen.
Als begünstigende Bedingungen wirkten auch in der Kompanie Utecht die ungenügenden Kontrollen durch die Vorgesetzten. Den Posten war bekannt, dass tagsüber in der Regel keine Postenkontrolle erfolgte, während diese sich zur Nachtzeit in einem gleichbleibenden System wiederholte. Die festgenommenen [Name 3] und [Name 4] erhielten ohne entsprechende Sicherung vom Kompaniechef den Schlüssel für die Tür an der Gasse des Minenfeldes, um den teilweise feindwärts der Sicherungsanlagen befindlichen Kontrollstreifen zu überprüfen. Dadurch konnten sie ungehindert die Sicherungsanlagen passieren.
Wie die Untersuchungen weiter ergaben, wurde diese Situation in beiden Kompanien besonders durch Vernachlässigung der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit und der kulturellen Betreuung der NVA-Angehörigen begünstigt. Die Mängel in der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit führten vor allem dazu, dass
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die Gefährlichkeit des westdeutschen Imperialismus im Allgemeinen und der westdeutschen Grenzsicherungsorgane im Besonderen unterschätzt wurde,
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über die Ziele und möglichen Folgen der Kontaktaufnahmen durch westdeutsche Bürger keine ausreichende politische Klarheit bestand,
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selbst durch Offiziere und Unteroffiziere beider Kompanien die notwendige politische Wachsamkeit stark vernachlässigt wurde und die bestehenden Weisungen hinsichtlich der Kontrollpflicht unterschätzt und nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit wahrgenommen wurden.
Der Politunterricht entsprach ebenfalls nicht den erhöhten Anforderungen, die an die Grenzsoldaten gestellt werden. Die Charakterisierung der westdeutschen Grenzorgane erfolgte schematisch und z. T. phrasenhaft, ohne auf die Vielfältigkeit und Raffiniertheit der Zersetzungsbestrebungen gegen die Grenztruppen der DDR einzugehen und die notwendigen Erfahrungen zum Erkennen und richtigen Reagieren zu vermitteln. Das führte dazu, dass die NVA-Angehörigen bei Kontakten mit Angehörigen der westdeutschen Grenzorgane oder Zivilpersonen Zweifel an der Richtigkeit der im Politunterricht gegebenen Einschätzung bekamen, diese Personen nicht als ihre Feinde einschätzten und die hinter den äußeren Erscheinungsformen stehenden gefährlichen Ziele und Absichten nicht richtig erkannten.
Weiter wurde in der Untersuchung festgestellt, dass die Offiziere z. T. keinen engen Kontakt zu den Soldaten hatten und dadurch auch nur ungenügend individuell erzieherisch und überzeugend Einfluss auf die Grenzsoldaten nehmen konnten. Sie verkehrten vorwiegend auf der Basis der Befehlsgebung mit ihren Unterstellten.
Die gesellschaftliche Arbeit – z. B. die FDJ-Arbeit – war ebenfalls mangelhaft und wenig ansprechend. Die ungenügende kulturelle Betreuung führte dazu, dass die Soldaten sich in ihrer Freizeit in nahegelegenen Gaststätten dem Alkoholgenuss hingaben und teilweise unter Alkoholeinfluss ihren Grenzdienst antraten.
Die Möglichkeiten des moralischen Anreizes zur guten Dienstdurchführung (richtige Anerkennung, Auszeichnung usw.) wurden nicht genügend genutzt.
Alle an den Kontaktaufnahmen beteiligten NVA-Angehörigen wurden durch das MfS dem Militärstaatsanwalt zur Anklageerhebung übergeben. Es ist beabsichtigt, die Hauptverhandlung vor erweiterter Öffentlichkeit durchzuführen und diese Verhandlungen in geeigneter Form auszuwerten.