Negatives Verhalten von Studenten im Ernteeinsatz in Neubrandenburg
13. Oktober 1965
Einzelinformation Nr. 883/65 über negatives Verhalten von Studenten der Humboldt-Universität während des Ernteeinsatzes im Bezirk Neubrandenburg
Seit dem 16.9.1965 befinden sich 27 Studenten der Humboldt-Universität – Seminar II – Mathematik/Physik – Pädagogik, 2. Studienjahr, in der Gemeinde Steinmocker, Krs. Anklam, zur Bergung der Kartoffelernte. (Die meisten dieser Studenten waren bereits 1964 in dieser Gemeinde eingesetzt.)
Verschiedene Unzulänglichkeiten in der Vergütung, der Unterbringung und Verpflegung gaben bereits zu Beginn des Einsatzes der Studenten, die sich ohne Lehrkräfte in Steinmocker befinden, Anlass zu Unstimmigkeiten zwischen dem LPG-Vorstand und den Studenten. Bei den geführten Verhandlungen wurden die Studenten sehr oft ausfällig. Vonseiten der LPG wird eingeschätzt, dass die Arbeitsleistungen der Studenten ungenügend waren. In der Freizeit traten sie teilweise mit rowdyhaften Handlungen (Trinkereien, ruhestörendem Lärm) in Erscheinung, was unter der Dorfbevölkerung Verärgerung und Empörung hervorrief. Während einer Kinoveranstaltung am 18.9.1965 in Kulturraum der LPG Steinmocker, die vom Großteil der Studenten besucht wurde, kam es zu hetzerischen Äußerungen verschiedener Studenten, die sich ihrem Inhalt nach vorwiegend gegen den Vorsitzenden des Staatsrates richteten und führende Bonner Ultras verherrlichten. Die meisten der anwesenden Studenten beklatschten diese Äußerungen, die während des Auftretens des Staatsratsvorsitzenden im »Augenzeugen« gemacht wurden. U. a. wurde auch laut gerufen: »Wählt Strauß, dann seid ihr aus dem Elend raus«. Während der Filmveranstaltung trat besonders der Student [Name 1] in Erscheinung.
Anlässlich einer Wahlveranstaltung, an der die in der LPG Steinmocker eingesetzten Studenten teilnahmen, wurde am 30.9. in der LPG Kries, Krs. Anklam, neben Schlagern und Marschliedern auch ein Hetzlied mit folgendem Text gesungen:
»Nieder mit der Mauer, nieder mit der Mauer,
auf dem Friedhofsplatz.
Hoch die Hohenzollern, hoch die Hohenzollern
auf den deutschen Thron.
Tod den Tyrannen, Tod den Tyrannen
der deutschen Nation.
Raus mit den Panzern, raus mit den Panzern
aus den Spielzeugläden.«
Dazwischen wurde jeweils der Refrain »Sie kommt ja, sie kommt ja, die Revolution« gebracht. (Nach bisherigen Feststellungen soll dieses Lied von Studenten der geologischen Fakultät der Humboldt-Universität vorgetragen worden sein.) Dieses Lied wurde später von den in der LPG Steinmocker eingesetzten Studenten in den kommenden Tagen jeweils abends im Aufenthaltsraum gesungen. An diesen Zusammenkünften nahmen bis zu 20 der in der LPG eingesetzten Studenten teil, die alle mitsangen. Sie wurden dazu vom Student [Name 2] auf der Gitarre begleitet. Selbst der FDJ-Sekretär des Seminars, [Vorname Name 3] (Mitglied der SED), brachte gegen das Absingen des Liedes keine Einwände vor bzw. sang sogar teilweise selbst mit.
Dieses Hetzlied wurde so laut gesungen, dass es außerhalb des Raumes von der Dorfbevölkerung zu hören war.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben:
Hauptinitiator des negativen Auftretens der Studenten waren [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1940, wohnhaft Potsdam-Babelsberg, verheiratet, 2 Kinder, Mitglied der FDJ und DSF, von 1958 bis 1961 Wehrdienst bei der NVA, Gefreiter; [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1942, wohnhaft Berlin-Prenzlauer Berg, ledig, Mitglied der FDJ, von 1963 bis 1964 Wehrdienst bei der NVA, Gefreiter; und Fätkenheuer, Eberhard, geb. [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Berlin-Niederschönhausen, ledig, Mitglied der DSF, zum Wehrdienst erfasst, gegen die wegen Verdachts eines Vergehens nach § 20 StEG1 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.2 (Das EV gegen [Name 1] wird mit Haft durchgeführt.)
Der Beschuldigte [Name 1] genießt aufgrund seines Alters und seiner Redegewandtheit unter den Mitgliedern der Seminargruppe den größten Einfluss und machte sich bereits in der Vergangenheit wiederholt zum Sprecher seiner Kommilitonen. An den Vorkommnissen in der Filmveranstaltung beteiligte er sich durch Äußerungen gegen den Staatsratsvorsitzenden. Das bereits erwähnte Hetzlied wurde von ihm mitgesungen. Darüber hinaus trat [Name 1] gegen die Wahlen in der DDR auf, da es keine »Oppositionspartei« gäbe, und forderte die Durchführung von Ostermärschen in der DDR, da die Sowjetunion ebenfalls Atomwaffen besitze.
Der Beschuldigte [Name 2] war im Besitz einer Gitarre und hat alle Lieder, darunter das Lied mit dem hetzerischen Inhalt, auf seiner Gitarre begleitet und auch selbst mitgesungen. In einem Fall hat er das Hetzlied als erster angestimmt und somit den Auftakt zum Mitsingen für die übrigen Studenten gegeben. Die Mutter des [Name 2] ist als stellv. Abteilungsleiterin in der Abteilung Hörerbriefe des Staatlichen Rundfunkkomitees tätig. Sie ist Mitglied der SED. Wie bekannt wurde, hat sie Verbindung zu Prof. Dr. Kaul3 aufgenommen und diesen mit der Verteidigung ihres Sohnes beauftragt.
Der Beschuldigte Fätkenheuer, der wiederholt das Hetzlied mitsang, war wesentlich an den provokatorischen Störungen der Filmveranstaltungen beteiligt. Er rief auch die selbst erdachte Losung: »Wählt Strauß und ihr seid aus dem Elend raus«. (Ähnliche Äußerungen, die die westdeutsche CDU/CSU verherrlichten, machte er auch während der Tätigkeit auf dem Feld.)
Eine Inhaftierung des F. wurde nicht vorgenommen, da F. bisher an der Universität als Beststudent einen guten Leumund genießt. Seine negativen Handlungen stellen nach bisherigen Feststellungen einmalige Handlungen dar.
Die negativen Vorkommnisse innerhalb der genannten Seminargruppe wurden besonders dadurch begünstigt, dass die bisherige politisch-erzieherische Einwirkung auf die Studenten ungenügend war. In der Vergangenheit gab es innerhalb der Gruppe in keinem Falle eine Auseinandersetzung mit politisch falschen Argumenten oder Ansichten. (Die letzte FDJ-Versammlung war die vor einem Jahr erfolgte Bildung einer FDJ-Gruppe.)
Die weiteren Untersuchungen konzentrieren sich einmal auf die konkrete Feststellung des Beteiligungsgrades der einzelnen Studenten an den genannten Vorkommnissen bzw. auf eventuelle Zusammenhänge mit anderen Straftaten sowie auf die weitere Aufklärung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen.