Provokationen an der Sektorengrenze in Berlin
12. August 1965
Einzelinformation Nr. 739/65 über eine Provokation durch das westdeutsche Motorboot »Kugelbake« auf der Elbe in der Nähe der GÜST Horst am 10. August 1965
Am 10.8.1965 in der Zeit von 10.40 bis 12.00 Uhr verletzte das westdeutsche Motorboot »Kugelbake« aus Hamburg auf der Elbe in der Nähe der GÜST Horst1 mehrmals die in Strommitte verlaufende Staatsgrenze der DDR, indem es die Fahrrinne auf der Elbe verließ und in die Buhnenköpfe auf dem Territorium der DDR einfuhr.
Die erste Meldung erfolgte gegen 10.40 Uhr durch einen Grenzposten der Kompanie Vierkreuz, der ein westdeutsches Boot feststellte, das aus Richtung Lauenburg kommend mehrmals die Fahrrinne verließ und in Richtung DDR-Ufer fuhr. Aufgrund dieser Meldung wurde eine Alarmgruppe aus zwei Offizieren, zwei Unterführern und vier Soldaten gebildet. Diese Gruppe wurde beauftragt, die Handlungen des westdeutschen Bootes zu verfolgen und gemeinsam mit dem angeforderten Schnellboot vom Bootsstützpunkt Dömitz das westdeutsche Boot bei einer nochmaligen Verletzung des Territoriums der DDR zu stellen und die Besatzung zur näheren Aufklärung der Grenzverletzung festzunehmen.
Durch diese Alarmgruppe wurde gegen 11.55 Uhr beobachtet, dass das westdeutsche Boot erneut die Fahrrinne verließ und ca. 200 m südwestlich der GÜST Horst zwischen der 6. und 7. Buhne ca. 150 m in das Territorium der DDR einfuhr und in der Nähe des 7. Buhnenkopfes hielt. Bei dieser Verletzung unseres Territoriums durch das westdeutsche Boot wurden auf Befehl des Leiters der Alarmgruppe, Hauptmann [Name 1], drei Warnschüsse abgegeben. Die Bootsbesatzung (7 Personen) wurde zugleich durch Winken, Zeichengebung und Rufen aufgefordert, am DDR-Ufer anzulegen. Dieser Aufforderung wurde jedoch nicht Folge geleistet. Aufgrund der Warnschüsse begab sich die Besatzung in Deckung und das Boot bewegte sich rückwärts aus den Buhnen heraus, offensichtlich um das Territorium der DDR zu verlassen.
Um ein Anlegen des westdeutschen Bootes am DDR-Ufer zu erreichen, befahl Hauptmann [Name 1], auf das westdeutsche Boot gezieltes Feuer zu eröffnen. Daraufhin wurden aus einer Entfernung von 60–80 m vier Feuerstöße auf das Boot abgegeben. (Insgesamt wurden 28 Zielschüsse auf das westdeutsche Boot abgefeuert. Ob durch den Schusswaffengebrauch Personen- oder Sachschaden entstand, konnte durch die Alarmgruppe nicht festgestellt werden.)
Das westdeutsche Boot setzte trotz der Schusswaffenanwendung seine Fahrt fort, verließ das Territorium der DDR und legte unmittelbar danach am gegenüberliegenden, zum westdeutschen Territorium gehörenden Ufer an, wo zwei Besatzungsmitglieder das Boot verließen und sich nach der Ortschaft Barförde begaben.
Kurze Zeit später erschien ein Volkswagen mit zwei Westzöllnern, die auf dem Boot mit der Besatzung sprachen. Anschließend kam ein weiterer Volkswagen mit Westpolizisten, die unser Gebiet beobachteten.
Das westdeutsche Zollboot »Altgarge« traf ebenfalls kurze Zeit später an der Anlegestelle der »Kugelbake« ein. Zu weiteren provokatorischen Handlungen kam es dabei nicht.
Gegen 12.45 Uhr legte die »Kugelbake« ab und nahm Kurs in Richtung Lauenburg.
Nach den bisherigen Untersuchungen hatten entgegen den westlichen Pressemeldungen weder das Wasserstraßenamt Wittenberge noch die NVA/Grenze Kenntnis von dem Vorhaben des westdeutschen Motorbootes »Kugelbake«, auf der Elbe Vermessungsarbeiten (Querpeilungen) durchzuführen und zu diesem Zweck in den zum Territorium der DDR gehörenden Elbteil einzufahren.
Am 5.8.1965 hatte das westdeutsche Wasserstraßenamt Hitzacker lediglich versucht, telefonisch mit dem Leiter des Wasserstraßenamtes Wittenberge in Kontakt zu treten. Dieses Gespräch wurde jedoch entsprechend der festgelegten Ordnung bereits durch die Telefonzentrale des Wasserstraßenamtes Wittenberge abgelehnt mit dem Bemerken, der verlangte Leiter des Wasserstraßenamtes sei nicht anwesend und als Gesprächspartner käme nur das Ministerium für Verkehrswesen der DDR infrage. Von westdeutscher Seite wurden in diesem Zusammenhang keine Angaben über das Vorhaben des westdeutschen Motorbootes »Kugelbake« gemacht.
Wie weiter festgestellt wurde, sind bis etwa 1963 auf der Grundlage des Gewohnheitsrechts die von Booten der DDR und Westdeutschlands bei derartigen Vermessungsarbeiten gewonnenen Ergebnisse ausgetauscht worden. Vom Charakter dieser Arbeiten her ist dabei offensichtlich, dass gegenseitig die Territorien verletzt wurden. Nach 1963 wurde diese »stille« Vereinbarung von unserer Seite unterbrochen, da westdeutsche Zoll- und Zivilboote wiederholt und systematisch durch Verletzung des Territoriums der DDR sog. Fluchthilfe geleistet hatten. U. a. sind mehrere Angehörige der NVA/Grenze mit Unterstützung derartiger westdeutscher Boote nach Westdeutschland fahnenflüchtig geworden.
Inwieweit nach dem Abbruch der genannten Beziehungen durch westdeutsche Boote die Vermessungsarbeiten fortgesetzt wurden und dabei Territorium der DDR verletzt wurde, konnte bisher nicht exakt festgestellt werden.
Den an diesem Vorkommnis beteiligten Grenzposten und der Alarmgruppe der NVA/Grenze war jedoch nicht bekannt, dass durch westdeutsche Boote in diesem Bereich Vermessungsarbeiten durchgeführt werden. Sie vermuteten lediglich aufgrund der Bewegung des Bootes und des Verhaltens der Besatzung, dass es sich um ein Vermessungsboot handelt, das offensichtlich versucht, auch auf dem Gebiet der DDR Vermessungsarbeiten durchzuführen.
Wie durch die Untersuchungen bestätigt wurde, sind derartige Vermessungsarbeiten, wie sie durch das westdeutsche Motorboot »Kugelbake« erfolgten, im Interesse der Aufrechterhaltung und ordnungsgemäßen Abwicklung der Binnenschifffahrt auf der Elbe unbedingt notwendig. Im Ergebnis einer Aussprache mit dem Staatssekretär im Ministerium für Verkehrswesen (MfV), Genossen Scholz,2 wurde deshalb auch vereinbart, durch das MfV eine technische Einschätzung über die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Durchführung von Vermessungsarbeiten, Baggerungen im Flussbett und Schiffsbergungen zu erarbeiten. Im Ergebnis dieser Untersuchung müsste nach Abstimmung mit der NVA/Grenze der westdeutschen Seite der Vorschlag unterbreitet werden, im Interesse einer Regelung dieses Problems eine entsprechende Vereinbarung mit dem Ministerium für Verkehrswesen der DDR abzuschließen. Dabei müsste auch der wiederholt erhobenen Behauptung der westdeutschen Seite entgegengetreten werden, wonach die Staatsgrenze nicht wie international üblich in der Strommitte, sondern am Elbufer der DDR verlaufen würde.
Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen dem MfV und der NVA/Grenze müsste gleichzeitig das Zusammenwirken dieser Organe im Grenzbereich der Elbe gesichert werden. Zu diesem Zweck soll eine gemeinsame Kommission geschaffen werden.
Die Untersuchung des Verhaltens der an diesem Vorkommnis beteiligten Angehörigen der NVA/Grenze ergab, dass sie entsprechend den erteilten Weisungen gehandelt haben. Die Schusswaffenanwendung unter den gegebenen Umständen ist jedoch als taktisch unklug einzuschätzen, da das westdeutsche Boot bereits wieder die Fahrt aufgenommen hatte, offensichtlich um das Territorium der DDR zu verlassen und deshalb auch kaum Aussichten bestanden, durch Zielfeuer ein Anlanden am DDR-Ufer zu erreichen. Das mit Unterstützung der Alarmgruppe beorderte Schnellboot der Bootsgruppe Dömitz (ca. 30 km entfernt), das dem westdeutschen Boot den Rückweg verlegen sollte, war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht am Vorkommnisort eingetroffen.
Weitere Untersuchungen werden geführt.3