Reaktionen im Zusammenhang mit der Bundestagssitzung in Westberlin
9. April 1965
Einzelinformation Nr. 335/65 über die Reaktionen von Bürgern Westdeutschlands, Westberlins und der DDR zur provokatorischen Sitzung des Bundestages in Westberlin und zu den eingeleiteten Maßnahmen der DDR
[Faksimile des Deckblatts zu Information 335/65]
[Faksimile des Schreibens Erich Mielkes an Markus Wolf und dessen Antwort]
Die Reaktion der westdeutschen Bevölkerung zur provokatorischen Bundestagssitzung in Westberlin ist im Allgemeinen sehr zurückhaltend. In den bisher bekannt gewordenen Äußerungen wurde diese Sitzung größtenteils als Provokation verurteilt, wobei teilweise aber auch gleichzeitig gegen die Maßnahmen der DDR Stellung genommen wurde. Im Wesentlichen wurden dabei folgende Argumente gebraucht:
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Der Bundestag sollte wie bisher in Bonn tagen.
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Die Bundesregierung habe kein Recht, Tagungen in Westberlin einzuberufen, da Westberlin nicht zum Territorium der Bundesrepublik gerechnet werden könne.
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Die Tagung des Bundestages in Westberlin sei eine Provokation; den Maßnahmen der DDR sei aber ebenfalls nicht zuzustimmen, weil darunter nur der »kleine Mann« zu leiden habe.
Im Zusammenhang mit den verstärkten Kontrollen an den GÜST und mit den zeitweiligen Sperrungen von Verkehrswegen kam es zu verstärkten Diskussionen westdeutscher Bürger über die Maßnahmen, wobei insbesondere gegen die langen Wartezeiten an den westlichen Kontrollpunkten Stellung genommen wurde. Über die Ursachen für diese Situation werden jedoch keine umfangreichen Diskussionen geführt. Im Wesentlichen werden zwei Hauptargumente gegenübergestellt.
In einer Reihe von Fällen wurde von westdeutschen Bürgern erklärt, dass diese Wartezeiten letzten Endes auf die provokatorische Haltung der Bonner Regierung zurückzuführen seien. Von einigen anderen westdeutschen Bürgern wurden die Maßnahmen als »Schikanen der DDR-Organe« betrachtet und finden nicht das notwendige Verständnis. An den Grenzübergangsstellen in Berlin äußerten sich z. B. westdeutsche Bürger negativ und ungehalten zu den eingeleiteten Maßnahmen, wobei sich die Diskussionen aber fast ausschließlich auf die Abfertigung bezogen. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße kehrte eine Reihe westdeutscher Besucher wegen des großen Andrangs wieder um. Andere brachten bei der Ausreise unseren Kontrollkräften gegenüber zum Ausdruck, dass es der letzte Besuch gewesen war, den sie in die DDR unternommen hätten.
Die Reaktion der Westberliner Bevölkerung auf die provokatorische Bundestagssitzung in Westberlin und auf die Maßnahmen der DDR ist äußerst unterschiedlich.
Der positive Teil der Westberliner Bevölkerung richtet sich gegen die provokatorische Bundestagssitzung und erkennt die sich daraus ergebenden Maßnahmen der DDR an. Vielfach wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass sich durch die Bonner Provokation nur Schwierigkeiten für die Westberliner Bevölkerung ergeben könnten. In diesem Zusammenhang wird vermutet, dass sich die provokatorische Politik auf den Reiseverkehr, den Handel und das Passierscheinabkommen auswirken könnten. Dabei wird erklärt, dass die Bonner Regierung in Westberlin nichts zu suchen hat und Westberlin nicht zum Territorium der Bundesrepublik gehört.
Ein großer Teil der Westberliner Bevölkerung verhält sich jedoch zu der Bonner Provokation ziemlich gleichgültig. Ein weiterer Teil erkennt nicht den provokatorischen Charakter der Bonner Politik und nicht die Notwendigkeit der von der DDR eingeleiteten Maßnahmen. Vielfach wird die Sitzung des Bundestages begrüßt und gleichzeitig die »ungenügende Unterstützung der Bonner Regierung durch die USA« kritisiert.
In der Mehrzahl der bekannt gewordenen Äußerungen von Westberlinern wird Westberlin für zur Bundesrepublik gehörig und die provokatorische Sitzung nicht als eine rechtswidrige Handlung betrachtet. Zur Begründung wird u. a. angeführt, dass Westberlin von Westdeutschland auch finanzielle Unterstützung erhalte.
Wiederholt wird dazu erklärt, dass Berlin einen Vier-Mächte-Status habe, und wenn man dem Bundestag verbieten will, in Westberlin zu tagen, dann müsste auch die Regierung der DDR Berlin verlassen und die Volkskammer dürfte auch nicht in Berlin tagen. Die DDR hätte ihre Drei-Staaten-Theorie1 selbst widerlegt, denn mit dem Durchreiseverbot für Brandt2 durch die DDR sei bewiesen, dass Westberlin zur Bundesrepublik zähle.
Vor allem Westberliner Passierscheinbesitzer befürchten, dass durch die Bonner Provokation die Verwandten-Besuche in Wegfall kommen könnten. Dieses Argument wird durch eine Reihe solcher Meinungen zu entschärfen versucht, dass sich die DDR das nicht leisten könne, weil sie das Westgeld brauche.
Westberliner Handelsvertreter und Geschäftsleute äußerten Bedenken, dass die gegenwärtige Situation zu Störungen im Handel zwischen beiden deutschen Staaten führen könne.3
Öfters wurden Befürchtungen einer evtl. »Blockade«4 ausgesprochen. In diesem Zusammenhang kam es – besonders durch ältere Menschen – verschiedentlich zu Angsteinkäufen. Von Geschäftsleuten wurden diese Handlungen noch unterstützt mit der Begründung: »Kaufen Sie, wer weiß, wann wir wieder Ware bekommen.«
Während die Diskussionen um die provokatorische Bundestagssitzung selbst nicht im Mittelpunkt standen, wurde zu den Maßnahmen der DDR in stärkerem Maße Stellung genommen, besonders zum Überfliegen Westberlins durch Düsenflugzeuge. Dabei kam es in den letzten Tagen zu einer gewissen Beunruhigung unter der Westberliner Bevölkerung und zur Übernahme der in den westlichen Publikationsorganen verbreiteten Terminologie, wie »Erpresser-Methoden«, »Einschüchterung der Bevölkerung« usw. Weiter wurden in Einzelfällen Maßnahmen der Amerikaner gegen die Düsenflugzeuge gefordert. Eine gewisse Angst vor einer Ausweitung der Spannungen und möglichen Folgen kommt in mehreren Fällen in bekannt gewordenen Fluchtgedanken von Westberlin nach Westdeutschland zum Ausdruck.
Weiter wurde bekannt, dass am 6. und 7.4.1965 die Angebote zum Verkauf von Westberliner Grundstücken sehr stark angestiegen sind, wobei die Grundstückspreise bedeutend fielen. Allein ein Westberliner Rechtsanwalt erhielt an einem Tage 20 Mietshäuser zum Verkauf angeboten.
Von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung der DDR, vor allem der Hauptstadt der DDR, wird die Sitzung des westdeutschen Bundestages in Westberlin als Provokation erkannt und verurteilt. Wiederholt wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass durch diese Provokation die Lage weiter verschärft und das Passierscheinabkommen5 infrage gestellt werden. Dies wird vor allem auf die Verwandtenbesuche zu Ostern und Pfingsten bezogen.
Zu möglichen Auswirkungen auf das Passierscheinabkommen wird erklärt, dass eine Nichtdurchführung der Verwandtenbesuche unverständlich wäre, weil diese Maßnahme sich gegen die Berliner Bevölkerung in beiden Teilen der Stadt richten würde und nicht die träfe, die für die Organisierung der provokatorischen Bundestagssitzung in Westberlin verantwortlich seien. (Z. T. wird dies auch mit der Geldumtauschpflicht6 in Verbindung gebracht und die Ansicht vertreten, dass die DDR sich die Einnahmen in Westmark nicht entgehen lassen würde.)
Vielfach wird jedoch von Bürgern der Hauptstadt der DDR auch die Meinung vertreten, dass sie nicht böse wären, wenn die Besuche nicht zustande kämen.
Mehrfach wird im Zusammenhang mit dem Passierscheinabkommen erklärt, es wäre richtig, nicht so viel zu sprechen, sondern zu handeln. Bei Durchführung der Bundestagssitzung in Westberlin sollte vonseiten der DDR auch das Passierscheinabkommen für Ostern für ungültig erklärt werden. Die Verwandtenbesuche sollten von der Haltung der Westberliner Bürger zu der Bonner Provokation abhängig gemacht werden.
Die von der Regierung der DDR eingeleiteten Maßnahmen gegen die Bonner Provokation in Westberlin finden bei der großen Mehrheit der Bevölkerung volles Verständnis und Zustimmung. Die Verweigerung der Durchfahrt durch die DDR auf den nach Westberlin führenden Straßen und Schienenwegen für alle Mitglieder des westdeutschen Bundestages sowie die gegenwärtig stattfindenden Manöver im Raum westlich von Berlin werden als wichtige Gegenmaßnahme begrüßt. Ein großer Teil der Bürger der DDR vertritt jedoch die Meinung, dass die Sperrung der Straßen und Eisenbahnverbindungsstrecken zwar richtig aber doch sinnlos seien, da die betreffenden Personen per Flugzeug ungehindert nach Westberlin gelangen könnten und die Maßnahmen der DDR »nur die Kleinen« betreffen würden.
Ein großer Teil von Bürgern der DDR vertritt die Meinung, dass härtere Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Provokateure zurechtzuweisen. In diesem Zusammenhang wurden folgende Argumente gebraucht:
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Für die DDR sei doch die Möglichkeit gegeben – besonders durch die Manöver – den Luftraum zu sperren und so wirksam gegen die Bundestagssitzung vorzugehen.
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Es sollte endlich Schluss gemacht und Westberlin isoliert werden, dann würden die Imperialisten und besonders die Westberliner Bürger schon zu Verstand kommen.
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Es müsse endlich Klarheit geschaffen und richtig durchgegriffen werden.
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Es sei an der Zeit, dass wir uns nicht mehr alles gefallen lassen und nicht nur mit Protesten antworten.
In weiteren Diskussionen kommt vor allem der gegnerische Einfluss zum Ausdruck, wobei sich z. T. aber auch Unkenntnis und Gleichgültigkeit widerspiegeln. In diesen Diskussionen zeigt sich immer wieder, dass die Kenntnisse über den Inhalt des Potsdamer Abkommens und über die daraus entstandene völkerrechtliche Lage Westberlins bei weiten Bevölkerungskreisen noch ungenügend sind. Im Wesentlichen wird wie folgt argumentiert:
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Was geht uns die Bundestagssitzung an, sollen sie doch ihre Sitzungen durchführen wo sie wollen.
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Die Volkskammer tage doch auch in Berlin, also könne es der Bundestag ebenfalls.
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Entweder haben beide Teile der Stadt einen besonderen Status oder keiner.
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Der Vier-Mächte-Status gelte nach wie vor für ganz Berlin und Berlin könne deshalb nicht die Hauptstadt der DDR sein.
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Westberlin gehöre zu Westdeutschland, da es ja 1945 gegen Thüringen ausgetauscht worden sei. (Westdeutschland und Westberlin hätten auch die gleiche Währung und gleiche gesellschaftliche Verhältnisse.)
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Die Westberliner Sportler gehörten in Tokio ja auch zur westdeutschen Olympiamannschaft. Damals wäre die DDR einverstanden gewesen. Jetzt aber sei man dagegen, dass die Bonner Regierung in Westberlin tage.
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Westberlin sei »Freie Stadt«7 und könne einladen wen es wolle und veranstalten was es wolle. Selbst die Schweiz stelle ihr Territorium anderen Ländern für Tagungen zur Verfügung.
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Durch die Gegenmaßnahmen würden nur die Spannungen zwischen beiden deutschen Staaten verschärft.
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Die Maßnahmen der DDR seien übertrieben.
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Zum reibungslosen Verkehr auf den Verbindungswegen und an den GÜST müsste der Amerikaner Panzer als Geleitschutz einsetzen.
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Berlin sei die Hauptstadt Deutschlands, und da es zwei deutsche Staaten gibt, könnten ihre Vertreter auch nach Berlin kommen.
Eine Reihe weiterer Bürger der DDR beurteilten die Maßnahmen abwartend, indem sie in diesem Zusammenhang von »Bluff« und »Kraftmeierei« sprachen, die außerhalb der geltenden Rechtsnormen stünden. In mehreren Diskussionen kommt zum Ausdruck, dass die Bonner Regierung aufgrund des außenpolitischen Prestigeverlustes im Nahen Osten gezwungen sei, derartige Provokationen durchzuführen, um ihr Ansehen wieder aufzubessern.
Vereinzelt wurde die Bonner Provokation mit den Ereignissen in Vietnam in Verbindung gebracht und die Meinung vertreten: Die Bonner Provokation konnte nur deshalb gestartet werden, weil es den Imperialisten zu lange Zeit gestattet sei, die DR Vietnam ungestraft zu bombardieren.8 Die angeblich mangelnde Unterstützung habe die Autorität des sozialistischen Lagers geschwächt und die Imperialisten zu dieser Provokation in Westberlin ermuntert.
Zum Teil hat sich die Besorgnis verstärkt, dass es durch die Maßnahmen der DDR zu weiteren Auseinandersetzungen militärischer Art kommen könne. In diesem Zusammenhang wurden die Fragen gestellt:
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»Was geschieht, wenn die USA und Westdeutschland die DDR auf ähnliche Weise angriffen wie die USA die DR Vietnam«, und
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»ob eine evtl. notwendige Hilfe für unsere Republik auch so lange auf sich warten lassen würde wie in Vietnam«.
Rentner befürchten, dass durch die Bonner Provokation evtl. auch die Rentner-Reisen9 nach Westberlin und Westdeutschland gefährdet seien.
Im Zusammenhang mit dem Überfliegen der Hauptstadt der DDR durch Düsenflugzeuge am 7.4.1965 kam es mehrfach zu Beschwerden aus Bevölkerungskreisen bei verschiedenen Dienststellen der NVA in Berlin. Vorwiegend handelte es sich bei den Beschwerdeführern um Nachtschicht-Arbeiter, Mütter von Kleinkindern, Abschnittsbevollmächtigte und Mitarbeiter der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion10.11
Unter Hinweis auf die Manöver im Raum westlich Berlins und die DDR-Maßnahmen gegen die provokatorische Bundestagssitzung traten z. T. Forderungen nach einer besseren Informierung durch unsere Presse, Rundfunk und Fernsehen auf, wobei die Argumente erkennen ließen, dass diese Personen ihre Kenntnisse hauptsächlich aus den Meldungen westlicher Sendestationen bezogen. Zum Beispiel äußerten die Ärzte Dr. [Name 1], Dr. [Name 2], Dr. [Name 3] und Dr. [Name 4] aus dem Krankenhaus Berlin-Friedrichshain ihre Unzufriedenheit über die nach ihrer Meinung »spärlichen Presseinformationen« zu den »Zwischenfällen auf der Autobahn«, wo »Frauen und Kinder ohne genügende Verpflegung den Schikanen der DDR-Organe ausgesetzt« gewesen seien.