Schusswechsel der Volkspolizei mit sowjetischem Deserteur in Merseburg
13. Dezember 1965
Einzelinformation Nr. 1109/65 über ein besonderes Vorkommnis im Zusammenhang mit der Fahndung nach einem desertierten Soldaten der Sowjetarmee auf dem Bahnhof Merseburg, [Bezirk] Halle
In der Nacht vom 9. zum 10.12.1965 hatte der sowjetische Soldat [Name 1, Vorname], geb. 1945, in seinem Standortobjekt »Heide« in Halle einen anderen Angehörigen der Sowjetarmee erschossen und war danach fahnenflüchtig geworden. [Name 1] war im Besitz einer Pistole »Makarow« mit 128 Schuss Munition.
Auf Ersuchen der sowjetischen Einheit wurde deshalb von der BDVP Halle am 10.12.1965, gegen 6.05 Uhr, für den gesamten Bezirk Halle Fahndung (Stufe I) nach dem flüchtigen [Name 1] ausgelöst.
Am 11.12.1965 wurde die VP in Schafstädt bei Merseburg durch Zivilisten erstmals auf eine verdächtige Person aufmerksam gemacht, die in einer in der Nähe der Eisenbahnstrecke Schafstädt–Merseburg liegenden Feldscheune beobachtet wurde. Diese Person konnte jedoch nicht näher ausgemacht und auch nicht gestellt werden, da sie bei Annäherung der Volkspolizei flüchtig wurde und auf den von Schafstädt nach Merseburg fahrenden Personenzug Pz 2092 aufsprang. In diesem Zug bemerkte der Zugführer gegen 18.50 Uhr im Packwagen einen sowjetischen Soldaten und erstattete darüber nach Einfahrt auf dem Bahnhof Merseburg Meldung.
Daraufhin erfolgte gemeinsam durch Angehörige der Transportpolizei, des Schnellkommandos des VPKA Merseburg und der Streife der sowjetischen Kommandantur eine Durchsuchung des Zuges und des Geländes des Personen- und Güterbahnhofes Merseburg.
Auf dem Gelände des Güterbahnhofes wurde der fahnenflüchtige [Name 1] schließlich in einer neu erbauten Baracke aufgespürt. Die Baracke wurde umstellt und [Name 1] durch Anrufe aufgefordert, sich zu stellen. [Name 1] beantwortete diese Aufforderungen jedoch mit gezielten Schüssen und durchbrach gegen 20.05 Uhr die Umstellung unter Abgabe mehrerer Schüsse. Bis zu diesem Zeitpunkt war von den eingesetzten Kräften keine Schusswaffenanwendung erfolgt. Als [Name 1] auch nach dem Durchbrechen der Umstellung auf einen erneuten Anruf nicht stehen blieb, sondern wiederum mehrere Schüsse abgab, wurde durch einen Angehörigen der VP auf ihn ein gezielter Feuerstoß abgegeben, der ihn tödlich verletzte.
Die offensichtlich verspätete Schusswaffenanwendung war nach bisherigen Feststellungen durch eine unklare Fahndungsanweisung begünstigt worden. Die entsprechende Fahndungsanweisung beinhaltete: Der sowjetische Soldat sei mit einer Pistole bewaffnet, bei Feststellung solle jedoch keine Festnahme, sondern die weitere Beobachtung erfolgen und der Stab verständigt werden. Unterzeichnet war diese Weisung von dem Major der K, [Name 2]. Aus einer vorangegangenen schriftlichen Benachrichtigung war jedoch zu erkennen gewesen, dass die zur Fahndung stehende Person von der Schusswaffe Gebrauch machen wird, was offensichtlich nicht richtig beachtet wurde.
Durch das von [Name 1] eröffnete Feuer wurden von den Angehörigen der Transportpolizei Hauptwachtmeister Gebhardt, Walter, geb. am [Tag, Monat] 1939 in Merseburg, durch Kopfschuss; Hauptwachtmeister [Name 3, Vorname], durch Lebersteckschuss und Handverletzung; Hauptwachtmeister [Name 4, Vorname], durch rechten Oberarm-Durchschuss und Anwärter [Name 5, Vorname], durch rechten Unterschenkel-Durchschuss, verletzt. Hauptwachtmeister Gebhardt ist am 12.12.1965 an den Folgen dieser Verletzung verstorben. Bei Hauptwachtmeister [Name 3] besteht Lebensgefahr.
Weiterhin wurden bei dem Personenzug 429 Saalfeld–Halle, der zu dieser Zeit etwa eine Minute Aufenthalt in Merseburg hatte, sechs Einschüsse in einem Waggon, u. a. auch in einer Fensterscheibe, festgestellt. Durch Glassplitter dieser Fensterscheibe war die Reisende [Name 6], geb. [Name 7], geb. am [Tag, Monat] 1903 in Berlin-Neukölln, wohnhaft Naumburg, [Straße Nr.], leicht verletzt worden. Sie konnte jedoch nach ambulanter Behandlung ihre Reise fortsetzen. Das Vorkommnis auf dem Bahnhof Merseburg wurde vom Bahnsteig aus von ca. 100 Personen und von der Stadt aus von ca. 150 Personen beobachtet.
Von der Bezirksleitung der Partei wurden in Anwesenheit des 1. Sekretärs Genossen Sindermann1 Maßnahmen zur Vermeidung möglicher feindlicher Gerüchte und Spekulationen eingeleitet. Vom MfS wurden die notwendigen Maßnahmen zur Unterstützung der Aufklärungsmaßnahmen seitens der Partei und zur weiteren Klärung des Vorkommnisses getroffen.