Schwerer Grenzdurchbruch auf der Autobahn Marienborn
9. Oktober 1965
Einzelinformation Nr. 876/65 über einen schweren Grenzdurchbruch am 9. Oktober 1965 an der GÜST Marienborn/Autobahn in Richtung Westdeutschland
Am 9.10.1965, um 1.45 Uhr, durchfuhr ein nur mit dem Fahrer besetzter Omnibus mit überhöhter Geschwindigkeit das Kontrollterritorium der GÜST Marienborn/Autobahn und durchbrach mehrere Schlagbäume der GÜST sowie den Schlagbaum des westdeutschen Kontrollpunktes, ohne dass es den eingesetzten Sicherungskräften gelang, den Grenzdurchbruch nach Westdeutschland zu verhindern.
Die sofort eingeleiteten Untersuchungen führten zu folgenden Ergebnissen:
Bei dem Fahrzeug handelt es sich um einen Bus Ikarus, pol. Kz. KO […], des VEB Kraftverkehr Dessau, der von [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1924, in Dessau gefahren wurde. [Name 1] ist als zweiter Fahrer im VEB Kraftverkehr Dessau beschäftigt gewesen.
[Name 1] war am 9.10.1965 mit dem genannten Bus anstelle eines erkrankten Fahrers im Stadtverkehr eingesetzt worden. Er hatte bis 23.00 Uhr Dienst, den er normal ausführte, und anschließend auch seine Einnahmen abrechnete.
Danach tankte er den Bus neu auf, übergab ihn jedoch nicht und fuhr in Richtung Marienborn.
Die Einfahrt in das 5-km-Sperrgebiet, das durch den KP 38 der VP abgesichert wird und wo eine Kontrolle aller DDR-Fahrzeuge erfolgt, geschah mit überhöhter Geschwindigkeit. Die dort diensthabenden VP-Angehörigen erklärten, sie seien vom Schweinwerferlicht des Ikarus geblendet gewesen und hätten nicht sofort erkannt, dass es sich um ein DDR-Fahrzeug handelt. Sie informierten jedoch nicht den Kommandanten – wie es die entsprechenden Weisungen besagen – sondern nahmen an, dass es sich lediglich um eine Geschwindigkeitsüberschreitung handele. Dadurch unterblieb die rechtzeitige Alarmauslösung an der GÜST und der Bus fuhr ungehindert ca. 3,5 km weiter mit überhöhter Geschwindigkeit bis in Höhe der Vorkontrolle des Grenzzollamtes (GZA).
Bei der Zollkontrolle fuhr der Bus dann langsam auf der rechten Fahrbahnseite – wie vorgeschrieben – hinter einen dort zur Abfertigung stehenden westdeutschen Bus, um denn plötzlich nach links auszuscheren und mit großer Geschwindigkeit am Posten des GZA vorbeizufahren. Dabei zerstörte er einen Kontrollspiegel des Zolls. Der Posten des GZA versuchte erfolglos den Bus durch Handzeichen zum Halten aufzufordern. Von seiner Dienstpistole machte er jedoch keinen Gebrauch, sodass auch jetzt noch nicht eine Alarmauslösung durch den Posten der Kontrolleinheit möglich war.
Erst nachdem der am ersten Schlagbaum eingesetzte Posten der Passkontrolleinheit den sich mit überhöhter Geschwindigkeit nähernden Bus feststellte, wurde Alarm ausgelöst. Bis zum Wirksamwerden der Sperrmaßnahmen (ca. 20 Sek.) hatte der Bus aber bereits den ersten Schlagbaum (der aufgrund des geringen Verkehrs geschlossen war) durchbrochen. Dabei wurde der Passkontrolleur Ofw. [Name 2] durch den zur Seite geschlagenen Holm des Schlagbaumes am Oberschenkel verletzt. Durch das schnelle Herannahen des Busses (über 60 km/h) war es nicht mehr möglich, Feuerstellung zu beziehen.
Der Bus durchfuhr daraufhin die 400 m des Kontrollterritoriums bis zur Hauptsperre, durchbrach dort den Schlagbaum und überfuhr die Reifentötersperre, ohne dadurch an der Weiterfahrt gehindert zu werden. Die Posten der NVA waren aufgrund der Geschwindigkeit des Fahrzeuges und der notwendigen Handlungen zum Schließen der Sperren nicht mehr in der Lage, das Feuer auf das ankommende Fahrzeug zu eröffnen. Der Bus benutzte bei der Anfahrt des Postens bzw. Schlagbaumes im Postenbereich IV die rechte Fahrbahnseite und durchfuhr den Schlagbaum unmittelbar an der rechten Seite, wo der Schlagbaum in die Halterung einrastet. Durch den Aufprall wurde der Schlagbaum stark beschädigt, aus der Auflage herausgerissen und beiseite gedrückt, wodurch gleichzeitig das dort befindliche Postenhäuschen der NVA völlig zerstört wurde.
Die Reifentötersperre, von der zwei Dorne verbogen wurden, wirkte jedoch nicht sofort.
Durch den Angehörigen der NVA an der Hauptsperre wurde sofort nach Durchbrechen der Sperranlage das Feuer aus einer MPi auf den Bus eröffnet, ohne jedoch eine Wirkung zu erzielen. Zu diesem Zeitpunkt näherte sich der Bus bereits der Kontrollrampe des Zolls, welche sich ca. 60 m von der Schlagbaumsperre entfernt auf der Nordbahnseite befindet. Auf dieser Kontrollrampe (Ost-West-Rampe) befand sich zum Zeitpunkt des Durchbruchs der ZAss. Genosse [Name 3], der sofort mit seiner Dienstpistole das Feuer auf den entgegenkommenden Bus eröffnete. Von den Posten der NVA und dem Zollangehörigen wurden jeweils fünf Schuss abgefeuert.
Trotz des Beschusses setzte der Bus seine Fahrt mit hoher Geschwindigkeit fort und bewegte sich in Richtung Posten I und II der NVA. Es handelt sich hierbei um den letzten Schlagbaum in Richtung Westdeutschland.
Nachdem der Bus in den Bereich der Feuerlinie eingefahren war, wurden durch den Postenführer, Soldat [Name 4], 17 Schuss und durch den Soldaten [Name 5] elf Schuss aus der MPi auf den ankommenden Bus abgegeben.
Der Bus setzte trotz dieses Beschusses seine Fahrt fort und durchbrach auch die geschlossene Schlagbaumanlage des Postens II. Zu diesem Zeitpunkt wurde vom Beobachtungsturm (unmittelbar in Höhe der Staatsgrenze) das Feuer auf den entgegenkommenden Bus eröffnet. Durch die Posten des Beobachtungsturmes wurden insgesamt 34 Schuss aus der MPi auf den Bus abgegeben.
Unmittelbar vor der Staatsgrenze in Höhe der dort befindlichen Brücke kam der Bus ins Schleudern. Inwieweit dies auf die Wirkung der Reifentöter, des Beschusses oder einer Verletzung des Fahrers (nach Angaben der Westpresse hatte der Fahrer eine Schussverletzung am Knie erlitten) zurückzuführen ist, steht nicht fest. Dem Fahrer gelang es jedoch, das Fahrzeug abzufangen. Der Bus durchbrach dann die Schlagbaumsperre des westdeutschen Kontrollpunktes auf der nördlichen Seite der Nordbahn und fuhr tief in das westliche Kontrollterritorium ein.
Die bisherigen Überprüfungen ergaben keine Hinweise darauf, dass im Fahrerhaus des Busses Stahlplatten oder andere Verstärkungen zum Schutz gegen Beschuss angebracht worden waren, wie das von einer Westberliner Zeitung behauptet wurde. Es erscheint auch wenig wahrscheinlich, dass in der relativ kurzen Zeit zwischen Dienstschluss des Grenzverletzers und erfolgtem Grenzdurchbruch solche Verstärkungen angebracht werden konnten.
Infolge des Nichtauslösens eines Alarms durch den KP 38 (VP) und die Zollkontrolle war es nicht möglich, intensive Vorbereitungen zur Verhinderung des gewaltsamen Grenzdurchbruchs zu treffen. Bei einer rechtzeitigen Alarmierung hätte der Grenzdurchbruch durch einen konzentrierten Einsatz von Mitarbeitern in Feuerstellungen und die Betätigung der ersten Reifentötersperre mit Sicherheit verhindert werden können.
In Auswertung dieses schweren Grenzdurchbruches werden zusammen mit den zuständigen Stellen die Alarmsysteme überprüft und die notwendigen Maßnahmen durchgeführt.
In diesem Zusammenhang wäre es zweckmäßig, am KP 38 (VP) ein Kontrollgebäude zwischen den beiden Fahrbahnen und einen Schlagbaum zur Gewährleistung der Vorkontrolle aller einfahrenden Fahrzeuge zu errichten, wie dies an allen anderen GÜST der Staatsgrenze West der Fall ist. Ferner werden noch einige Sicherungsmaßnahmen getroffen, die sich bereits an den Grenzübergängen der Staatsgrenze nach Westberlin erfolgreich bewährt haben, damit auch schwerste Fahrzeuge nicht durchbrechen können.
Zur Person des Grenzverletzers wurde bisher ermittelt:
[Name 1] ist verheiratet, hat vier Kinder und wohnte in Dessau, [Straße Nr.], wo sich seine Ehefrau und seine Kinder noch befinden. [Name 1] befand sich von 1951 bis 1957 in Dortmund/WD. Er ist als asoziales Element einzuschätzen und trat durch Arbeitsbummelei, häufige Trunkenheit und Frauenbekanntschaften negativ in Erscheinung. Er ist mehrmals vorbestraft, u. a. mit Gefängnisstrafen von drei und neun Monaten wegen Trunkenheit am Steuer und wegen staatsfeindlicher Hetze. Er war bereits einmal beim VEB Kraftverkehr Dessau als Taxifahrer beschäftigt, aber wegen dieses Verhaltens entlassen worden. Gesellschaftlich hat er sich nie betätigt. Aus verschiedenen Hinweisen ist zu schlussfolgern, dass [Name 1] den gewaltsamen Grenzdurchbruch geplant hatte. So erklärte er am 7.10.1965 in angetrunkenem Zustand einem Taxifahrer des VEB Kraftverkehr Dessau gegenüber, dass er wieder nach Dortmund möchte. Der Taxifahrer habe das jedoch nicht ernst genommen. Außerdem hat sich [Name 1] vor Dienstantritt gut angezogen. Obwohl er das sonst nie tat, habe seine Frau angeblich keinen Verdacht geschöpft.
Falls eine Veröffentlichung über diesen Vorfall in der DDR-Presse erfolgt, wird empfohlen, besonders hervorzuheben, dass Bonner Politiker und die Westpresse in der Person des Grenzverletzers [Name 1] ein mehrfach vorbestraftes kriminelles asoziales Element als »Helden« feiert.
Weitere Untersuchungen zur Person, zu den Ursachen und Motiven werden geführt.