Selbstmord des Schauspielers Christian Weisbrod
30. Oktober 1965
Einzelinformation Nr. 963/65 über den Selbstmord des Schauspielers am »Berliner Ensemble« Weisbrod, Christian und einige damit im Zusammenhang stehende Fragen
Am 6.10.1965 fand auf Wunsch der Intendantin des »Berliner Ensembles« Prof. Helene Weigel1 zwischen ihr und einem Mitarbeiter des MfS ein Gespräch statt, zu dem ferner die Dramaturgin Isot Kilian,2 die Schauspielerin Uta Birnbaum,3 der Verwaltungsdirektor Giersch und später auch der Schriftsteller Baierl,4 Chefregisseur Wekwerth5 und der stellvertretende Minister für Kultur, Bork,6 anwesend waren.
In diesem Gespräch machte die Intendantin dem Mitarbeiter des MfS in sehr erregter und abkanzelnder Form Vorwürfe, warum das »Berliner Ensemble« von der Entlassung des am 2.10.1965 durch Selbstmord verstorbenen Weisbrod (aus dem Aufnahmelager Berlin-Blankenfelde) nicht informiert worden wäre, obwohl darum gebeten worden sei. Dadurch seien politisch schädliche Auswirkungen entstanden und sie möchte wissen, was sie dem Ensemble auf der am 6.10.1965 stattfindenden Vollversammlung über das Ableben des W. mitteilen soll. Der sinngemäße Inhalt ihrer Äußerungen war, dass sie indirekt den Untersuchungsorganen die Schuld daran gab, dass nun keine politische Auswertung dieser Angelegenheit möglich sei.
Diese Linie vertrat auch der stellvertretende Minister für Kultur Bork. Er wies darauf hin, dass man die Absicht hatte, nach der Entlassung des W. eine Pressekampagne mit ihm durchzuführen, was durch diese Entwicklung nicht mehr möglich sei und man wisse nicht, wie in der Presse reagiert werden sollte.
Die Intendantin Prof. Helene Weigel betonte in diesem Zusammenhang immer wieder, dass sie der Angelegenheit nachgehen und nicht »locker lassen« werde. (Wie dem MfS bekannt wurde, will sie in dieser Sache am 1.11.1965 im ZK beim Genossen Wagner7 vorsprechen).
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich das MfS in die Bearbeitung des Falles, die in Form eines Ermittlungsverfahrens wegen Republikflucht von der Volkspolizeiinspektion Mitte erfolgte, noch nicht unmittelbar eingeschaltet. Der Mitarbeiter des MfS, mit dem die Intendantin sprach, wies selbst darauf hin, dass dem MfS von einer Bitte um Benachrichtigung bei Entlassung des W. nichts bekannt ist. Wie Prof. Helene Weigel äußerte, soll diese Bitte an zwei Mitarbeiter der Kripo herangetragen worden sein, als die dienstlich im Fall Weisbrod im »Berliner Ensemble« weilten. Die Nachforschungen des MfS ergaben, dass dies nach Angaben dieser beiden Mitarbeiter der Kripo jedoch nicht der Fall war, sondern im Gegenteil die Angehörigen der Kripo baten, nach Entlassung des W. eine Auswertung des Falles im Kollektiv der Schauspieler durchführen zu können. Außerdem hatte Weisbrod einen Brief aus Köln an Prof. Helene Weigel geschickt, in dem er u. a. mitteilte, dass er nicht mehr an ihrem Theater arbeiten möchte.
Die vom MfS in der Folgezeit geführten Untersuchungen zum Sachverhalt ergaben:
Christian Weisbrod, geb. [Tag Monat] 1939, kam 1963 zum »Berliner Ensemble«, nachdem er von 1958 bis 1961 die Schauspielschule Berlin besucht hatte und nach der staatlichen Abschlussprüfung bis 1963 am Landestheater Zwickau tätig war. Im »Berliner Ensemble« bekam er kleinere Rollen übertragen und bezog ein Gehalt von ca. 600 bis 700 MDN. Seine schauspielerischen Leistungen wurden als nicht besonders stark eingeschätzt und es wurde vom »Berliner Ensemble« erwogen, den Vertrag, der für das Jahr 1965/66 abgeschlossen war, eventuell nicht mehr zu erneuern. Weisbrod trat in politischer Hinsicht nicht in Erscheinung, weder positiv noch negativ. Charakterlich wird er als unausgeglichen und zwiespältig eingeschätzt. Nach übereinstimmenden Auskünften galt W. als sensibel, leicht beeinflussbar, grüblerisch und kontaktarm und deshalb auch als Außenseiter im »Berliner Ensemble«, der fast keine näheren Bindungen zu anderen Schauspielern hatte, bzw. waren sie nie von längerer Dauer. Auch seine Beziehungen zum anderen Geschlecht sind für seine Charakterisierung aufschlussreich. Er unterhielt eine größere Anzahl intimer Verhältnisse besonders zu älteren, z. T. beträchtlich älteren Frauen.
In der Zeit vom 8.8. bis 29.8.1965 weilte W. mit dem »Berliner Ensemble« zum Gastspiel in London.
Am 29.8.1965, kurz vor der Bus-Abfahrt zum Londoner Flughafen, verließ W. die mit ihm wartenden Ensemble-Mitglieder und flüchtete in eine bereits wartende Taxe, mit der er zur westdeutschen Botschaft gebracht wurde. Dort erhielt er einen westdeutschen Reisepass. Diese Flucht war erwiesenermaßen vorher exakt organisiert worden, und zwar durch den Halbbruder des W., [Vorname Name 1], wohnhaft in Porz-Urbach bei Köln. (Es gibt keine Anhaltspunkte, dass an dieser Flucht feindliche Organisationen oder Dienststellen mitwirkten.)
[Name 1] hat den W. während seines Gastspiels in London mehrere Male besucht und ihn ständig zur Republikflucht aufgefordert. W., dessen Mutter in Westberlin wohnhaft ist, hatte diesen Gedanken auch schon vorher selbst gehabt, besonders seit er von dem bevorstehenden Gastspiel in London wusste, aber sei sich über den Entschluss zur Republikflucht nicht richtig klar geworden. Auch in den später erfolgten Untersuchungen konnte kein klar erkennbarer Grund dafür festgestellt werden. Erst nach dem Drängen seines Halbbruders hatte er dann am letzten Tag in London das Ensemble verlassen.
Sein Halbbruder [Vorname Name 1] brachte ihn auch mit der Taxe zur westdeutschen Botschaft in London, überbrachte an die Intendantin Prof. Helene Weigel die Nachricht, dass W. nicht wieder in die DDR zurückkehre und finanzierte den Flug Weisbrods von London nach Köln.
Außerdem nutzte [Name 1] die Organisierung dieser Flucht aus, um der westdeutschen Illustrierten »Quick« eine Fotoreportage dazu zu ermöglichen.8
W. wohnte anschließend bei [Name 1]. Von dort aus nahm er Verbindung mit dem ehemals 1961 republikflüchtig gewordenen Mitarbeiter des »Berliner Ensembles«, [Vorname Name 2], auf, der jetzt Theaterintendant in Wuppertal ist, in der Hoffnung, durch ihn ein Engagement zu bekommen. Inwieweit es dort zu konkreten Vereinbarungen gekommen ist, steht nicht fest, jedoch will Weisbrod in längeren Gesprächen mit [Name 2] erkannt haben, dass er in Westdeutschland künstlerisch nicht arbeiten könne. Offensichtlich unter diesem Eindruck schrieb er einen Brief an Prof. Helene Weigel, in dem er seine Republikflucht bereut. (Der Brief ist abschriftlich als Anlage beigefügt).
Am 7.9.1965 kehrte Weisbrod über Marienborn in die DDR zurück. Er wurde zunächst bis 9.9.1965 im Rückkehrerlager Barby untergebracht und dann in das Aufnahmeheim Berlin-Blankenburg überführt. Nach den ersten Befragungen wurde in Absprache mit Genossen Blecha9 entschieden, auf eine pressemäßige Auswertung seines Aufenthaltes in Westdeutschland und seiner Rückkehr aufgrund seiner insgesamt unklaren Haltung zu verzichten.
Über seinen Aufenthalt im Aufnahmelager Blankenfelde wurden in der Untersuchung folgende Hinweise bekannt:
Weder von offizieller Seite der Leitung des Heimes noch von den Bewohnern des Heimes, mit denen Weisbrod unmittelbar in Berührung kam, wurden Hinweise festgestellt, dass W. in irgendeiner Form mit dem Leben oder mit der Behandlung im Heim unzufrieden war. Es wurde im Gegenteil übereinstimmend festgestellt, dass sich W. dort den Umständen entsprechend wohlfühlte. Nach Angaben des Kulturleiters beteiligte er sich fleißig an allen Arbeiten und verhielt sich ruhig und korrekt. Auch die mit ihm befreundete [Vorname Name 3], die er nach seiner Entlassung aufsuchte, erklärte, dass sich W. nur positiv über seinen Aufenthalt im Heim geäußert habe und dass ihm besonders das geregelte Leben dort gefallen habe.
W. wurde auch keinen über den üblichen Rahmen hinausgehenden Befragungen unterzogen, sodass mit Sicherheit feststeht, dass die Beweggründe für seinen Selbstmord nicht im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt im Heim Blankenfelde zu sehen sind. Trotzdem hat W., wie die Untersuchungen ergaben, bereits im Heim Blankenfelde wiederholt Selbstmordgedanken geäußert. Er machte diese Äußerungen den wenigen mit ihm unmittelbar in Berührung kommenden Personen gegenüber, ohne dass dies der Leitung des Lagers, der VP oder dem MfS mitgeteilt wurde.
Aufgrund der Tatsache, dass W. im Heim sehr zurückhaltend und verschlossen war, viel grübelte und mitunter wie geistesabwesend wirkte, nahmen diese Personen an, dieses Verhalten sei eine charakterliche Eigenschaft von ihm, die mit seinem Schauspielerberuf zusammenhänge. So wurde er hinter seinem Rücken als Mime, Hans Albers,10 u. Ä. bezeichnet und diese Personen betrachteten ihn als »Spinner«. Seine Selbstmordandeutungen wurden deshalb von diesen Personen auch nicht ernst genommen und als »Spinnerei« abgetan, wobei sie scherzhafterweise sogar noch mitberieten, welche Möglichkeiten zum Selbstmord es gebe. So wurde z. B. von Selbstmord durch Erhängen, Vergiften, Ätzen mit Säure, Einspritzen von Luft in die Vene, Pulsadern öffnen usw. gesprochen. W. zeigte z. B. auch dem auf seinem Zimmer mit liegenden [Vorname Name 4], wie man sich mit einem an das Bett geknüpften Leibriemen das Leben nehmen könne. Als er einem Mitbewohner gegenüber bemerkte, »heute Abend vergifte ich mich«, antwortete dieser z. B. im Scherz, dass er seine Lederjacke gebrauchen könne. Daraufhin verfasste W. sofort eine Art Testament darüber. Ebenfalls war die Rede von [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] als Mittel zum Vergiften. W. zeigte dem [Name 4] einmal ein mit einem mehrfarbigen Etikett beschriftetes Röhrchen, auf dessen Verschluss sich ein Totenkopfzeichen befand, mit dem Bemerken, er habe immer ein Mittel, seinem Leben ein Ende zu bereiten. (Wie die Überprüfungen ergaben, muss sich W. dieses – wie sich später herausstellte tatsächliche – Gift bereits in Westdeutschland besorgt haben, was darauf hinweist, dass er u. U. schon dort Selbstmord verüben wollte.)
Wie aus den Aussagen dieser Personen hervorgeht, hat W. keine konkreten Ursachen oder Beweggründe für seine, von ihnen nicht ernst genommenen Selbstmordabsichten genannt, sondern immer nur durchblicken lassen, dass er mit seiner Republikflucht, dem Verlassen des Ensembles, den Erfahrungen in Westdeutschland nicht fertig werde und Angst habe, den Fragen seiner Arbeitskollegen nicht ausweichen zu können, Rede und Antwort stehen zu müssen und vielleicht nicht mehr seine frühere Tätigkeit ausüben zu können. So wurde auch am Tage seiner Entlassung aus dem Aufnahmeheim ein gewisser Angstzustand festgestellt und W. erklärte, dass er lieber im Aufnahmeheim bleiben würde. Er habe sich zwischenzeitlich eingelebt und wisse nicht, was ihn draußen alles erwartet.
Aufgrund seines gesamten Verhaltens wurden alle diese Gespräche und Hinweise von keiner der mit ihm zusammengekommenen Personen ernst genommen.
W., dem durch die VP mitgeteilt wurde, dass er wieder im »Berliner Ensemble« aufgenommen werde, wurde am 1.10.1965 entlassen.
Nach den bisherigen Ermittlungen hat sich W. nach seiner Entlassung nicht bei einer VP-Dienststelle gemeldet. Er hat weder seine Wohnung noch seinen in Berlin-Treptow wohnhaften Vater oder das »Berliner Ensemble« aufgesucht, sondern seinen Koffer in einem Gepäckaufbewahrungskasten am Bahnhof Alexanderplatz hinterlegt und sich gegen 17.00 Uhr zu seiner Freundin [Vorname Name 3], 43 Jahre alt, wohnhaft Berlin-Treptow, [Straße Nr.], begeben. (Wie er ihr gegenüber angab, sei er vorher noch ziellos in Berlin umhergeirrt und habe mindestens zehn Mokka getrunken.) W. hatte bis zum Frühjahr zu dieser Frau ein intimes Verhältnis und war auch anschließend noch mit ihr befreundet. Als die [Name 3] gegen 19.00 Uhr nach Hause kam, erklärte ihr W., dass er in der Marienkirche in Berlin – er wolle unbedingt in einer Kirche sterben – das [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] zu sich genommen habe und aus dem Leben scheiden wolle. Da W. auch der [Name 3] gegenüber bereits seit etwa Ende 1964 wiederholt Andeutungen über einen Selbstmord gemacht hatte, nahm auch sie seine Erklärung nicht für ernst, zumal sie keinerlei Symptome einer Vergiftung feststellen konnte und er auch die Konsultierung eines Arztes ablehnte. Ferner sagte er ihr, dass er bereits im Aufnahmeheim Blankenfelde einen Selbstmordversuch durch Erhängen unternommen habe.
W. erklärte der [Name 3] auf ihre Frage, dass das Gift [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] aus Westdeutschland stamme und von einem westdeutschen Kriminellen aus einer Gärtnerei beschafft worden sei. In dem anschließenden nicht sehr regen Gespräch äußerte sich W. über sein Verlassen der DDR und seinen Aufenthalt in Westdeutschland nur kurz über die bereits in diesem Bericht erwähnten Fakten, ohne dass er konkrete Angaben über die Beweggründe seines Selbstmordes machte. Er erklärte lediglich, dass er wegen seines Verhaltens von verschiedenen Mitarbeitern des »Berliner Ensembles« ausgelacht werden würde und auch Vorwürfe bekäme, weshalb er überhaupt wieder in die DDR zurückgekommen sei. Personen nannte er in diesem Zusammenhang nicht.
W. übernachtete bei der [Name 3], die am anderen Morgen, ehe sie gegen 7.00 Uhr zur Arbeit ging, in der Manteltasche des W. ein Metallröhrchen feststellte, in dem sich Reste eines gelben Pulvers befanden. Da sie jetzt an einen Selbstmordversuch glaubte, nahm sie dieses Röhrchen an sich. Sie sah jedoch keine Veranlassung, einen Arzt zu verständigen, weil nach wie vor bei W. keine Vergiftungsanzeichen festzustellen waren und seit der Zeit seiner Anwesenheit ca. 14 Stunden vergangen waren. Daraufhin hat [Name 3] die Wohnung verlassen und W. nicht wieder gesehen.
Am 2.10.1965, gegen 13.20 Uhr, wurde die Leiche des W. in der Marienkirche aufgefunden. Neben der Leiche lag eine Flasche mit [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]. Außerdem besaß er neben anderen persönlichen Gegenständen eine leere Schachtel [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]. Auch die chemische Untersuchung des Inhalts des von der [Name 3] sichergestellten Metallröhrchens (Deklaration: [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]) ergab, dass in dem Röhrchen mit ziemlicher Sicherheit Reste von [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] enthalten waren, die in dem durch die Deklaration ausgewiesenen Präparat nicht vorkommen und nachträglich eingefüllt worden sein mussten.
Bei der Sektion der Leiche durch das gerichtsmedizinische Institut der Humboldt-Universität wurden typische Zeichen einer [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]-Vergiftung festgestellt.
W. hinterließ eine Karte an [Vorname Name 4], mit dem er im Aufnahmelager zusammenwohnte, und bat ihn, Weisbrods Angehörigen zu schreiben und sie zu besuchen. Auf einer Zigarettenschachtel »Orient« hatte er Abschiedsworte an die [Name 3] geschrieben. Beide Nachrichten wurden in der Marienkirche bei der Leiche gefunden. In seinem sichergestellten Koffer war nochmals ein Zettel mit Abschiedsworten an die [Name 3] und ein neutraler Zettel »Begreife den Unsinn der Zeiten wer da will, und das Grauen und die Enge«.
Außerdem befand sich im Koffer das bereits erwähnte Testament aus dem Aufnahmeheim mit folgendem Text:
»Testament Christian Weisbrod
Meine Sachen nach meinem Tode an Fam. [Name 5].
Das restliche Geld bekommt Herr [Name 4] aus meinem Zimmer.
Christian Weisbrod, Blankenfelde«
Im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen wurde festgestellt, dass in letzter Zeit bereits zwei Angehörige des »Berliner Ensembles« Selbstmord verübten.
Am 19.3.1965 vergiftete sich der Maskenbildner im »Berliner Ensemble«, [Vorname Name 6], geb. [Tag, Monat] 1937, in seiner Wohnung, Berlin C 2, [Straße, Nr.], durch Leuchtgas. [Name 6] war seit Dezember 1964 mit der Schnittmeisterassistentin der DEFA [Vorname], geb. [Name 7], verheiratet, beide richteten sich gemeinsam ihre Wohnung ein und es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass der Selbstmord auf familiäre Verhältnisse zurückzuführen wäre. Als mögliches Motiv können nach Äußerungen seiner Mutter, [Vorname Name 8], Berlin C 2, [Straße Nr.], und teilweise auch seiner Ehefrau, nur folgende Umstände in Betracht kommen:
[Name 6] hatte sich am Tage vor seinem Selbstmord seiner Mutter anvertraut, dass er in seinem Beruf als Maskenbildner zzt. große Schwierigkeiten habe. Es wäre ihm nicht gelungen, eine ganz bestimmte Maske für einen Schauspieler des »Berliner Ensembles« richtig anzufertigen. Durch dieses Unvermögen hätte er sich bereits bei seinen Kollegen und sogar bei den Lehrlingen lächerlich gemacht. Die Kollegen würden ihn ständig von der Seite ansehen und der Schauspieler, für den er die Maske anfertigen sollte, würde ihn nicht mehr beachten. [Name 6] war bei dieser Aussprache sehr nervös und weinte.
[Name 6] wird als sensibler Charakter eingeschätzt, der seine Arbeit liebte und sich alles sehr zu Herzen nahm.
Am 19.10.1965 wurde die Pianistin beim »Berliner Ensemble«, [Vorname Name 9], geb. [Tag, Monat] 1929, zusammen mit ihrem 8-jährigen Sohn [Vorname] gasvergiftet in ihrer Wohnung Berlin-Lichtenberg, [Straße, Nr.], aufgefunden, und der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Aus dem von der [Name 9] hinterlassenen Brief, insbesondere aus dem Abschiedsbrief, geht eindeutig hervor, dass das Motiv ihres Selbstmordes im Verhältnis zu dem Schauspieler des »Berliner Ensembles« Siegfried Kilian11 liegt. Sie hatte seit längerer Zeit mit Kilian, der verheiratet ist und ein Kind hat, ein intimes Verhältnis. Kilian hatte ihr die Heirat versprochen und ihr erklärt, er werde sich von seiner Frau scheiden lassen. Dadurch hat sich die [Name 9] vertrösten lassen, bis in einer Aussprache am 17.10.1965 Kilian ihr mitteilte, er werde sich nicht scheiden lassen. Aus diesem Grunde schied die [Name 9] aus dem Leben.
Die Häufung dieser Selbstmorde von Angehörigen des »Berliner Ensembles« und die Untersuchung der Ursachen und Motive weisen darauf hin, dass neben den persönlichen Momenten und Beweggründen – die zweifellos die entscheidende Rolle spielten – auch die Situation am »Berliner Ensemble« selbst gesehen werden muss. Es ist offensichtlich, dass die Selbstmord verübenden Personen dort nicht das Kollektiv fanden, das sie zur Überwindung ihrer persönlichen Schwierigkeiten gebraucht hätten.