Selbstmord eines FDGB-Funktionärs in Rathenow
1. Mai 1965
Einzelinformation Nr. 409/65 über den Selbstmord eines FDGB-Kreisfunktionärs aus Rathenow
Am 1.5.1965, 0.58 Uhr, wurde auf dem Gleisbett des S-Bahnhofes Warschauer Straße die Leiche des [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1927, wohnhaft Rathenow, [Straße Nr.], tätig beim FDGB-Kreisvorstand Rathenow – Kreissekretär der IG Nahrung/Genuss, aufgefunden. Nach bisherigen Feststellungen wurde [Name 1] vom S-Bahnzug PS 8815 um 0.48 Uhr überfahren, ohne dass dieser Vorfall – nach Aussagen des Fahrpersonals – von der Zugbesatzung bemerkt wurde. Nachdem der Zug aus dem Verkehr gezogen worden war, wurden lediglich eine Blecheinbeulung und einige Blutspritzer festgestellt. Der Tote wurde erst vom Fahrpersonal des nachfolgenden S-Bahnzuges, der 0.58 Uhr den Bahnhof passierte, bemerkt. Durch sofortiges Schnellbremsen kam der Zug etwa 5 m vor dem Toten zum Stehen.
Bei [Name 1] gefundene gelochte S-Bahnkarten lassen darauf schließen, dass er vor seinem Selbstmord ziellos in Berlin herumirrte. Aufgrund vorausgegangener Selbstmordversuche und seines längeren Ausbleibens hatte seine Ehefrau bereits die VP verständigt, die nach [Name 1] suchte. Die Leiche wurde in das Kriminaltechnische Institut Berlin überführt. Die Transportpolizei/Abt. K hat die Ermittlungen fortgesetzt.
Bei dem Toten wurde – neben Ausweispapieren, u. a. das Parteidokument – eine Art Abschiedsbrief (unvollständige Sätze auf der Rückseite eines Rezepts) folgenden Inhalts gefunden:
»Liebe Angehörige!
Verzeiht mir, aber ich hielt es nicht mehr aus. Ich habe versucht, alles ist überwunden, aber es ist mir nicht gelungen. Seid Ihr bitte stärker als ich und ich habe Euch alle geliebt bis zur letzten Stunde.
Euer [Vorname]«.
Bei Angehörigen von [Name 1] (Ehefrau noch nicht ansprechbar) und bei FDGB-Funktionären durchgeführte Ermittlungen ergaben bis jetzt Folgendes:
[Name 1] hatte eine schwere Magenoperation überstanden und litt seit dieser Zeit an Depressionen. Er hatte bereits zwei Selbstmordversuche unternommen. Der letzte Selbstmordversuch am zweiten Ostertag konnte von seiner Ehefrau verhindert werden. Wie weiter berichtet wird, führten der 1. und 2. FDGB-Kreisvorsitzende nach Ostern mit [Name 1] eine Aussprache, bei welcher im beiderseitigen Einvernehmen festgelegt worden sei, [Name 1] von seiner Gewerkschaftsfunktion zu entbinden und ihn in seiner alten Arbeitsstelle (GHG Brillenoptik) wieder einzusetzen.
[Name 1] war Sekretär der SED-Grundorganisation im FDGB-Kreisvorstand Rathenow. Seine politische und fachliche Arbeit wurden als gut eingeschätzt. Weitere Einzelheiten über das Motiv des Selbstmordes sind bis jetzt noch nicht bekannt.