Selbstmord eines Oberschülers
30. April 1965
Einzelinformation Nr. 405/65 über einen Selbstmord eines Oberschülers aus Lichtentanne, [Kreis] Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, am 21. April 1965
Am 21.4.1965 verübte der Oberschüler [Name 1, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1948 in Lichtentanne, wohnhaft Lichtentanne, [Straße Nr.], Selbstmord durch Erhängen.
Die durch das MfS in Zusammenarbeit mit anderen Organen eingeleiteten Ermittlungen zur Klärung der Motive hatten folgendes Ergebnis: Durch einen ABV-Helfer wurde dem [Name 1] am 18.4.1965 eine selbstgefertigte KK-Pistole abgenommen. Über den Verwendungszweck machte [Name 1] jedoch keine konkreten Angaben.
Aufgrund der weiteren Ermittlungen wurde festgestellt, dass [Name 1] etwa Mitte März 1965 von dem [Name 2, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1948 in Wildenfels, wohnhaft Zwickau, [Straße Nr.], Schüler der Pestalozzischule Zwickau, Kl. 10 a, die selbstgefertigte KK-Pistole für 60,00 MDN gekauft hatte. Beim Kauf wurde durch Abgabe von drei Schuss KK-Patronen die Funktionstüchtigkeit der Waffe geprüft.
[Name 1] habe gegenüber [Name 2] angegeben, die Waffe für einen Grenzdurchbruch nach Westdeutschland zu benötigen. [Name 1] deutete dabei an, dass ihn ein in Frankfurt/M. lebender Onkel, der sich im März 1965 besuchsweise in Zwickau aufhielt, beim Verlassen der DDR und in Westdeutschland unterstützen werde. [Name 1] lebte zum Zeitpunkt des Selbstmordes bei seiner Großmutter, da sich bei seinen Eltern die Eheverhältnisse kompliziert hatten.
Bei einer Haussuchung wurden bei dem erwähnten [Name 2]
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1 Pistole,
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1 KK-Gewehr,
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1 Vorderlader und
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3 Pistolenläufe sichergestellt.
Nach eigenen Angaben will er diese Waffen während seiner Berufsausbildung (Dreharbeiten) im VEB Sachsenring Zwickau angefertigt haben.
Die Griffteile der Waffen wurden bei einem Tischlergehilfen [Name 3, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1947, tätig in elterlicher Werkstatt, angefertigt. Auch bei dem [Name 3] wurde ein Trommelrevolver (ca. 8 mm) sichergestellt.
Eine weitere von [Name 2] selbstgefertigte Pistole wurde bei einem 16-jährigen Schüler aus Zwickau sichergestellt. [Name 2] hatte diese Waffe gegen ein Fallschirmklapp-Messer im November 1964 getauscht. Das Elternhaus des [Name 2] wird als sehr fortschrittlich bezeichnet. Der Vater, Mitglied der SED, ist Betriebsleiter des VEB Kohlehandel Zwickau. [Name 2] befindet sich gegenwärtig in Untersuchungshaft.
Im Zusammenhang mit dem Selbstmord des Schülers [Name 1] muss außerdem auf eine Reihe ähnlicher Vorkommnisse im Bezirk Karl-Marx-Stadt hingewiesen werden. Seit September 1964 (bis Januar 1965) haben drei Schüler Selbstmord begangen und drei weitere Schüler Selbstmordversuche unternommen, wobei oftmals mangelndes Vertrauen der Schüler zu ihren Erziehern (Eltern und Lehrern) als Motive für diese Handlungen festgestellt wurden.
Beispielsweise verübte der 14-jährige Schüler [Name 4, Vorname], Hainichen, [Straße Nr.], Sohn des Hausmeisters der Oberschule II Hainichen, Selbstmord, nachdem im Elternhaus Auseinandersetzungen wegen schwacher schulischer Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern stattfanden.
Bei den Ermittlungen der Ursachen wurden offensichtlich Mängel in der schulischen Leitungstätigkeit erkannt, die u. a. auch dazu führten, dass ein Teil der Lehrerschaft nicht mit der erforderlichen Sorgfalt die individuellen Fähigkeiten und Belange einzelner Schüler im Lehr- und Lernprozess beachtete und berücksichtigte.
Aus dem gleichen Motiv verübte ein 16-jähriger Schüler aus Karl-Marx-Stadt Selbstmord. Der Lehrer informierte schriftlich die Eltern über schlechte Leistungen in der Schule und das Elternhaus warf dem Jungen ebenfalls ständig diese schlechten Leistungen vor. Sie unterließen es aber, sich gemeinsam über die Ursachen der schlechten Leistungen zu beraten. Außerdem berücksichtigten weder Elternhaus noch Schule die Mentalität des Schülers, der bereits 1961 aus ähnlichem Grund einen Selbstmordversuch unternahm.
Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich am 25.1.1965, an dem sich ein Schüler der 7. Klasse der Oberschule Mohnsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erhängte, weil er eine zweite schriftliche Mitteilung des Lehrers über unerledigte Hausaufgaben – eine erste hatte er bereits unterschlagen – mitbekam.
Gleichfalls wird darauf hingewiesen, dass auch der von [Name 1] beabsichtigte Grenzdurchbruch keinen Einzelfall darstellt. Allein in den Monaten Oktober 1964 bis Januar 1965 versuchten 32 Schüler aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt, meist im Alter von 14 bis 16 Jahren und zum Teil in Gruppen, die Grenze nach Westdeutschland zu durchbrechen.
Auch hier war zu einem beträchtlichen Teil festzustellen, dass diese Schüler Schwierigkeiten in der Schule hatten und schlechte Noten aufwiesen. In verschiedenen Fällen wurden als Motiv auch Unstimmigkeiten im Elternhaus und Abenteuerlust festgestellt. Fast allen gemeinsam war aber die durch Abhören der westdeutschen Rundfunk- und Fernsehsendungen erfolgte Beeinflussung und die zum größten Teil daraus entstandene Vorstellung, in Westdeutschland »besser« leben zu können. Über die Sendungen des westdeutschen Fernsehens und Rundfunks wird von den Jugendlichen in den Schulen teilweise offen diskutiert. Es gibt unter ihnen eine Reihe Bestrebungen, Kontakte nach Westdeutschland herzustellen, z. B. in Form von Autogramm-, Foto- und Geschenkwünschen. Dabei wird oftmals in negierender und abwertender Weise über die DDR gesprochen und geschrieben.
Wie in mehreren Untersuchungen festgestellt wurde, setzen sich in vielen Fällen die Erzieher und die gesellschaftlichen Organisationen in den Einrichtungen des Volksbildungswesens (Verband der Jungen Pioniere und die FDJ) mit diesen Erscheinungen ungenügend auseinander. Es gibt im Gegenteil Beispiele dafür, dass selbst Lehrer offen über die Sendungen des Westens diskutieren und vereinzelt im Unterricht auswerten.
Der Lehrer [Name 5] von der Berufsschule in Werdau diskutierte offen in der Klasse Programme des Westfernsehens zu Fragen der Landwirtschaft und negiert die sozialistische Entwicklung auf dem Lande in der DDR.
Der Direktor [Name 6] der Erwin-Hartzsch-Oberschule in Neukirchen und die Lehrer [Name 7] und [Name 8] von der gleichen Schule erklärten, dass sie sich bei besonderen Anlässen durch das Abhören von westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen informieren, weil sie durch die Sender der DDR ungenügend informiert würden.
Im Oktober 1964 wurde der Direktor der Allgemeinen Berufsschule Markneukirchen, Krs. Klingenthal, [Vorname Name 9], wegen Feindtätigkeit für das SPD-Ostbüro1 vom MfS inhaftiert. Seine Feindtätigkeit bestand neben der Durchführung von Spionage und dem Verleiten zum Verlassen der DDR vor allem in einer intensiven ideologischen Zersetzungstätigkeit. In Gesprächen mit Schülern und Erziehern negierte er die Politik der SED und forderte eine »weichere Linie«.
Der Mittelstufenlehrer [Name 10, Vorname], von der Oberschule in Burkhardtsdorf, wurde beim Versuch, die DDR illegal zu verlassen, festgenommen und inhaftiert.
Der Lehrer [Name 11, Vorname], tätig an der Pestalozzi-Oberschule in Schneeberg, wurde wegen illegalen Waffenbesitzes straffällig.
Durch diese Erscheinungen und durch den Widerspruch zwischen den in Staatsbürgerkunde2 gelehrten Problemen und der praktischen Haltung mancher Erzieher wird für viele Schüler die Schaffung politisch-ideologischer Klarheit und besonders das Erkennen des Charakters der beiden deutschen Staaten erschwert.