Tätliche Ausschreitungen auf einer Baustelle im Bezirk Schwerin
22. November 1965
Einzelinformation Nr. 1045/65 über tätliche Ausschreitungen von Bauarbeitern in Brüel, Krs. Sternberg, [Bezirk] Schwerin, am 14./15. November 1965
Am 14./15.11.1965, in der Zeit zwischen 23.00 Uhr und 2.00 Uhr, kam es in Brüel, Krs. Sternberg, [Bezirk] Schwerin, zu Gewalttätigkeiten von Bauarbeitern des Meisterbereichs [Name 1] vom VEB Spezialbaukombinat Magdeburg, Beton- und Kühlturmbau-Gleitbau Leipzig, gegenüber Angehörigen der DVP, freiwilligen Helfern der VP und Ortseinwohnern.
Die Gewalttätigkeiten waren mit Widerstand gegen die Staatsgewalt, Aufruhr und staatsverleumderischen Äußerungen verbunden. An den Ausschreitungen waren ca. 25–35 Arbeiter des o. g. Betriebes und ca. 15–20 Ortseinwohner beteiligt.
Im Ergebnis der eingeleiteten Untersuchungen wurden am 15.11. und 16.11.1965 insgesamt acht der aktivsten Teilnehmer und Rädelsführer aus dem Meisterbereich [Name 1] durch das MfS inhaftiert.
Gegen alle inhaftierten Beteiligten wurde ein EV mit Haft nach § 113 (Widerstand gegen die Staatsgewalt), § 115 (Aufruhr), § 125 (Landfriedensbruch) und § 223 a (Gefährliche Körperverletzung) StGB und § 20 StEG (Staatsverleumdung) eingeleitet.
Die Untersuchungen ergaben nachstehenden Sachverhalt:
Zur Realisierung des Staatsplanvorhabens – Bau eines 6000 t Getreidesilos – werden seit längerer Zeit Bauarbeiter verschiedener Spezialbaufirmen zeitweise in Brüel eingesetzt. Eine Verstärkung der Arbeitskräfte erfolgte am 2.11.1965 durch 28 Bauarbeiter des Meisterbereichs [Name 1] vom Spezialbaukombinat Magdeburg – Beton- und Kühlturmbau-Gleitbau Leipzig. Seit dem Eintreffen dieser Bauarbeiter gab es in Brüel und Umgebung wiederholt Ausschreitungen gegen die Bevölkerung und gegen die geordnete Tätigkeit staatlicher Organe und Einrichtungen, so u. a. am:
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3.11.1965 – Belästigung verschiedener Bürger in verschiedenen Gaststätten und auf Straßen;
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6.11.1965 – neun Bauarbeiter dringen in die Räume des Gruppenpostens der VP ein, nachdem ein Bauarbeiter wegen rowdyhaften Verhaltens zugeführt worden war;
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13.11.1965 – Ausschreitungen gegen Zivilpersonen im Stadtgebiet;
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Störung des Schulunterrichts durch Eindringen in Klassenräume und Aufforderung an die Schüler, sich nach Hause zu begeben;
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Zerstörung eines Teiles der Inneneinrichtung in der Gaststätte »Mecklenburger Hof« und Belästigung von Gästen;
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14.11.1965 – Schlägereien in verschiedenen Gaststätten in Brüel und Umgebung.
Außerdem wurden fortgesetzt Bürger bzw. Frauen belästigt, Ortseinwohner zu tätlichen Auseinandersetzungen provoziert, grober Unfug betrieben und öffentliches Ärgernis erregt.
Bei Gaststättenbesuchen führten diese Bauarbeiter Pickhammer mit und schlugen damit Einrichtungsgegenstände entzwei.
Am 14.11.1965, als die Bauarbeiter des Meisterbreichs [Name 1] infolge des plötzlichen Frosteinbruchs ihre Arbeit nicht aufnehmen konnten, beschloss ein Teil der Bauarbeiter, eine um 20.00 Uhr beginnende Kinoveranstaltung zu besuchen. Von einigen der später Inhaftierten wurde außerdem festgelegt, im Verlauf des Sonntagabends in Brüel eine Provokation zu inszenieren, um Einwohner von Brüel in eine Schlägerei zu verwickeln.
Nach diesen Absprachen begab sich der größte Teil der Bauarbeiter, unter denen sich alle später Inhaftierten befanden, in das Stadtgebiet von Brüel und suchten verschiedene Gaststätten auf. Bei den Gaststättenbesuchen kam es bereits zu rowdyhaften Handlungen. Der überwiegende Teil der Bauarbeiter besuchte dann um 20.00 Uhr die Kinoveranstaltung.
Der später inhaftierte [Name 2] führte ein feststehendes Messer mit einer 15 cm langen Klinge mit sich und der ebenfalls später festgenommene [Name 3] war im Besitz eines 50 cm langen Gummivierkants im ∅ von 3,5 cm.
Da der ABV des Ortes über die rowdyhaften Handlungen der Bauarbeiter am 14.11.1965 informiert worden war und mit weiteren Provokationen während der Filmvorführung rechnete, verständigte er zunächst den Diensthabenden des VPKA Sternberg. Der Amtsleiter des VPKA Sternberg, Major Drawan, wies an, der ABV solle mithilfe aller in Brüel wohnhaften Angehörigen des VPKA und allen freiwilligen VP-Helfern von Brüel für Ruhe und Ordnung sorgen.
Gegen 20.00 Uhr waren sechs VP-Angehörige und drei freiwillige VP-Helfer im Einsatz, die die Gaststätten und die Kinoveranstaltung unter Kontrolle hielten.
Während der Filmvorführung riefen die Bauarbeiter zeitweilige Störungen durch abwertende Bemerkungen über Erzeugnisse der volkseigenen Industrie und Ausrufe, dass vor dem Kino »die Bullen« warten, hervor. Nach Abschluss der Filmveranstaltung begaben sich die Bauarbeiter in die Gaststätte des Jugendclubhauses Brüel, wo sie bis zum Gaststättenschluss – gegen 23.00 Uhr – verblieben.
Während des Gaststättenaufenthalts machte der inzwischen inhaftierte Bauarbeiter [Name 2] weitere Äußerungen über die geplante Provokation und über die beabsichtigte Schlägerei und zeigte dabei sein 15 cm langes Messer vor. Er bedrohte einen anwesenden Gast mit dem Messer und äußerte dabei, er werde ihm den Kopf abschneiden.
In dieser Zeit hielten sich die VP-Angehörigen vor der Gaststätte des Jugendclubs auf.
Kurz nach 23.00 Uhr verständigte der Gaststättenleiter des Jugendclubs den ABV davon, dass die Bauarbeiter die Gaststätte nicht verlassen wollten und weiterhin den Ausschank alkoholischer Getränke verlangten.
Die VP-Angehörigen forderten die Bauarbeiter auf, die Gaststätte sofort zu verlassen, was nach einer kurzen Auseinandersetzung auch erfolgte.
Als der erwähnte Bauarbeiter [Name 2] vor der Gaststätte erschien, nahmen ihm VP-Ltn. Müller und ein weiterer VP-Angehöriger das feststehende Messer ab. [Name 2] leistete dabei Widerstand, weshalb Ltn. Müller versuchte, den Schlagstock anzuwenden. Er wurde daran von den Bauarbeitern [Name 4] und [Name 3] gehindert, und [Name 2] nutzte dieses Handgemenge aus, um nunmehr auf Ltn. Müller einzuschlagen. Daraufhin schlugen VP-Angehörige und die freiwilligen Helfer [Name 2] zu Boden. Diese Tatsache wurde von den Bauarbeitern zum Anlass genommen, tätlich gegen die Angehörigen der VP und freiwilligen VP-Helfer vorzugehen.
Während dieses Handgemenges vor der Gaststätte verständigte der ABV von der Gaststätte aus das VPKA über die Vorkommnisse und bat um Verstärkung durch ein Schnellkommando bzw. durch Bereitschaftspolizei.
Der Amtsleiter des VPKA erteilte dem ABV die Weisung, sich mit allen anderen VP-Angehörigen in die Räume des Gruppenpostens zurückzuziehen und den weiteren Verlauf der Ereignisse abzuwarten.
Als sich die VP-Angehörigen in die Räume des Gruppenpostens zurückziehen wollten, wiegelte der Meister der Brigade [Name 1], der sich bis zu diesem Zeitpunkt zurückgehalten hatte, indirekt die anderen Bauarbeiter zu weiteren Tätlichkeiten gegen die VP-Angehörigen auf, indem er an die Ehre der Bauarbeiter »appellierte«, sich ein solches Verhalten der VP nicht bieten zu lassen. Darüber hinaus brachte er zum Ausdruck, dass sich das Verhalten der Volkspolizisten gegen die Arbeiterklasse richten würde.
Die Bauarbeiter verfolgten die sich zurückziehenden Volkspolizisten, wobei sie Äußerungen wie »schlagt die Judenschweine nieder«, »hängt die Kommunistenschweine auf«, »schlagt die SS-Verbrecher nieder«, »die Volkspolizei ist schlimmer als die Nazis«, »hängt sie auf« u. a.m. machten. (Mehrere der inhaftierten Bauarbeiter bestätigten diese Äußerungen, bestreiten jedoch die Absicht, mit diesen Bemerkungen andere Personen aufwiegeln zu wollen. Diese Bemerkungen hätten sie in erster Linie in der Erregung über das »Niederschlagen des [Name 2] durch die VP-Angehörigen« gemacht. Alle inhaftierten Bauarbeiter waren zum Zeitpunkt der Auseinandersetzungen mit den VP-Angehörigen stark angetrunken.)
Während der Verfolgung schlugen die Bauarbeiter zwei freiwillige Helfer der VP und drei Ortseinwohner nieder. Sie wendeten dabei auch den bereits erwähnten vierkantigen Gummiknüppel an.
Bei den tätlichen Auseinandersetzungen in der Stadt vom 14.11. zum 15.11. erlitten zwei VP-Angehörige, zwei freiwillige Helfer der VP und drei Ortsbewohner mittlere Verletzungen hauptsächlich an den Kopf- und Gesichtspartien, sodass ein Teil von ihnen arbeitsunfähig geschrieben werden musste.
Nachdem sich ein Teil der Angehörigen der VP und der freiwilligen Helfer weisungsgemäß in die Diensträume des Gruppenpostens zurückgezogen hatte und die anderen Sicherungskräfte in ihre Wohnungen zurückgekehrt waren, zogen sich auch die Bauarbeiter in ihre Unterkunft zurück.
Dort holten sie Arbeitsschutzhelme und ihre Pickhämmer und begaben sich erneut zu den Räumen des Gruppenpostens. Die Bauarbeiter forderten die VP-Angehörigen zum Verlassen des Gebäudes auf und planten, die VP-Angehörigen dann niederzuschlagen. Bei dem Aufenthalt vor dem Gebäude wurden erneut verleumderische Äußerungen durch die Bauarbeiter, speziell durch [Name 2], gemacht. Die Rückkehr zum Gebäude des VP-Gruppenpostens wurde direkt durch den Meister [Name 1] veranlasst.
Über diese weitere Entwicklung wurde telefonisch das VPKA Sternberg informiert, Verstärkung angefordert und angefragt, ob im Falle eines Eindringens der Bauarbeiter in die Räume des Gruppenpostens von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden könne.
Der Diensthabende des VPKA untersagte die Anwendung der Schusswaffe und der Amtsleiter des VPKA Sternberg wies außerdem an, dass sich die VP-Angehörigen so lange ruhig verhalten sollten, bis sich die Bauarbeiter nach Hause begeben. Dies geschah gegen 2.30 Uhr und die VP-Angehörigen hielten sich bis zu diesem Zeitpunkt in den Diensträumen auf.
Am Vormittag des 15.11.1965 sprachen die Bauarbeiter untereinander ab, wie sie sich bei einer Untersuchung durch die VP verhalten wollten. Sie vereinbarten, ihr Verhalten in der Gaststätte des Jugendclubs und die Auseinandersetzung mit [Name 2] zuzugeben. Die übrigen Ausschreitungen sollten abgestritten und als Handlungen von Bürgern von Brüel bezeichnet werden. Sie wollten den Umstand ausnutzen, dass etwa 40 bis 50 Personen an den Ereignisorten ihrer Ausschreitungen anwesend waren. Der Aufenthalt vor dem Gebäude des VP-Gruppenpostens sollte mit der Suche nach einem angeblich verschwundenen Bauarbeiter motiviert werden. Der Meister [Name 1] forderte bei dieser Absprache die anderen Bauarbeiter auf, ihm die Regelung dieser Vorkommnisse im Wesentlichen zu überlassen.
Alle inhaftierten Bauarbeiter bestätigten, dass ihre Baubrigade auf mehreren Baustellen, z. B. in Rüdersdorf, Stralsund und Grimmen, auf denen sie 1965 eingesetzt waren, rowdyhafte Handlungen, Schlägereien und Provokationen organisierte.
Als begünstigende Umstände für die Verhaltensweise der Inhaftierten sind u. a. die Arbeits- und Lebensbedingungen anzusehen. Der Meisterbereich [Name 1] wird als Arbeitsgruppe kurzfristig auf den verschiedensten Baustellen des Betriebes eingesetzt. So sollte diese Brigade bereits am 16.11.1965 wiederum verlegt werden und zwar nach einer Baustelle im Grenzgebiet des Harzes.
Vonseiten der Oberbauleitung Leipzig seien nach Aussagen der Beschuldigten in der Vergangenheit keine Voraussetzungen zur politisch-ideologischen, sozialen und kulturellen Betreuung geschaffen worden. Zwischen den jeweiligen Investträgern und Hauptauftragnehmern gebe es in diesem Zusammenhang Streitigkeiten, wer die Verantwortung dafür trage. Auch der Meister [Name 1] leistete keine Erziehungsarbeit. Er bezeichnete die Bauarbeiter als »freischaffende Künstler« und »Partisanen«, von denen ihn lediglich ihre Arbeitsleistungen interessierten.
Eine Parteigruppe, Gewerkschaftsgruppe oder FDJ-Gruppe besteht auf dieser Baustelle trotz der dort arbeitenden fünf Parteimitglieder, 45 Mitglieder des FDGB und einer großen Anzahl FDJ-Mitglieder nicht. Versammlungen gab es nicht.
Die Bauarbeiter waren meist unter unwürdigen Bedingungen untergebracht. Deshalb hielten sie sich in ihrer Freizeit vorwiegend in Gaststätten auf.
In Brüel wohnten alle Bauarbeiter z. B. in einer Baracke ohne Inneneinrichtungen außer Bettgestellen. Es gab nur ungenügende Einrichtungen zur täglichen Körperpflege. Die Möglichkeiten zum Heizen waren beschränkt und es bestanden keine Anschlüsse für Fernseh- oder Radiogeräte. Auf der Baustelle selbst bestanden ungenügende Voraussetzungen für eine systematische Arbeit. Die genannte Brigade konnte z. B. nach ihrer Verlegung nach Brüel am 2.11.1965 die Arbeit infolge fehlenden Baumaterials überhaupt nicht aufnehmen. Da bis zum 4.11. keine Veränderung dieser Situation erfolgte und auch für die nächsten Tage nicht zu erwarten war, gewährte Meister [Name 1] für die Zeit vom 5. bis 8.11.1965 ein »verlängertes Wochenende«. (Der größte Teil er Brigademitglieder fuhr nach Hause; einige hielten sich in dieser Zeit in Brüel auf.)
Für die Zeit vom 2. bis 8.11.1965, in der die Brigade nicht arbeiten konnte, erhielten die Brigademitglieder etwa 70 % des Leistungs-Durchschnittslohnes ausgezahlt.
Die Ergebnisse der Untersuchungen dieser Ausschreitungen weisen ferner darauf hin, dass die Leitung des VPKA Sternberg die laufenden Vorkommnisse mit den Bauarbeitern in Brüel unterschätzte. Die wiederholt gegebenen Hinweise des ABV an das VPKA veranlassten den Amtsleiter Major Drawan lediglich zu einer Absprache mit der Bauleitung und zu einer Vereinbarung mit dem Bürgermeister, eine öffentliche Bekanntmachung im Wohnlager der Baustelle auszuhängen. Der ABV wurde zwar angewiesen, eine stärkere Streifentätigkeit auf der Baustelle zu organisieren, konsequente volkspolizeiliche Maßnahmen gegen die Ausschreitungen unterblieben jedoch. Im Rapport des VPKA gibt es nur drei dokumentierte Mitteilungen des ABV über die Vorkommnisse in Brüel. Auch die Vorkommnisse, in die VP-Angehörige verwickelt waren, wurden nicht in den Rapport bzw. das Meldebuch aufgenommen. Aus dem Meldebuch sind keine exakten Maßnahmen zu ersehen.
Die Leitung der BDVP Schwerin erhielt erst in den Mittagstunden des 15.11.1965 durch das MfS Kenntnis über die Vorkommnisse in Brüel. Die Unterschätzung durch den Amtsleiter geht auch daraus hervor, dass er trotz des gesellschaftsgefährdenden Charakters der geschilderten Vorkommnisse nicht selbst am Ereignisort die erforderlichen Maßnahmen einleitete. Alle Weisungen erteilte er von seiner Wohnung aus.
Wie die Untersuchungen in diesem Zusammenhang weiter ergaben, sind einige Bauarbeiter nach ihren Aussagen durch das labile Verhalten der VP in ihren Ausschreitungen ermutigt worden. Durch bessere vorbeugende Maßnahmen hätten diese und auch vergangene Provokationen dieser Brigade verhindert werden können. Bei einem Aufenthalt in Wismar z. B. war die VP sehr schnell auf das rowdyhafte Verhalten dieser Brigade aufmerksam geworden, das sie durch konsequenten Einsatz von Sicherungskräften sofort unterbanden, sodass es dort nicht zu derartigen Ausschreitungen wie in Brüel kommen konnte.
Mehrere Inhaftierte dieser Brigade waren bereits wegen gefährlicher Körperverletzung, unbefugter Benutzung von Kfz und verbrecherischer Trunkenheit bedingt verurteilt.
Weitere Untersuchungen, besonders zur exakten Klärung des Anteils der einzelnen Inhaftierten an den Vorkommnissen vom 14.11. zum 15.11.1965 in Brüel, werden noch geführt.