Tätlicher Angriff auf einen Betriebsleiter in Berlin
15. März 1965
Einzelinformation Nr. 222/65 über einen Überfall mit lebensgefährlicher Körperverletzung auf den Betriebsteilleiter des VEB Zigarettenfabrik Berlin, Betriebsteil Berlin-Pankow
Am 11.3.1965, gegen 16.00 Uhr, wurde der stellv. Betriebsteilleiter des VEB Zigarettenfabrik Berlin, Betriebsteil Berlin-Pankow, [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1936 in Berlin, wohnhaft Berlin N 4, [Straße Nr.], Mitglied der SED seit 1964, von dem vorübergehend als Lagerleiter eingesetzten [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1925 in Berlin, wohnhaft Berlin-Pankow, [Straße Nr.], durch einen Messerstich in den Rücken lebensgefährlich verletzt.
[Name 2], der seit dem 13.7.1964 als Transportarbeiter beim VEB Zigarettenfabrik Berlin, Betriebsteil Berlin-Pankow, tätig ist, war von der Bereichsleiterin für Materialversorgung dieses Betriebsteiles, [Name 3, Vorname] für die Zeit vom 11.3. bis 14.3.1965 als Urlaubsvertretung des Leiters des Materiallagers eingesetzt. In dieser Eigenschaft hatte er Zugang zu unter Verschluss stehenden Ballons, in denen 96%iger Alkohol zur Fermentierung von Tabak aufbewahrt wird.
Am 11.3.1965 begannen [Name 2] und die mit ihm im Lager beschäftigten Arbeiter [Vorname Name 4] und [Vorname Name 5] auf Anregung von [Name 2] und ohne sonderlichen Anlass bereits in der Frühstückspause Alkohol zu trinken. Zunächst tranken alle Bier, das [Name 5] mitgebracht hatte. Später schlug [Name 2] vor, aus dem im Lager befindlichen 96%igen Alkohol Schnaps zu mischen. [Name 2] selbst stellte dann ein Gemisch aus einem Teil 96%igen Alkohol und einem Teil Wasser her, von dem [Name 2], [Name 4] und [Name 5] auch noch während der Arbeitszeit und der Mittagspause tranken. [Name 2], der davon bereits am frühen Nachmittag erheblich betrunken war, zerstörte mit den leeren Bierflaschen Büroausrüstungsgegenstände und warf den Inhalt der Büroschränke auf den Fußboden. Nachdem sich [Name 5] gegen 16.00 Uhr nach Hause begeben hatte, verließ auch [Name 2] die Lagerräume, wobei er im Werk mit dem Meister [Name 6, Vorname] zusammentraf. Diesen forderte [Name 2] auf, den noch im Lager verbleibenden [Name 4], Mitglied der SED, dort herauszuholen, wobei er den [Name 4] bereits als »Lump« bezeichnete. Als [Name 6] im Materiallager auch den [Name 4] in stark angetrunkenem Zustand antraf und die im Lager vorhandene Unordnung feststellte, informierte er telefonisch den stellv. Betriebsteilleiter [Name 1] von dem Vorkommnis und bat ihn, zum Materiallager zu kommen. [Name 1] begab sich daraufhin mit der Bereichsleiterin [Name 3] und dem Leiter der Abteilung Arbeit, [Name 7], zum Materiallager. [Name 1] befragte [Name 4] und [Name 2], was vorgefallen sei. Da beide stark betrunken waren, forderte er sie auf, die Arbeitsstelle zu verlassen. [Name 2] beschimpfte daraufhin [Name 1] als »Kommunistenschwein« und »SED-Bonze«, bezeichnete sich als einen Faschisten, der »immer für den Nationalsozialismus kämpfen werde« und hetzte, »sperrt mich doch in Euer KZ«. Als sich [Name 2] in den Umkleideraum begab, nahm [Name 1] an, [Name 2] werde seinen Weisungen Folge leisten. [Name 2] hatte jedoch, als er aus dem Umkleideraum zurückkehrte, ein aufgeklapptes Taschenmesser mit einer 6 cm langen Klinge in der Hand, mit dem er [Name 1] bedrohte. [Name 1] verlangte daraufhin erneut, dass [Name 2] seinen Weisungen Folge leisten soll, bevor er andere Maßnahmen ergreifen müsse. [Name 2] kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach, sondern stach in dem Augenblick, als sich [Name 1] umwandte, dem [Name 1] das Messer in den Rücken.
Dieser Angriff des Beschuldigten erfolgte so plötzlich, dass es dem noch anwesenden Meister [Name 6] und der Bereichsleiterin [Name 3] nicht möglich war, einzugreifen. [Name 1], der dem Werkleiter trotz seiner Verletzung noch Bericht erstattete, wurde in das Krankenhaus Pankow eingeliefert und sofort einer Operation unterzogen. Ihm musste die Milz operativ entfernt werden. Außerdem wurden Verletzungen am Zwerchfell festgestellt. Für ihn besteht noch immer Lebensgefahr.
[Name 2] wurde bis zu seiner Festnahme durch die Volkspolizei von dem Werkangehörigen [Name 8] und dem Parteisekretär [Name 9] im Materiallager festgehalten. Im Verlaufe der dabei geführten Auseinandersetzungen betrieb [Name 2] gegenüber [Name 9] und [Name 8] ebenfalls staatsgefährdende Propaganda und Hetze.
[Name 2] war nach seiner Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft im Oktober 1948 in einer Vielzahl von Arbeitsstellen tätig. Die von ihm eingegangenen Arbeitsverhältnisse wurden in den meisten Fällen vonseiten der Betriebe wegen seiner schlechten Arbeitsdisziplin und seines häufigen Alkoholgenusses während der Arbeitszeit gelöst. Seinen eigenen Aussagen zufolge nahm er des materiellen Vorteils wegen im Mai 1961 eine Tätigkeit als Lagerarbeiter beim Siemens-Konzern in Westberlin auf, die er bis zum 13.8.1961 ausübte. Nach dem 13.8.1961 war [Name 2] kurze Zeit im VEB Wasserwerke Berlin tätig. Danach ging er ein Arbeitsverhältnis im Dienstleistungskombinat Berlin-Pankow ein, wo er als Leiter der Abteilung Schirmreparatur eingesetzt wurde. Von dieser Funktion wurde [Name 2] Anfang 1964 wegen politischer Unzuverlässigkeit, schlechter Leitungsmethoden und wegen Negierung von Beschlüssen gesellschaftlicher Organisationen abgelöst. [Name 2] hatte unter den Arbeiterinnen des Kombinats wiederholt den Inhalt von Hetzsendungen des Westfernsehens verbreitet, seine Tätigkeit als Grenzgänger und die gesellschaftlichen Verhältnisse in Westberlin verherrlicht, die Organisierung des sozialistischen Wettbewerbs abgelehnt und vom Arbeitskollektiv eingereichte Verbesserungsvorschläge als von ihm ausgearbeitete Neuerungen weitergereicht, um sich materielle Vorteile zu verschaffen. Nach seiner Arbeitsaufnahme im VEB Zigarettenfabrik Berlin, Betriebsteil Pankow, zeigte [Name 2] in der ersten Zeit eine gute Arbeitsmoral und Einsatzbereitschaft. Seit Anfang des Jahres 1965 jedoch musste [Name 2] bereits zweimal disziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden, da er mehrfach während der Arbeitszeit Alkohol zu sich genommen hatte. Außerdem wurde festgestellt, dass [Name 2] auch im VEB Berliner Zigarettenfabrik häufig negative Diskussionen führte und gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR hetzte. So hat er sich wiederholt in aufwieglerischer Form gegen die Grenzsicherungsmaßnahmen vom 13.8.1961, gegen die ökonomische Politik von Partei und Regierung sowie gegen die Berichterstattung der sozialistischen Presse geäußert und die Lebensverhältnisse in Westberlin verherrlicht. In der unmittelbar nach der Tat erfolgten Blutalkoholuntersuchung wurde bei [Name 2] ein Blutalkoholspiegel von 2,2 Promille festgestellt.
Die Bearbeitung des [Name 2] wurde wegen staatsgefährdender Propaganda und Hetze in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vom MfS übernommen.
Über weitere Ergebnisse der Untersuchung wird berichtet.